Orbán-Regierung an ihre Bürger:
Willkommen in der Realität!
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Aber diese Regierung behauptete, die Bürger vor allen lauernden Gefahren bewahren zu können. Und das soll auf einmal nicht mehr zutreffen.
Viktor Orbán hat sich verzockt. Die Fidesz-Propagandamaschine läuft gerade heiß, um von Kausalzusammenhängen abzulenken, die auf der Zeitleiste weit vor dem Krieg in der Nachbarschaft angesiedelt sind. Die Hochdruckwirtschaft ist das Modell, mit dem die Orbán-Regierung die ungarische Gesellschaft auf ein westliches Wohlstandsniveau befördern wollte. Dazu wurde Arbeit an alle verteilt, vom Straßenfeger im öffentlichen Arbeitsprogramm über die Bauarbeiter auf den Großbaustellen der Vorzeigeprojekte bis zu den Arbeitnehmern an den Förderbändern und in den Servicecentern der Multis. Dazu wurden Kredite in den Wirtschaftskreislauf gepumpt, angefangen von den CSOK-Darlehen für junge Familien mit dem Anspruch auf modernen Wohnraum über die bevorzugten Wirtschaftszweige (Tourismus, Nahrungsmittelindustrie, Gesundheitsindustrie) bis hin zur staatlichen Finanzierung einer zeitgemäßen Infrastruktur und der öffentlichen Institutionen.
Ein gelassener Hochdruck-Politiker
Diese prozyklische Wirtschaftspolitik bedeutete, dass der Staat seine Finanzen grundsätzlich bis zum Anschlag ausreizte. Ein Sparen für schlechtere Zeiten gab es nicht. Hinzu kamen die Wahlgeschenke, die großzügig wie nie zuvor ausfielen. Und da sollte sich der Ministerpräsident irren. Er war nämlich davon überzeugt, die rasant aus der Corona-Krise zu einem Neustart aufbrechende Wirtschaft sorge für ein Wachstum, angesichts dessen die einmalige Rückerstattung der Einkommensteuer für Familien, die zwei Jahre vorzeitig eingeführte komplette dreizehnte Monatsrente und die Befreiung junger Arbeitnehmer von der Einkommensteuer gedeckelt erschienen. Keine kleinen Posten, aber doch Maßnahmen, die nicht nur finanziert werden konnten, sondern zusätzliche Impulse verhießen, die ein Staat gerne mitnimmt.
Dabei baute sich längst eine bedrohliche Inflation auf. Deren negative Nebenwirkungen sieht ein Hochdruck-Politiker vom Schlage Orbáns eher gelassen, solange der Staat als größter Schuldner dabei noch besser fährt. Was ihm seine Gelassenheit nahm, war die politisch gewollte Blockade der Corona-Aufbaugelder durch das Europaparlament. Dass diese zweitausend Milliarden Forint längst eingeplant waren und nun fehlen, zeigte sein plötzlich aus dem Hut gezaubertes Sparpaket, das die „üblichen Verdächtigen“ unter den Wirtschaftssektoren mit üppigen Sondersteuern belegt und an dem sich der Staat sogar selbst mit einem bescheidenen Beitrag beteiligen will. So weit so gut. Die neue Herausforderung Ukraine-Krieg schien nunmehr unter Kontrolle, Defizit und Staatsschulden sollten wie angekündigt sinken, niemand brauche sich um Ungarn zu sorgen.
Heilige Kühe auf der Schlachtbank
Das sahen die Märkte aber anders, die den Forint ins Jammertal schickten und die Ungarische Nationalbank (MNB) zu Zinserhöhungen nötigten, mit denen sie die Konjunktur garantiert abwürgt. Die aus heiterem Himmel verordnete Kreditsperre bei den ungezählten staatlich geförderten Programmen zerstört Geschäftsexistenzen, die privaten Kreditnehmer tappen in die Zinsfalle. Und als ob das alles nicht genug wäre, kommt ein überstürztes Ende der Pauschalsteuer für Kleinfirmen (KATA) mit einer Auslaufzeit von gerade mal sechs Wochen, flankiert vom Ende der Politik der gesenkten Energiekosten. Es ist wie eine komplette Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik, die keine heilige Kuh mehr vor der Schlachtbank bewahrt. Das Aus der KATA trifft eine knappe halbe Million Familien, das Ende der staatlich quersubventionierten Strom- und Gastarife trifft Millionen Haushalte.
