Wirtschaftspolitik im Vorwahljahr
Wie Orbán das Krisenmanagement abrundet
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Die Wirtschaftsakteure sollten sich besser damit abfinden, dass die Regierung dem Aktionsplan zum Schutz der Wirtschaft keine neuartigen Impulse mehr verleihen wird. Ministerpräsident Viktor Orbán ist kein Freund von Beihilfen, er möchte sein Volk lieber arbeiten sehen. Wer arbeitet, verspricht Steuereinkünfte für den Staat, sowohl unmittelbar als auch über den Effekt einer steigenden Kaufkraft.
Verlierer sind nicht so das Ding von Orbán. Wer sich nicht selbst durchbeißen will, dem wird kaum geholfen. Ob Krankengeld oder Arbeitslosenhilfe, ob Sozialrente oder Bezahlung der in Hilfsprogrammen angestellten Arbeitskräfte – kaum ein anderes Land zeigt einen vergleichbaren Ansatz, der dem Neoliberalismus des Fidesz das Wasser reichen kann.
Votum im Blick
Derweil fließen Milliarden an die Oligarchen, die gigantische Zukunftsprojekte vom Atomkraftwerk über Autobahnen und Schienenwege bis hin zu Kulturvierteln und Stadien realisieren. Es fließen Milliarden an die multinationalen Unternehmen, die weiterhin das Unterpfand für den Technologietransfer aus den moderneren Ländern im Westen wie im Osten sind.
Mit geringeren Summen, aber durchaus im respektablen Umfang werden heute auch Firmen unterstützt, die besonders zukunftsrelevante Arbeitsplätze in Forschung, Entwicklung und Innovationen schaffen oder in der Krise einfach nur bewahren. Ähnlich wie die heimischen Klein- und mittelständischen Unternehmen, die das Rückgrat des Arbeitsmarktes bilden, selbst wenn ihre Fertigung nicht auf den modernsten Linien läuft und ihre Produkte weniger exportfähig sind.
Doch all diese Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft in der Corona-Krise sind rückwärtsgewandt. Orbán aber streitet für die Zukunft, malt sich längst ein Ungarn im Jahre 2030 und darüber hinaus in schillernden Farbtönen. Er ist ein Visionär, wie sie in der Politik heutzutage immer seltener anzutreffen sind. Sein Gespür für die Befindlichkeiten der Volksseele benötigt er jedoch, um erst einmal die nächsten Parlamentswahlen zu überstehen.
Die dritte Legislaturperiode mit Zweidrittelmehrheit für den Fidesz und seinen kleinen Koalitionspartner KDNP läuft im Frühling 2022 aus. Wer Ungarn bis 2030 langfristig formen will, muss dafür erst noch zwei Wahlen gewinnen, denn die Bürger erteilen das Mandat jeweils für vier Jahre. Keine Frage, dass der Ministerpräsident das in ungefähr fünfzehn Monaten anstehende Votum im Blick hatte, als er zu Jahresbeginn zwei wichtige Ansagen machte.
Junge Menschen von der Steuer befreit
Diese handeln mal wieder von Steuerbefreiungen und von bis zum Anschlag aufgedrehten Geldhähnen. Erstere richten sich an junge Arbeitnehmer, Letztere sind als Finanzspritze für den ländlichen Raum gedacht. Interessanterweise hat das Thema Steuerbefreiung sogleich erhitzte Debatten in der ungarischen Gesellschaft ausgelöst. Dabei wird das Agrar-Paket den Steuerzahler um einiges mehr kosten. Wovon also handeln die Ankündigungen?
„Spätestens ab 2022 erhalten die jungen Menschen unter 25 Jahren eine Befreiung von der Einkommensteuer“, erklärte Ministerpräsident Viktor Orbán am vergangenen Freitag in seinem üblichen Interview für das staatliche Kossuth-Radio. Diese Maßnahme werde ungefähr 130-150 Mrd. Forint kosten. Es wäre sinnvoll, alle Einkommen dieser Altersgruppe unter dem Durchschnittsverdienst vollständig steuerfrei zu stellen.
„Wenn das gelingt, ist unser Krisenmanagement eine runde Sache“, merkte Orbán an, der in diesem Kontext Senkungen bei den zentralen Steuern sowie bei der örtlichen Gewerbesteuer (IPA), aber auch das Kreditmoratorium, das Wohnungsbauprogramm und die schrittweise Ausschüttung einer 13. Monatsrente erwähnte. In diesem Sinne sei es einzuordnen, dass nach den ältesten Menschen nun auch die jungen Arbeitnehmer eine „echte Chance“ bekommen sollen.
