„Wir sollten die Ausmaße des ungarischen Marktes nicht überbewerten.“ (Foto: Márton Ficsor)

Interview mit Zoltán Cséfalvay, früherer Staatssekretär, Hochschullehrer

Vor einem neuen Zeitenwechsel

Das hinter uns liegende Jahrzehnt brachte der ungarischen Volkswirtschaft eine rasante Annäherung an den Westen. Nun aber haben wir ein neues Entwicklungsstadium erreicht, das im Mittelpunkt der Forschung des soeben aus Spanien heimgekehrten Dozenten stehen wird.

Lassen Sie uns etwas weiter ausholen: Welche grundsätzlichen Probleme verursachte der Systemwechsel von 1989/90 der Wirtschaftspolitik?

Das waren schnelle und dramatische Veränderungen; aus Trümmern musste die Marktwirtschaft erbaut werden. Die Welle der massenhaften Privatisierung führte – um das stetig wiederkehrende Defizit des Staatshaushalts und die Verschuldung des Landes abzufedern – zum Verkauf zahlreicher Unternehmen, die der Staat in normal funktionierenden Marktwirtschaften besser in eigenen Händen hält. Seit 2010 läuft deshalb in Teilbereichen die Rückverstaatlichung solcher Unternehmen.

Mit Erfolg?

Mehr oder weniger. Bei der Privatisierung wurden viele wirtschaftsstrategische Fehler begangen. Da wurden komplette Industriezweige und sämtliche Fabriken einer Branche veräußert – mitunter an Auslandsinvestoren aus einem einzigen Land. So geschah es beispielsweise im Falle der Zuckerfabriken. Auf einem anderen Blatt steht, dass die Unternehmen 1990 im internationalen Wettbewerb nicht mithalten konnten. Das Auslandskapital versprach hier neue, effizientere Technologien.

Oder kaufte einfach Märkte hinzu.

Teilweise schon, aber wir sollten die Ausmaße des ungarischen Marktes nicht überbewerten. Es ist abgesehen davon ganz natürlich, dass ein Investor die Fehler der Wirtschaftspolitik knallhart ausnutzt. Nach der Jahrtausendwende nahmen die ausländischen Direktinvestitionen auf der grünen Wiese systematisch zu. Über die technologischen Importe wurden Arbeitsplätze geschaffen und die Wirtschaft gestärkt, aber diese Möglichkeiten haben wir mittlerweile weitgehend ausgeschöpft. Mit der Aufnahme von Kapital- und Technologieimporten und den damit einhergehenden Fertigungskapazitäten haben wir die klassische Modernisierungsphase aufstrebender Märkte durchlaufen. Nun müssen wir eine neue Wachstumsbahn für uns entdecken, die sich auf Innovationen und Technologien stützt, um den nächsten Abschnitt des wirtschaftlichen Aufstiegs meistern zu können.

„Die Automobilindustrie bietet sich deshalb für die Reindustralisierung an, weil sie besonders viele Zulieferer einbinden kann.“ (Foto: Márton Ficsor)

Lässt sich eine Modernisierung ohne Industrie überhaupt denken?

Mag sein, dass man mit Hilfe neuer Technologien die eine oder andere Entwicklungsstufe überspringen kann. Der Zustand der ungarischen Wirtschaft vor 1990 erlaubte es aber nicht, die Entwicklungsstufe der Reindustrialisierung auszuklammern. Die modernen westlichen Länder, in denen heute 70-80 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor angesiedelt sind, durchliefen früher eine starke Industriephase, die das Fundament für die heutige Dienstleistungsgesellschaft legte.

Ist die Stärkung der Automobilherstellung tatsächlich der beste Weg der Reindustrialisierung?

Die Automobilindustrie stellt eine Branche dar, deren Effekte sich vielleicht am besten über die gesamte Wirtschaft streuen, da sie viele Zulieferer einbinden kann. Als ich in meiner Funktion als Staatssekretär verhandelte, gewann ich den Eindruck, wenn BMW sich einmal für Mitteleuropa entscheiden sollte, dann wird sich der Konzern dort ansiedeln, wo die meisten Zulieferer bereits präsent sind. Genau das trat ein, als sich BMW für Ungarn entschied.