Vor zwei Wochen schrieben wir an gleicher Stelle, Orbán setze wegen der unüberschaubaren Gemengelage im Ukraine-Krieg in Worten auf strategische Ruhe, sei aber in Wirklichkeit in die Defensive geraten. Den Grund fanden wir darin, dass sein Kalkül nicht aufgegangen war. Und zwar gleich in mehreren strategisch relevanten Punkten. Dass er nun mit Tabus bricht, die durch eine aggressive Propaganda in den Status „unumstößlich“ gehoben worden waren, kommt einem Offenbarungseid gleich. Vergleichbar mit der Situation unter den Sozialisten 2006, die in der berüchtigten Lügenrede gipfelte.
Eingeständnis einer tiefen Krise
Bei dieser in Őszöd am Balaton gehaltenen Rede offenbarte der gerade wiedergewählte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány vor einigen Führungskadern seiner Partei schonungslos, dass die Kassen leer seien. Ein Weiter-wie-bisher gehe nicht, weil man den Bürgern und wohl auch sich selbst die Taschen vollgelogen hatte – „früh, mittags und abends“. Diese Lügenrede sickerte durch und führte im Herbst 2006 zu schweren Unruhen, auf die der angeschlagene Ministerpräsident mit Methoden eines Polizeistaates reagierte. Bis heute ranken sich Legenden darum, wie die eigentlich als Geheimrede einem geschlossenen Kreis von Auserwählten präsentierte Wahrheit ihren Weg an die Öffentlichkeit fand.
Beim Fidesz herrscht eine andere Parteidisziplin, offenbaren muss sich Orbán also eher nicht. Er sagte einmal: „Es zählt nicht, was ich sage, sondern allein, was ich tue.“ In diesem Sinne kann er sich nun rechtfertigen, wie er will, die ad hoc getroffenen jüngsten Maßnahmen sprechen eine klare Sprache. Die fünfte Orbán-Regierung räumt auf einen Schlag zwei „Institutionen“ beiseite, auf denen ein Gutteil ihrer Popularität beruhte. So etwas tut man nur, wenn man in einer tiefen Krise steckt. Unter dem Ukraine-Krieg leidet ganz Europa, aber ähnlich wie in der Finanzkrise von 2008 streckt mal wieder Ungarn als erstes Land – und dieses Mal ohne die Griechen – die Waffen. Das stößt bitter auf in einem Land, dessen politische Stabilität der Regierung über ein langes Jahrzehnt hinweg mehr Spielraum gewährte, als sich die Parteien anderer Länder erträumen können. Es wirkt deprimierend in einem Land, das bis 2030 Österreich einholen und dieses magische Datum 2030 als eines der fünf lebenswertesten Länder auf dem Kontinent erleben wollte.
Kammerpräsident spielt beschämende Rolle
„Willkommen in der Realität“, möchte der Ministerpräsident seinen Landsleuten zurufen, und er wäre nicht Viktor Orbán, hätte er nicht einen strategischen Plan in der Hinterhand. Mehr noch, die heiligen Kühe mussten jetzt und in aller Eile geschlachtet werden, damit dieser Plan aufgehen kann. Die KATA auszulöschen, fiel ihm relativ leicht. Zwar ist diese Steuerform eine Erfindung des Fidesz, die aber nur die Antwort auf die Pauschalsteuer EVA war. Die wiederum hatten die Sozialisten erfunden, also musste sie weg.
Die KATA folgte dem Gedanken, Kleinunternehmer von jedem bürokratischen Aufwand zu befreien, die sich so voll und ganz auf ihr Geschäft konzentrieren konnten. Mit 50.000 Forint im Monat (zuzüglich einer bescheidenen Summe an Gewerbesteuer) waren alle Steuern und Abgaben abgegolten, es brauchte keinen Buchhalter mehr, alle Einnahmen wurden elektronisch an die Steuerbehörde NAV weitergeleitet. Eben weil das Finanzamt alles sah, hätte jeder Betrug eigentlich mühelos unterbunden werden können. Doch statt die tatsächlichen schwarzen Schafe zu identifizieren und sich mit ihnen zu beschäftigen, setzte eine unterschiedslose Diffamierung von allen „Privilegierten“ ein.