Sinkende Steuern würden Arbeitsplätze schaffen und die Anreize zu arbeiten erhöhen. „Hinter den Entscheidungen dieser Regierung steht das Wissen, was der Ungar mag, und was nicht“, sagte Orbán und ließ damit erst gar keine Zweifel bei seinen Zuhörern aufkommen, dass die einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen sehr bewusst so gezielt angebracht werden.
Der letzte Baustein
Damit das Krisenmanagement der Orbán-Regierung als eine runde Sache angesehen werden könne, fehle nur noch ein einziger Baustein, verriet der Ministerpräsident mit verblüffender Offenheit zu der geplanten Steuerbefreiung, die er angeblich in „schwierigen Verhandlungen“ mit dem Finanzminister erst noch erstreiten müsse.
Wie von der Kommunikation des Fidesz gewohnt fügte der Ministerpräsident im Kossuth-Radio nicht ganz frei von Widersprüchen hinzu, die Regierung habe diese Maßnahme bereits beschlossen. Nun sei es an Familienministerin Katalin Novák auszurechnen, bis zu welchen Einkommen die Steuerfreiheit gelten soll. Also nicht der Finanzminister rechnet dies aus, mit dem Orbán nach eigenem Bekennen hart verhandeln musste – vermutlich um die Deckung im Haushaltsplan, zumal seine Rhetorik nicht ausschloss, dass ein Eingriff selbst noch in den laufenden Haushalt denkbar wäre.
Die erst vor wenigen Monaten zur Ministerin ohne Geschäftsbereich ernannte Novák ist die Hauptgestalt in der Regierungs-PR um das zunehmend breiter gefächerte System von staatlichen Zuschüssen für junge Familien, die den Hausbau wagen, den Umzug in eine größere Wohnung oder aber eine Modernisierung der gegebenen vier Wände.
Warum Novák nun bestimmen soll, bis zu welchem monatlichen Betrag diese berufstätigen jungen Familien und ebenso alle weiteren jungen Arbeitnehmer, die hoffentlich bald eine eigene Familie gründen wollen, von der Steuer freizustellen seien, ist schleierhaft.
Das Ego des Premiers
Tut aber nicht viel zur Sache, denn im Grunde ist längst alles in Sack und Tüten – schließlich sieht Orbán den vom Zentralamt für Statistik (KSH) ermittelten Durchschnittslohn als gescheiten Schwellenwert an. Wer ihm regelmäßig genau zuhört, weiß sehr wohl, dass diese Regierung weitgehend die Show eines einzigen Mannes darstellt.
In Wirtschaftsbelangen sagte Orbán beispielsweise im Freitag-Interview Sätze wie: „Ich habe das Moratorium angewiesen und die 3.000 Milliarden Forint an Krediten bei den Banken blockiert.“ Oder zum Thema der Befreiung bei der Einkommensteuer: „Ich möchte diese Maßnahme spätestens zum 1. Januar 2022 auf den Weg bringen.“ Nachrichten, die einen positiven PR-Effekt versprechen, vermittelt der Regierungschef nur zu gerne als sein eigenes Verdienst.
In kritischeren Sachverhalten präferiert Orbán derweil den Plural, etwa die Leidensgemeinschaft in der Corona-Krise, wenn er resümiert: „Wenn die Gesundheitsbehörden ihre Arbeit machen und die Impfstoffe endlich ausreichend zur Verfügung stehen, dann können wir die Impfungen so zügig durchführen, dass wir unser normales Leben vielleicht noch vor den Sommerferien zurückerhalten.“
Katalin Novák ist jedenfalls mit ihrer ministeriellen Arbeitsgruppe angetreten, um die „Details“ der Befreiung von der Einkommensteuer auszufeilen. Es wird spannend, wie stark das Endergebnis dieser Arbeit von der ursprünglichen Vorlage abweichen wird, die der Ministerpräsident bereits in den Raum gestellt hat.
Pauschal besteuerte Einkommen
Das System der Einkommensteuer wurde unter der Orbán-Regierung schon recht früh angegangen: Das progressive Steuersystem musste einem pauschalen Steuersatz weichen, der heute 15 Prozent beträgt. Zur Zeit der ersten Orbán-Regierung (1998-2002) betrug die Einkommensteuer (SZJA) noch 20-40 Prozent.
