EU-Gipfel in Brüssel / Wiederaufbaufonds
Ein Kompromiss von historischen Dimensionen
Für die historische Übereinkunft beim jüngsten EU-Gipfel brauchte es gewiss großes Verhandlungsgeschick. Zumal sich die Verhandlungen, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Samstagabend um ein Haar hingeschmissen hätte, letztendlich über fünf Tage, bis in den Dienstagmorgen hinein, erstreckten. Dann wurde das Ergebnis bekannt: Der „normale“ EU-Haushalt für den Zeitraum 2021-2027 wird rund 1.075 Mrd. Euro betragen, zuzüglich des Wiederaufbaufonds im Volumen von 750 Mrd. Euro, der die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie überwinden helfen soll.
Ministerpräsident Viktor Orbán feierte die Vereinbarung, bevor er nach eigenem Bekunden „für zwei Tage schlafen ging“, als großen Erfolg für Ungarn. Mit ihrem Engagement und harter Arbeit könnten die Bürger des Landes die Garantien dafür schaffen, dass „wir sehr glücklichen sieben Jahren entgegensehen“. Dem Brüsseler Portal „Politico“ sagte Orbán auf die Frage, wie er die zusätzlichen Gelder erstreiten konnte: „Das soll mein Geheimnis bleiben. Ich bringe halt den Vorteil des Alters mit, und dass dies nicht mein erster Gipfel zu den EU-Finanzen war.“ Damit spielte der Fidesz-Vorsitzende auf das Aushandeln des Gemeinschaftshaushalts 2014-2020 an, bei dem Ungarn ebenfalls im letzten Moment noch deutliche Nachbesserungen erreichen konnte. Doch um welche Beträge ging es in den vergangenen Tagen, an denen das Gefeilsche der führenden Repräsentanten der EU-Mitgliedstaaten die Grenzen ihrer Kompromissbereitschaft auslotete?
Die „sparsamen Vier“ und der Zusatzetat
Ausgehend vom Finanzrahmen für die vergangenen sieben Jahre und unter Berücksichtigung des Ausscheidens Großbritanniens legte noch die alte Juncker-Kommission im Sommer 2018 einen Vorschlag auf den Tisch, der den Finanzrahmen der EU-27 auf rund 1.135 Mrd. Euro angehoben hätte. Die neue Kommission unter Ursula von der Leyen drückte diesen Rahmenbetrag im Mai, also bereits unter dem Eindruck der Corona-Krise, auf 1.100 Mrd. Euro. (Zum Vergleich: Die tatsächlichen Ausgaben im gerade auslaufenden Finanzrahmen 2014-2020 werden sich am Ende des Tages wohl auf 1.080 Mrd. Euro summieren.)
Diese Zurückhaltung in der Vorlage der Kommission wird schon dadurch verständlich, weil der mit dem politischen Unwort „Next Generation“ verkaufte Wiederaufbaufonds zu jenem Zeitpunkt längst in der Debatte stand, der zusätzlich 750 Mrd. Euro bewegen soll. Vor allem die sogenannten „sparsamen Vier“ (Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden) erreichten daraufhin, gewissermaßen als Kompensation, in Form einer gestärkten Rabattlösung, dass der geplante Finanzrahmen für die nächsten sieben Jahre um rund 25 Mrd. Euro gekürzt wurde.
Während die Politiker mit diesen Zahlen hantieren, die in den Medien gewöhnlich unkommentiert übernommen werden, ist es für das bessere Verständnis der Finanzpolitik der Gemeinschaft durchaus hilfreich zu wissen: Der seit 2018 in konkreter Planung befindliche Finanzrahmen 2021-2027 wird zu den damaligen Preisen kalkuliert. Wenn also im Wiederaufbaufonds von 750 Mrd. Euro die Rede ist, welches Geld Frankreich und Deutschland eigentlich in Zuschüsse in Höhe von 500 Mrd. Euro und Kredite von 250 Mrd. Euro aufteilen wollten, woraus auf Betreiben der sparsamen Vier nunmehr offiziell 390 Mrd. Euro Zuschüsse und 360 Mrd. Euro Kredite geworden sind, dann handelt es sich zu laufenden Preisen in Wirklichkeit bereits um einen Gesamtbetrag von rund 810 Mrd. Euro. Das sollte man ruhig im Hinterkopf behalten, wenn die Politiker bis aufs Messer ums Prinzip und „Kleckerbeträge“ wie die oben genannten 25 Mrd. Euro feilschen.