Der Präsident der Ungarischen Industrie- und Handelskammer (MKIK), László Parragh, übernahm in diesem Spiel eine besonders beschämende Rolle. Anstatt die Interessen seiner Mitglieder wahrzunehmen, die die Kammer mit einer Pflichtabgabe finanzieren, fiel er hunderttausenden Mitgliedern skrupellos in den Rücken. Paradoxe Welt in Ungarn. Lediglich die Budapester Kammer versuchte, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, kam aber gegen Parragh und den Fidesz-Apparat nicht an. Als der Gesetzestext bekannt wurde, kommentierte Parragh, der sei „ganz schön stark“ geraten. Er zum Beispiel hätte sich mit einem Umbau zum Jahreswechsel zufrieden gegeben. Aber die Hauptsache sei, das Betrügen im großen Stil sei nun beendet. Schließlich hätte sich der Staat diese Verluste nicht mehr leisten können. Über die beschädigte Rechtssicherheit verlor der Kammerpräsident kein Wort.

Ein einziger Satz hätte genügt
Die soeben vom Fidesz in die Position der Staatspräsidentin erhobene Katalin Novák hatte naturgemäß nichts gegen die Absichten des Rechtsgebers und die Zielstellungen der Veränderungen einzuwenden. Sie habe jedoch eine breite Empörung in der Bevölkerung wahrgenommen, weshalb Novák schrieb: „Es wäre klüger gewesen, wenn der Entscheidung sachliche Konsultationen vorausgehen.“ Keine schlechte Anmerkung, wenn man bedenkt, dass dieses Gesetz am 11. Juli im Parlament eingereicht, aber bereits am 12. Juli verabschiedet wurde, mit Geltung ab 1. September. Ohne Rücksicht auf bestehende (Jahres-)Verträge oder die Gepflogenheiten, Eingriffe in Steuerbelange an das Kalenderjahr anzugleichen.
Dabei hätten Konsultationen mit den Betroffenen durchaus zutage gebracht, dass es der Staat hier nicht mit notorischen Steuerprellern zu tun hat. Die Pauschalsteuer EVA spielte bis zu 180 Mrd. Forint im Jahr ein, bei der KATA sollten es in diesem Jahr ursprünglich 260 Mrd. Forint sein. Das entspricht jeweils ungefähr der Hälfte jener Einnahmen, die der Fiskus mit der Körperschaftsteuer generiert. Und es hätte noch weitaus mehr sein können, denn es hätte eines einzigen Satzes in der jährlichen Steuergesetzgebung bedurft, den Pauschalsatz von monatlich fünfzigtausend Forint anzugleichen. Eine Art Inflationsausgleich wäre das Mindeste gewesen, damit die Rentenansprüche nicht dahinschmelzen. Eine Anhebung des von Anfang an, also seit 2012 unveränderten Pauschalsatzes lag ohnehin in der Luft und hätte bei den Kleinunternehmern breite Akzeptanz gefunden.
Staatsbeamte haben gut reden
Doch der Fidesz wollte gar keine Steuererhöhung, wie die Änderung zeigt, die den verbleibenden KATA-Selbständigen auch künftig keine steigenden Lasten abverlangt. Zwar dürfen nur noch Einzelunternehmer ihre Leistungen an Privatpersonen erbringen, aber nun gleich bis zu Einkommen von 18 Mio. Forint im Jahr. Wer das schafft, zahlt dann effektiv weniger als 3,5 Prozent Steuern. Als Finanzstaatssekretär András Tállai die bisherige Praxis in der Parlamentsdebatte kritisierte, warf er den „legalen Steuerprellern“, die sich in die KATA eingeschlichen hätten, noch vor, ihre Steuerpflicht mit angeblich fünf Prozent abzutun. Das sei zu wenig.