Das progressive System war damals eine Erbschaft der sozialistisch-liberalen Horn-Regierung, wobei der Fidesz bereits am Anfang eine vereinfachte Steuertabelle mit nur noch drei Stufen durchsetzte. Die ab 2002 an die Macht zurückgekehrten Sozialisten gingen diesen Weg weiter und behielten noch zwei Steuersätze bei, die zudem auf 17 und 32 Prozent gesenkt wurden.
Mit der Zweidrittelmehrheit des Fidesz wurde ab 2011 die Pauschalsteuer eingeführt, die anfänglich 16 Prozent betrug und ab 2016 auf die bis heute gültigen 15 Prozent gesenkt wurde. Zwar gab Orbán schon damals die Parole aus, die Einkommensteuer müsse in den einstelligen Bereich gedrückt werden, Finanzminister Mihály Varga hielt jedoch wegen der enormen Belastung des Staatshaushalts die Zeit dafür noch nicht für gekommen.
Stattdessen wurde Ende 2016 jene umfassende Tarifvereinbarung unter Dach und Fach gebracht, die über einen Zeitraum von sechs Jahren massive Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns sowie des garantierten Lohnminimums für Fachkräfte mit einer systematischen Senkung der Abgabenlasten der Arbeitgeber kombinierte.
Das Versprechen einer einstelligen Einkommensteuer geriet darüber in Vergessenheit. Einstellig wurde immerhin die Gewinnsteuer für Unternehmen, und zwar mit neun Prozent. Mit dem neuen Steuergeschenk für eine spezifische Zielgruppe dürfte eine Senkung der Einkommensteuer für alle Beschäftigten in weite Ferne rücken.
Jungwähler im Visier
Die Bruttodurchschnittslöhne für Vollzeitbeschäftigte näherten sich laut KSH am Jahresende 400.000 Forint an. Das außerordentlich dynamische, über Jahre hinweg praktisch zweistellige Wachstum der Löhne hat in der Corona-Krise ein Ende gefunden, was sich früher oder später auch in der offiziellen, gerade zu Krisenzeiten stark verzerrten Lohnstatistik niederschlagen wird.
Für 2021 halten die Arbeitgeber kaum mehr als einen Inflationsausgleich für akzeptabel. Der durchschnittliche Bruttolohn könnte also bei 410.-420.000 Forint monatlich ankommen. Berufsanfänger verdienen logischerweise unter dem Durchschnitt – laut KSH waren es zuletzt bei den Arbeitnehmern unter 25 Jahren weniger als 300.000 Forint.
Mit anderen Worten würde ein überwiegender Teil der Zielgruppe von der Nicht-Besteuerung seines beruflichen Einkommens profitieren. Ausnahmen dürften am ehesten Informatiker und andere Spezialisten bilden. Hochschulabsolventen, deren Gehaltsforderungen über den Standardwert hinausgehen könnten, erreichen zumeist auch gleich die Altersgrenze.
Es dürfte der Orbán-Regierung also darum gehen, jungen Erwachsenen nach der Mittelschule den Weg in die Eigenständigkeit zu erleichtern. Etwa 300.000 Beschäftigte unter 25 Jahren zählt das KSH, die ab 2022 von einer monatlichen Steuerlast um 30.-45.000 Forint befreit würden. Wer dieses Geld über einige Jahre anspart, hätte schon bald die Eigenmittel für eine Kreditaufnahme parat, um beispielsweise eine Wohnung zu kaufen.
Attraktiv erscheint die Steuerbefreiung aber ebenso für die Arbeitgeber, denen sich neue, flexiblere Gestaltungsmöglichkeiten bei der Entlohnung bieten. Vermutlich wird die im europäischen Maßstab ohnehin nicht dramatische ungarische Jugendarbeitslosigkeit (von ungefähr zwölf Prozent) weiter sinken. Schließlich werden Berufsanfänger weniger animiert, auf vermeintlich lukrative Stellenangebote im Ausland zu schielen.