Wie dem auch sei, besteht das Historische an der jetzt getroffenen Übereinkunft darin, dass die EU-Kommission im Namen von 27 Mitgliedstaaten auf den internationalen Anleihemärkten auftreten wird, um die ersten gemeinsamen Schulden in der Geschichte der Europäischen Union zu begeben. Mit der Kredittilgung wird nicht wie zunächst vorgesehen bis 2028 gewartet, diese soll schon 2026 beginnen. Damit wird der Druck auf die Bürokratie erhöht, denn nachdem die Mittel des Wiederaufbaufonds bis spätestens Ende 2023 in konkreten Verpflichtungen gebunden sein müssen, sollen die hinsichtlich ihres Verwendungszwecks im Übrigen vom Europäischen Parlament und dem Europäischen Rechnungshof kontrollierten Gelder bis Ende 2026 ausgezahlt sein. Als Abschlussdatum für die gemeinsame Kredittilgung hatte derweil der Dezember 2058 Bestand.
Das Geld der nächsten Generation
Die Zusammensetzung des Wiederaufbaufonds hat sich im Verlaufe der zähen Verhandlungen in mancher Hinsicht markant verändert. So wurden die Gelder für Reformen und Investitionen in den Mitgliedstaaten – das zentrale Element des Corona-Rettungsschirms – um mehr als 100 auf nahezu 675 Mrd. Euro aufgestockt. Im Gegenzug wurde beispielsweise der „Fonds für einen gerechten Übergang“ um zwei Drittel auf 10 Mrd. Euro zusammengestrichen, der insbesondere Polen hätte helfen sollen, die ehrgeizigen Klimaziele der EU zu erreichen.
Im Programm zur Finanzierung von Investitionen, „InvestEU“, verbleiben gerade noch 5,5 von einst mehr als 30 Mrd. Euro, das Forschungsprogramm „Horizont Europe“ wurde von 14 auf 5 Mrd. Euro zurückgestutzt. Von Corona geschädigten Firmen wollte die EU mit 26 Mrd. Euro unter die Arme greifen, um Investoren für Kapitalspritzen zu finden – dieses Vorhaben wurde annulliert. Das Nachbarschaftsprojekt NDICI wurde von mehr als 15 Mrd. Euro auf null zusammengestrichen, das Gesundheitsprogramm „HealthEU“ von 7,5 Mrd. Euro auf null, und auch das für Ungarn relevante Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum muss mit halbiertem Budget auskommen.
Von den für Reformen und Investitionen vorgesehenen Geldern hält die Kommission aber vorerst 30 Prozent zurück. Die Mehrheit dieser stolzen Summe wird in den nächsten zwei Jahren auf der Grundlage der früher vorgestellten Kriterien verteilt. Dabei geht es um die Erwerbslosenquote im Durchschnitt der fünf Jahre vor Ausbruch der Corona-Krise sowie um das Niveau der Wirtschaftsleistung beziehungsweise die Höhe der Corona-bedingt erlittenen Rückschläge. Für den Restbetrag (der allein bei den Zuschüssen noch immer knapp 80 Mrd. Euro erreicht) verfolgt Brüssel aufmerksam die aktuelle Wirtschaftsentwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie das Erreichen gesteckter Zwischenziele. Das bedeutet aber auch, dass die Mitgliedstaaten für die Jahre 2021-2023 erst noch Pläne für förderwürdige Projekte aufstellen müssen.