Dabei übersah der Staatssekretär geflissentlich, dass Unternehmer jeden Monat bei null anfangen, nicht wie Staatsbeamte, die ihre monatlichen Millionenbeträge auf den Tag genau überwiesen bekommen. Tatsächlich nutzten viele die KATA als Nebenerwerb, wofür ein nochmals günstigerer Steuersatz von 25.000 Forint im Monat galt. Den effektiven Steuersatz der KATA-Unternehmer verrät das Finanzamt zwar nicht. Fakt ist jedoch: Wer es im Jahr auf keine 6 Mio. Forint brachte, der zahlte eine zweistellige Steuer, wer sogar unter 3 Mio. Forint blieb – auch damit arrangierten sich nicht wenige Gewerbetreibende –, der zahlte sogar einen Steuersatz um 25 Prozent!
Ein Vorschlag für die Oberschlauen
Hätte der Fidesz wirklich mehr Einnahmen aus der KATA gewollt, hier ein unglaublich simpler Vorschlag: Für die wirklich kleinen Steuersubjekte bis zu 3 Mio. Forint bleibt die Steuer bei monatlich 50.000 Forint, wird aber um eine Sozialversicherungsabgabe von 25.000 Forint ergänzt. Alles wie gehabt pauschal, ohne bürokratischen Mehraufwand, und natürlich auch mit Dienstleistungen an Firmenkunden. Zwischen 3 und 6 Mio. Forint Jahreseinkünften würden beide Sätze um 25.000 Forint aufgestockt. Oberhalb von 6 Mio. Forint und von 9 Mio. Forint um jeweils weitere 25.000 Forint, so dass in der obersten KATA-Kategorie 125.000 Forint Steuern und 100.000 Forint SV-Abgaben monatlich fällig würden. Mit einem einzigen Paragraphen in der Steuergesetzgebung.
Das entspräche – um dem Staatssekretär beim Rechnen auf die Sprünge zu helfen – einer mittleren Steuer- und Abgabenlast um 25 Prozent. Wer dann tatsächlich die 12 Mio. Forint an Jahreseinkünften punktgenau ausschöpft, zahlt immer noch 22,5 Prozent an Steuern und Abgaben. Die Erlöse des Fiskus würden sprudeln. Selbst wenn nur 300.000 Personen in der KATA verblieben, wären die Steuereinnahmen schon bei Annahme mittlerer Einkommen identisch, aber es kämen 200 Mrd. Forint an Einzahlungen für die Rentenkasse hinzu. In Wirklichkeit aber ist jeder Unternehmer – im Gegensatz zu Staatsbeamten – zu mehr Leistung motiviert. Erwirtschafteten die KATA-Subjekte im Mittel 6-9 Mio. Forint Jahreseinkommen, würden sich die Einnahmen des Fiskus verdreifachen! Aber das war nicht gewollt. Kammerpräsident Parragh verplapperte sich in einem Interview, die Wirtschaft brauche mehr billige Arbeitnehmer. Davon wird es es jetzt sicher einige mehr geben – neben viel bösem Blut und frustrierten Leistungsträgern.
Der Homo oeconomicus lässt grüßen
Das Trauerspiel der Orbán-Regierung von Mitte Juli war noch dazu auf zwei Akte ausgelegt. Die eigentliche Bombe platzte am 13. Juli, als Kanzleramtsminister Gergely Gulyás auf der wöchentlichen Regierungspressekonferenz den Energienotstand ausrief. Damit verbunden ist ein Bündel an Maßnahmen, unter denen die Einschränkung des freien Flusses von Erdgas im europäischen Binnenmarkt sogleich die Europäische Kommission auf den Plan rief. Was die Brüsseler Bürokraten völlig kalt ließ, war derweil die krasse Abkehr von den fixierten amtlichen Energiepreisen. Der Minister verkündete, ohne mit der Wimper zu zucken, ab sofort hätten alle Bürger für Strom und Gas die Marktpreise zu zahlen.
Im Jahre 2013 hatte die Orbán-Regierung die Politik der sinkenden Wohnnebenkosten verkündet, der sie vermutlich den Wahlsieg 2014 zu verdanken hatte. Seither klammerte sich der Fidesz an das Erfolgskonzept, das bald ins Kreuzfeuer der neoliberalen Europapolitiker geriet. Die Europäische Union beschritt zu jener Zeit längst den Weg der totalen Liberalisierung der Energiemärkte, eines Zukunftsprojekts im Zeichen des Homo oeconomicus, wo wirklich jede Ware ihren Preis zugewiesen bekommt. Seither sollen die Märkte bestimmen, welchen „Wert“ der ausgestoßene Dreck von Kraftwerken, Schornsteinen und Auspuffrohren hat. Orbán stellte sich mit dem kleinen Ungarn jedoch quer und hielt an seiner Konzeption der amtlich festgezurrten Energiepreise fest.