Das bisherige Modernisierungsmodell ist somit am Ende angelangt. Sehen Sie die vergangenen Jahre dennoch als erfolgreich für die ungarische Wirtschaft an?

Zwischen 2010 und 2012 mussten wir ein hartes Krisenmanagement fahren, wir mussten gigantische Schuldenberge auf einen Schlag bewältigen und abtragen. Gleichzeitig galt es, die Basis für eine gesunde Entwicklung der Wirtschaft zu legen. Anfang 2013 konnte die Wirtschaft endlich eine Wachstumsbahn einschlagen. Als entscheidend erwiesen sich die Einführung der Einheitssteuer und eine Beschäftigungspolitik, die auf dem Prinzip Arbeit statt Beihilfen beruht.

In diesem Jahr brach die Wirtschaftsleistung letztlich stärker ein, als erwartet worden war. Ist die ungarische Wirtschaft noch zu wenig krisenresistent?

Wir haben eine Krise nie gekannter Dimensionen erlebt, in der die komplette Weltwirtschaft von einem auf den anderen Tag schockgefrostet wurde. Ungarn ist eine kleine, offene, exportorientierte Wirtschaft. Die Menschen durften in der Notstandslage weltweit kaum noch ihre Wohnungen verlassen – da kann man nicht erwarten, dass sie sich Gedanken über einen Autokauf machen. Länder, in denen persönliche Dienstleistungen wie der Tourismus einen höheren Anteil am Nationaleinkommen erreichen, wurden durch den „Lockdown“ schwerer getroffen, als jene Länder, in denen eine auf modernen Technologien basierende Industrie dominiert.

„Unsere Chance ergibt sich daraus, dass die globalen Wertschöpfungsketten neu durchdacht werden.“ (Foto: Márton Ficsor)

Wie wird die Welt nach dem Coronavirus aussehen?

Eine wichtige Lehre können wir daraus ziehen, dass wir heute im Gegensatz zu früheren Pandemien mit Hilfe der Digitalisierung die Prozesse genauestens verfolgen, analysieren und kontrollieren können. Speziell für Ungarn ergeben sich die größten Chancen aus einer anderen Konsequenz: Die Rolle der globalen Wertschöpfungsketten wird weltweit neu durchdacht.

Glauben Sie an die Idee von einer größeren wirtschaftlichen Eigenständigkeit?

Der am häufigsten gebrauchte Begriff in der Welt nach der Corona-Krise lautet „strategische Autonomie“. Die europäischen Länder dürfen nicht noch einmal in eine Lage geraten, in der sie sich um Gesichtsmasken und Beatmungsgeräte streiten müssen. Jedes entwickelte Land kann auf eine autarke Fertigung dieser in Seuchenzeiten relevanten Ressourcen hinarbeiten, denn wir sprechen hier nicht von Spitzentechnologien. Die Unternehmen werden sich genauestens überlegen, ob die langen Produktionsketten tatsächlich erforderlich sind, ob wirklich jede einzelne Fertigung nach Südostasien ausgelagert werden muss. Selbst wenn daheim etwas teurer produziert wird. Zumal sich an Stelle billiger asiatischer Arbeitskräfte automatisierte Fabriken in Verbrauchernähe rechnen könnten. Deutsche oder Dänen müssen die Fertigung ja auch nicht ganz nach Hause holen, sie können auch in Mittelosteuropa Halt machen. Hier eröffnen sich für uns riesige Chancen. Voraussetzung sind natürlich effiziente Fertigungsprozesse, also eine weitaus stärkere Digitalisierung und Robotisierung als bisher.

Ist es realistisch, dass ungarische Kleinfirmen den Weltmarkt mit neuen Technologien erobern?