Im buchstäblich letzten Moment
Wie stellt sich die neue Lage konkret für Ungarn dar? Ursprünglich sahen die Pläne der Kommission nach dem Brexit für das Land einen Rückgang der Transfers, die zwischen 2014 und 2020 in der Summe 38-39 Mrd. Euro erreichen dürften, um rund ein Viertel vor. Dabei konnte Ministerpräsident Orbán offenbar dank seines Verhandlungsgeschicks und weitab vom Mediengetöse einen Satz in die neue Haushaltsplanung einbauen lassen, der Ungarn allein rund 3 Mrd. Euro bringt. Demnach darf ein Mitgliedstaat, in dem für mehr als ein Drittel der Bevölkerung selbst die Hälfte des durchschnittlichen Entwicklungsniveaus der Europäischen Union unerreicht ist, im Realwert aus den Kohäsionsfonds nicht mehr als 15 Prozent im Vergleich zu den Zuwendungen des vorherigen Finanzrahmens verlieren. Der Entwicklungsvergleich wird für die Jahre 2015 bis 2017 angesetzt.
In diesem Zeitraum erreichten die statistischen Regionen Südliches Transdanubien, Nördliche und Südliche Tiefebene sowie Nordungarn besagten Schwellenwert nicht. Das Mittlere Transdanubien lag bei annähernd zwei Dritteln, West-Transdanubien bei knapp drei Vierteln des EU-Entwicklungsstandards, den hierzulande einzig Zentralungarn, also die Hauptstadt mit ihrem Speckgürtel, übertreffen konnte. In den vier zurückgebliebenen Regionen lebt weit mehr als ein Drittel der ungarischen Gesamtbevölkerung.
Ungarn dürfte demnach aus dem Kohäsionsfonds, dem Fonds für Regionalentwicklung und dem Sozialfonds gut 20 Mrd. Euro erhalten – an Stelle der eigentlich vorgesehenen Kürzung dieser Mittel auf 17 Mrd. Euro. Wie Orbán dieser Schachzug gelang, ist momentan nicht geklärt und soll ja auch sein Geheimnis bleiben. Fakt ist, dass der Ministerpräsident vor sieben Jahren mit einer technischen Modifizierung ebenfalls im buchstäblich letzten Moment weitere 4 Mrd. Euro an Entwicklungsgeldern für das Land erstreiten konnte. Diese Summen dürfen als Kompromisslösungen verstanden werden, nachdem Ungarn im Integrationsprozess aufholt und deshalb in die jeweiligen Verhandlungen mit einem Ansatz deutlich gekürzter Fördermittel geht.
Kredite als Dessert
Die Transfers dürften im Zeitraum 2021-2027 unterm Strich um etwa 4-5 Mrd. Euro niedriger ausfallen und immer noch 34 Mrd. Euro erreichen. An dieser Stelle rückt jedoch ein weiterer Aspekt in die Kalkulation: Der Anteil, den die Mitgliedstaaten für die verschiedenen Projekte verbindlich aus eigenen Finanzmitteln bereitstellen müssen, steigt nun von 15 auf 30 Prozent. Dank dieser Verdopplung wird Ungarn aber ebenso wie in den sieben hinter uns liegenden Jahren ein Projektvolumen weit über 40 Mrd. Euro generieren können.
Und dabei war noch gar nicht die Rede von den Geldern, die das Land aus dem neuartigen Wiederaufbaufonds abrufen kann. Aus dessen Töpfen werden schätzungsweise 8-9 Mrd. Euro fließen. Quasi als Dessert kann Ungarn ungefähr noch einmal so viel Geld in Form von Krediten aufnehmen, die sich aus den geplanten Anleihen der EU-Kommission speisen und deshalb wahrscheinlich eine günstigere Finanzierung ermöglichen, als würde Ungarn wie bisher im Alleingang auf die Kapitalmärkte treten. Selbst wenn es sich hier noch um Zukunftsmusik handelt, liegt auf der Hand, dass diese gigantischen Beträge das ungarische Bruttoinlandsprodukt auch in den kommenden sieben Jahren gehörig „aufpäppeln“ werden.
Schlechter Handel für Ungarn?