Der alleinige Garant fixierter Energiepreise
Das Modell mit den quersubventionierten Preisen funktionierte einigermaßen, solange sich die Märkte berechenbar bewegten. Der Fidesz hielt auch dem Druck stand, die Effekte der am Weltmarkt gesunkenen Gaspreise an die privaten Haushalte weiterzureichen. Völlig richtig legte man in jener Zeit Reserven an. Doch seit dem Ende der Corona-Krise sind die Energiepreise außer Rand und Band. Nichtsdestotrotz präsentierte sich der Fidesz im Wahlkampf Anfang des Jahres als alleiniger Garant der fixierten Energiepreise. Der Wahlsieg fiel zum Dank überzeugender aus, als je zuvor. Dabei tobte der Krieg in der unmittelbaren Nachbarschaft bereits anderthalb Monate, Gas- und Strompreise waren explodiert.
Noch Anfang Juli erklärte der Ministerpräsident unumwunden, an der Politik der gesenkten Energiekosten gebe es nichts zu rütteln. Um nur wenige Tage später genau diese Politik dann über Bord zu werfen. Er ließ seinen Kanzleramtsminister kundtun, die Marktpreise würden ein Vielfaches des amtlichen Tarifes betragen. Noch schlimmer: Europa gehe im Winter sehr wahrscheinlich das Gas zum Heizen aus. Die Ansage an die privaten Haushalte lautete ergo, entweder den Verbrauch zu drosseln oder Marktpreise zu zahlen. Und zwar gleich ab 1. August. Auf der Basis des Verbrauchs der vorangegangenen zwölf Monate.
Ein weiteres unorthodoxes Meisterstück
Da kann der liberale Westen wieder nur staunen, wie ein Orbán seinen Ungarn das Energiesparen beibringt. Er präsentiert ihnen frech die Rechnung für einen Verbrauch, den sie sich in dem Glauben leisteten, diese Preise sind eingemeißelt. Zusätzlich zur Weltrekord-Mehrwertsteuer, dem teuersten Bankensektor und sonstigen Nebenwirkungen der quersubventionierten und damit letzten Endes selbstverständlich durch die Verbraucher bezahlten amtlich fixierten Energiepreise. Ein weiteres unorthodoxes Meisterstück.
Um den Anschein zu erwecken, das System der gesenkten Energiekosten lebt weiter, wurde schnell ein „Durchschnittsverbrauch“ ermittelt. So lässt sich gut argumentieren, wer mehr als das „normale“ Maß verbraucht, solle für den Luxus gefälligst anständig zahlen. Der „Luxus“ beginnt für die Energieexperten der Orbán-Regierung im Falle von Strom bei 210 Kilowattstunden (kWh) pro Monat und bei 144 Kubikmetern Erdgas. Von letzterem dürfen sich Familien pro Kind 300 Kubikmeter zusätzlich „leisten“, beim Strom gibt es diesen Rabatt aber nicht. Dabei setzen deutsche Stromversorger einen Jahresverbrauch von 2.500 kWh schon für einen Zweipersonenhaushalt als niedrig an, die durchschnittliche Verbrauchsmenge bewegt sich in Deutschland für einen Haushalt mit vier Personen um 4.000 kWh. In Ungarn dürfte es eher noch mehr sein, weil sich die Menschen weniger moderne Technik leisten können. Bei Großgeräten wie Kühlschrank, Waschmaschine oder Klimaanlage macht sich das schnell bemerkbar. Ebenso wie eine fehlende Wärmedämmung und unmoderne Fenster beim Beheizen der Wohnung.