Dafür gibt es Beispiele und gute Chancen. Wir sprechen hier von „Mikro-Multis“, die ein einzigartiges Produkt entwickeln oder eine Marktnische finden, um darauf globale Wertschöpfungsketten wie die ganz Großen aufzuziehen. Den großen Sprung versprechen natürlich Neuerungen der Industrie 4.0 wie IoT, 3D-Druck oder Roboter. Derzeit sind die annähernd neuntausend Industrieroboter in Ungarn überwiegend bei Großunternehmen installiert. Es gibt – wie meine Untersuchungen zeigen – auch kaum Entwicklungen in dieser Richtung. Das Feld neuer Technologien ist extrem weit und kann von kleineren Ländern wie Taiwan, Singapur oder Israel erfolgreich bestellt werden, wenn sie sich entsprechend spezialisieren. So analysiere ich gerade Startups auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und habe im ersten Durchlauf der Daten herausgefunden, dass Israel im Alleingang so stark aufgestellt ist, wie die Europäische Union zusammengenommen.

Könnten autonome Fahrzeuge die Spezialisierungsrichtung für Ungarn sein?

Das autonome Fahren lässt sich nicht von der Künstlichen Intelligenz trennen, für deren Entwicklung vier Dinge vonnöten sind. Es braucht agile Startups, die Produkte ausprobieren und die Märkte dafür suchen. Es braucht digitale Großunternehmen, die eine enorme Marktabdeckung mitbringen – das können heute nur die USA und China. Es braucht KI-Fachleute, um die weltweit ein heftiger Wettbewerb eingesetzt hat. Und es braucht das Treibmittel der neuen Wirtschaft: Daten. Der Handelskrieg zwischen den USA und China dreht sich zumindest teilweise darum, wer über die Daten verfügen wird. Ein digitales Produkt sorgt mit der zunehmenden Verbraucherzahl für mehr und mehr Daten, mehr Daten aber sorgen für exaktere Algorithmen, die individuell besser zugeschnittene Dienstleistungen möglich machen. Das wiederum dürfte die Zahl der Verbraucher erhöhen, und so weiter. Im globalen Ringen um die Daten haben wir nichts zu melden. Dank unserer modernen Automobilindustrie bestehen derweil durchaus Möglichkeiten, Entwicklungen auf dem Gebiet des autonomen Fahrens voranzutreiben. Dazu müssen wir aber die einheimischen Start­ups und das Hochschulwesen deutlich besser als bisher einbinden.

Hat der Kapitalismus noch eine Zukunft?

Es finden sich ständig Leute zuhauf, die den Kapitalismus begraben wollen. Dabei besteht ein typischer Wesenszug gerade darin, dass er sich laufend zu erneuern vermag. Was übrigens zumeist nicht wegen der ideologischen Debatten oder gesellschaftlichen Bewegungen geschieht, sondern auf dem Wege einer wiederkehrenden Neugeburt dank immer neuer Technologien. Die eigentliche Frage lautet deshalb, was für eine Welt, welche Art von Kapitalismus die heutigen digitalen Technologien uns bringen werden.

Das wird denn auch Ihr Forschungsgebiet am Mathias Corvinus Collegium sein?

Im Spätherbst richten wir ein Forschungslabor der technologischen Zukunft ein, wo wir solche Fragen beleuchten wollen. Dabei geht es auch um die Lehren aus den früheren Industrierevolutionen, um zu schauen, was sich daraus heute noch verwerten lässt. Noch existiert die Wirtschaftslehre von den neuen Technologien und der vierten Industrierevolution nicht. Für eine erfolgreiche Modernisierung müssen wir aber wissen, wie die Strukturen der Wirtschaft umgestaltet werden müssen und wie sich das auf die Dynamik des Arbeitsmarktes, des Bildungswesens oder unseres urbanen Alltags auswirken wird.

Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.

Das hier gekürzt wiedergegebene Interview von Dániel Oláh erschien ursprünglich Mitte September im konservativen Wochenmagazin Mandiner.

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