Das sind wirtschaftliche Argumente, aber selbstverständlich kommt die Regierungspartei mit dem Angebot an die Jüngsten auch politisch auf ihre Kosten. Die Lehre aus den Kommunalwahlen vom Herbst 2019 lautete nämlich, dass nicht nur die liberal eingestellten Budapester gegen den Fidesz stimmen – auch bei den Jungwählern hat der einst als „Bund junger Demokraten“ gegründete Fidesz seine Frische verloren. Jährlich erreichen etwa 100.000 heranwachsende Ungarn das Wahlalter, während noch deutlich mehr Altwähler sterben. Der Anteil der 18-25-Jährigen am Gesamtwählerlager dürfte 2022 ein gutes Zehntel erreichen.
Die einst als stabile Reserve der Sozialisten angesehenen Rentner hat der Fidesz ähnlich wie einen Großteil der Minderheit der Roma längst für sich gewonnen. Nun sollen die jungen Menschen in den Bann der Nationalkonservativen gezogen werden, auch jenseits der Familien, denen seit 2016 bereits hunderte Milliarden im Rahmen des Wohnungsbauprogramms für Familien (CSOK) zugutegekommen sind.
Innovativer GAP-Ansatz
Beim CSOK-Programm wurde der Fokus zuletzt eindeutig auf den ländlichen Raum gelenkt. Von einer ausgesprochen innovativen Maßnahme würde er künftig noch mehr profitieren: Die Orbán-Regierung will die Mittel der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ab sofort breiter streuen, indem sie die Co-Finanzierung neu definiert.
Erhielten Projekte zur Regionalentwicklung bislang nur rund 15 Prozent an heimischen Zuschüssen, werden es fortan achtzig Prozent sein. Dadurch lässt sich ein gleicher Betrag an EU-Fördermitteln auf weitaus mehr Projekte verteilen – und das soll noch in diesem Jahr Anwendung finden.
Insgesamt soll der ländliche Raum, wie Agrarminister István Nagy dieser Tage ausführte, bis 2027 rund 7.550 Mrd. Forint (nach heutigen Preisen 21 Mrd. Euro) erhalten. Im Staatshaushalt werden nach ersten Schätzungen mindestens 400 Mrd. Forint jährlich zur Finanzierung dieses Generalplans umzuschichten sein.
In der Gesamtbevölkerung wird der Fidesz bei den Meinungsforschern weitgehend stabil um fünfzig Prozent gemessen, also nahe an der absoluten Mehrheit. Die souveräne Position der Regierungspartei in der Provinz dürfte die GAP-Neuauslegung einbetonieren. Die Jugend will man über Wohnungsbau und die Einkommensteuer für sich gewinnen.
Bleibt die Frage, ob der Ministerpräsident auch ein Herz für die Bewohner der „abtrünnigen“ Städte, allen voran der Hauptstadt hat. Bislang ließ er die von der Opposition geführten Städte eher am langen Arm verhungern, was mit der unter Berufung auf die Corona-Krise halbierten örtlichen Gewerbesteuer für kleine und mittlere Firmen seinen vorläufigen traurigen Tiefpunkt fand. Ein wie auch immer geartetes (Steuer-) Geschenk an die Städter wäre eine große Überraschung. Freilich gehört es zu den Stärken des Politikers Viktor Orbán, seine Gegner zu überraschen.
https://amp2.handelsblatt.com/unternehmen/management/forbes-liste-das-sind-die-reichsten-deutschen/25730214.html
Wenn man so oft über ungarische Oligarchen spricht, nehmen wir die Deutsch auch in Visier.
Was ist der Unterschied?
Wie immer, ein Artikel mit viel Fakten und wenig Meinung. Sehr positiv!
Orbáns Qualitäten sind auch denen offensichtlich, die ihn bekämpfen – so auch dem Jahrtausend-Versager und Lügenlump Ferenc Gyurcsány, der gemeinsam mit Soros, der SPD und der EU-Bürokratie seinen Abgang vorbereitet, weil er EU-Zentralisierungspläne und die illiberale linke Ideologie durchkreuzt. Orbán hat dann gut Chancen 22 die Wahl zu gewinnen, wenn der das Soziale nicht aus den Augen verliert. Wie hieß es denn so schon bei der CDU: Sozial ist, was Arbeit schafft. Manche aber können nicht arbeiten.
Dass Fidesz wieder seinem Namen gerecht wird, ist dringend. Ohne die jungen Wähler wird Orbán spätestens nach 22 weg sein. Man sollte mal überlegen, ob nicht Judit Varga kandidieren könnte. Orbán könnte dann immer noch Außenminister werden und Brüssel belagern.