Ansagen weltfremder Politiker
Der Regierungsbeauftragte für den Erhalt der niedrigen Energiekosten, Szilárd Németh, stammelte einen Tag später im regierungsnahen Nachrichtenfernsehen, ihn habe ein Schwall der Entrüstung (er fand eine freundlichere Umschreibung dafür) erreicht, und er versprach, man nehme sich aller Probleme an. Németh vergaß hinzuzufügen: all der Probleme, die man bei dem harten Einschnitt – mal wieder – nicht auf dem Schirm hatte. So dämmerte es den begnadeten Kämpfern für niedrigste Energiekosten, dass eine Unmenge Haushalte mit Strom heizt. Dass unzählige Gemeinschaftshäuser bis heute technisch nicht imstande sind, den Konsum der einzelnen Wohneinheiten zu messen. Dass Familien auf dem Lande Energie brauchen, um fließendes Wasser zu erhalten. Vielleicht dämmerte ihnen auch, dass eine Familie mit vielen Kindern mehr Strom benötigt, um den Alltag zu bewältigen, als ein Einpersonenhaushalt.
Sie behaupteten, drei Viertel der Haushalte seien von den Preiserhöhungen nicht betroffen, nur der Verschwendung werde in diesen schweren Zeiten ein Ende gesetzt. Dann bekamen sie einen Schwall von Protestbriefen, die auch einem Németh erahnen ließen, da geht nicht nur ein Viertel der Bevölkerung auf die Barrikaden, und schon gar nicht, weil man weiter verschwenderisch leben will. Freilich hatte der Regierungsbeauftragte selbst für die Weltuntergangsstimmung gesorgt, indem er in die Runde streute, ohne die tolle Errungenschaft der gesenkten Energiekosten müsste ein Durchschnittsverbraucher heute 53.000 Forint monatlich für den Strom und 131.000 Forint im Monat für das Gas bezahlen. Mit monatlich 180.000 Forint für die Strom- und die Gasrechnung wäre aber vermutlich eine Zweidrittelmehrheit aller ungarischen Haushalte bankrott.

Eine solche Ansage wagen nur weltfremde Politiker, denen aus der offiziellen Lohnstatistik 500.000 Forint Einkommen im Ohr klingeln. Den Medianlohn verstehen sie nicht, dabei wäre es gescheiter, von diesen Nettobezügen auszugehen, die sich um 275.000 Forint bewegen sollen. Wer dann noch zur Miete wohnt, bräuchte also unbedingt einen zweiten Geldverdiener, um sich überhaupt ernähren zu können. Németh warf also Zahlen in die Runde, die für unzählige Ungarn eine Katastrophe heraufbeschwören würden.
Für die Zeit „danach“
Nach seiner Kalkulation setzt die Regierung den marktkonformen Strompreis zum Beispiel mit 242 Forint/kWh an. Das ist schlichtweg das Zwanzigfache (!) des Strompreises, den das Atomkraftwerk Paks verlangt. Das einzige AKW Ungarns erzeugt so viel Strom, dass damit die Bevölkerung komplett versorgt werden könnte. Die Orbán-Regierung beruft sich auf den extrem verteuerten Importstrom, der leider auch weiterhin ein Viertel bis zu einem Drittel erreicht.
Aber selbst wenn sich der Strompreis an der Börse verzehnfacht, schwächt der heimische Energiemix diesen Effekt auf ein Drittel ab. Nebenbei zahlen die Unternehmen ja längst Marktpreise. So werden also die Familien vor der Krise und den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs geschützt. Damit ist die Aussage des Ministerpräsidenten widerlegt, „die durch den Krieg entfachten Energiepreise lassen es nicht länger zu, dass alle Haushalte die amtlich gesenkten Preise bezahlen“.
Womit wir wieder beim großen Strategen Viktor Orbán angelangt wären. Der mag sich verzockt haben, weil ihm tausende Milliarden fehlen, die Brüssel überweisen und die Wirtschaft erwirtschaften sollte. Mit den Sondersteuern hat er praktisch das Feuer gelöscht. Nun wird ein neues Polster angelegt, indem man die Bevölkerung freundlich, aber bestimmt zur Kasse bittet. Für die Zeit „danach“, wenn es wieder daran geht, Punkte bei den Wählern zu sammeln.
Der Ukraine-Krieg macht’s möglich. Es ist nicht die Zeit für Steuererklärungen auf dem Bierdeckel, nicht die Zeit, um Energie zu verschwenden. Es sind Zeiten, in denen „jeder froh sein sollte, einen Arbeitsplatz zu haben“, sagt Orbán. So kann man auch eine Rechnung präsentieren.