Für jene, die den Osten und somit Ungarn ausschließlich als „Nehmer“ innerhalb der Gemeinschaft betrachten, sei ergänzt, dass sich die Einzahlungen des Landes von bislang rund 1 Mrd. Euro jährlich voraussichtlich verdoppeln werden. Derweil erhöht sich beispielsweise der Österreich-Rabatt wie von Bundeskanzler Sebastian Kurz erstritten über die sieben Jahre gerechnet um 3 Mrd. Euro. Für Deutschland ändert sich da wohl nicht so viel, doch auch der größte Nettozahler der EU erhält immerhin jährlich ca. 3,7 Mrd. Euro in Form eines Rabatts zurück. Noch besser lassen sich die ungarischen Zahlen aber relativieren, wenn man sie mit den Hilfen für Italien vergleicht. Das vom Coronavirus am schwersten getroffene europäische Land erhält auch nach dem hart ausgefochtenen Kompromiss mit den „sparsamen Vier“ 82 Mrd. Euro als Zuschüsse aus dem Wiederaufbaufonds, begleitet von Kredithilfen im Volumen von 127 Mrd. Euro.
In diesen Kontext passen die Kritiken der ungarischen Opposition, die der Orbán-Regierung tatsächlich vorwarf, Ungarn habe anteilig zum Gesamtetat der EU noch nie so wenig Geld erhalten. Die Ehefrau von Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, Klára Dobrev, die neuerdings für die neoliberale DK im Europäischen Parlament sitzt, sprach von einer „gewaltigen Niederlage für Orbán“, der beim EU-Gipfel keinen Cent zusätzlich für sein Land erstreiten konnte, anders als etwa Polen oder Bulgaren.
Die MSZP warf Orbán ebenfalls eine klare Niederlage für Ungarn vor und erklärte dies mit einem merkwürdigen Konstrukt: „Ungarn erhält wegen Orbán und den Lügen seiner Regierung in den vergangenen Jahren nicht so viel Geld aus dem Wiederaufbaufonds, wie es gerne hätte.“ Bei der Kalkulation von „Next Generation EU“ würden nämlich die Arbeitslosenzahlen der Jahre 2015-2019 entscheidendes Gewicht erlangen. „Griechenland und Portugal erhalten deshalb mehr Geld, weil ihre Regierungen die Arbeitsmarktdaten nicht verfälschten“, spielen die Sozialisten auf die hiesigen Statistiken an, in denen sowohl Personen in den öffentlichen Arbeitsprogrammen als auch eine gewisse Zahl von Auslandsungarn erscheinen.
Die Konklusion ist jedenfalls bei allen Oppositionsparteien die gleiche, wonach Orbán einen denkbar schlechten Handel für Ungarn gemacht habe. Dabei darf das nach der Einwohnerzahl am besten vergleichbare Tschechien, der wirtschaftlich stärkste Partner im Visegrád-Bund, bis 2027 einschließlich der Zuschüsse des Wiederaufbaufonds auf 36 Mrd. Euro rechnen und weitere 15 Mrd. Euro an begünstigten Krediten aufnehmen. Das ergibt ein absolutes Finanzierungsvolumen von gut 50 Mrd. Euro, so wie es auch Ungarn winkt. Keine so schlechten Aussichten.
“Die Ehefrau von Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, Klára Dobrev, die neuerdings für die neoliberale DK im Europäischen Parlament sitzt, sprach von einer „gewaltigen Niederlage für Orbán“, der beim EU-Gipfel keinen Cent zusätzlich für sein Land erstreiten konnte, anders als etwa Polen oder Bulgaren.”
Durch ihre besondere Liebe zur deutschen Sozialdemokratie und die EU wird Frau Stasi-Staatsbankrott-Lügenrede doch noch berühmt.
Dass solche Leute wie Dobrev die gesamte Opposition mit runter ziehen könnten, scheint vielen egal zu sein. Schön, dass Herr Ackermann die DK als neoliberal bezeichnet. Auch sie muss irgendwann Farbe bekennen wie ihr Mann einst, damals 2006, und sagen: “Wir haben es vefickt.” (O-Ton Gyurcsány von 2006).