Landwirtschaft: Der Agrarmarktstreit mit der Ukraine
Die Zwickmühle Europas
Die Debatte spaltet, und im Zentrum steht eine Frage von existenzieller Bedeutung – nicht nur für die Ukraine inmitten des Kriegschaos, sondern auch für die europäischen Bauern. Ungarn hat eine eindeutige Position bezogen: „Solange die EU die Einfuhr ukrainischen Getreides nicht beschränkt, hält die ungarische Regierung an der Schließung der Grenzen fest“, sagt Agrarminister István Nagy. Wie ist diese ungarische Position zu begründen, und welche Folgen hat das für Ungarn?
Handelsliberalisierungen für die Ukraine auf dem Prüfstand
Die EU hat seit Juni 2022 den weitgehenden Abbau von Zöllen und Einfuhrquoten für ukrainische Produkte, darunter auch für landwirtschaftliche Erzeugnisse, beschlossen. Diese Handelsliberalisierungen galten ursprünglich nur für ein Jahr, wurden jedoch im Juni 2023 um ein weiteres Jahr verlängert. Das wurde mit der Notwendigkeit begründet, der wegen des russischen Einmarsches unter Druck geratenen ukrainischen Wirtschaft Absatzmöglichkeiten zu verschaffen.
Doch die Ukraine exportiert insbesondere Agrarprodukte, und ihre traditionellen Abnehmer sind Schwellenländer wie China, Ägypten und Indonesien. Im Jahr 2023 waren jedoch auch Rumänien, Polen, Italien und Ungarn unter den wichtigsten Exportdestinationen. Währenddessen erholte sich mit der Öffnung der Schwarzmeerhäfen auch die insgesamt exportierte Menge. Es deutete sich an, dass die ukrainischen Exporteure sich neue, kaufkräftigere Absatzmärkte erschließen.
Als im Januar 2024 die EU die Fortführung der Liberalisierungen beriet, legte die EU-Kommission zunächst einen Entwurf vor, der nur minimale Beschränkungen für eher unbedeutende Exportprodukte wie Geflügel vorsah. Zur Überraschung vieler formierte sich allerdings im EU-Parlament eine kunterbunte Koalition über politische Lagergrenzen hinweg und setzte die Aufnahme der wichtigsten Exportprodukte (so auch Getreide und Mais) durch. Außerdem wurde beschlossen, dass ein Überschreiten der Vorkriegs-Exportmengen automatisch Importzölle seitens der EU auslösen würde.

Diese Wendung führte umgehend zu einer Gegenreaktion, da plötzlich das Versprechen, die Ukraine bedingungslos zu unterstützen, in Frage gestellt wurde. So verlagerte sich die Auseinandersetzung in den Rat der EU, wo die Mitgliedstaaten sich in mehreren Lagern gegenüberstanden. Jedoch gelang es Ende März einer Gruppe von Ländern, darunter Frankreich, Polen und Ungarn, trotz heftiger Gegenwehr zumindest einige der Schutzmaßnahmen vor der Streichung zu bewahren.
Immerhin steht daher jetzt Mais und Hafer (aber nicht Weizen!) auf der Liste der zu überwachenden Produkte. Das Vorkriegsniveau wird beim Auslösen von Schutzzöllen wenigstens teilweise berücksichtigt. Ungarn gehört darüber hinaus auch zu jenen Ländern, die den Konflikt nicht nur auf Brüsseler Ebene austragen: das Land erließ auch unilaterale Einfuhrbeschränkungen.
Landwirtschaft – mehr als nur eine Einkommensquelle
Die Landwirtschaft Ungarns ist außerhalb von Budapest eine wesentliche Einkommensquelle. Während im EU-Durchschnitt nur 4,5 Prozent der Beschäftigten im Agrarsektor arbeiten, sind es in Süd- und Ostungarn in etwa das Dreifache. Noch höher wird die Quote, wenn man berücksichtigt, dass die Landwirtschaft Teil eines agroindustriellen Komplexes ist. Die Landwirtschaft bezieht selbst Investitionsgüter wie Gebäude oder Maschinen aus dem sekundären Sektor, deren Produktion und Instandhaltung ein massiver Jobfaktor für den ländlichen Raum ist. Hinzukommen die Folgeaktivitäten der Nahrungsmittelindustrie einschließlich des Transports der erzeugten Güter. Insgesamt stellt der agroindustrielle Komplex in vielen Teilen des ländlichen Ungarns etwa die Hälfte der Gesamtwirtschaft dar.
Die Landwirtschaft ist aber auch ein zentraler Pfeiler der ungarischen Gesellschaft. Sie prägt das Landschaftsbild, die Siedlungsstruktur, die Arbeitsweise der Menschen, die Küche und letztlich die Kultur und Identität Ungarns. Ohne sie ginge Ungarn mehr verloren als nur Jobs: sie sichert das Überleben Ungarns also in mehrfacher Hinsicht.
Für eine Nation, die im Laufe der Geschichte vielfach den umliegenden Imperien als Spielball diente, ist die Landwirtschaft daher eine sehr sensible Angelegenheit. Das gilt umso mehr, als dass das marxistisch-leninistische Gesellschaftsexperiment während der sowjetischen Besatzungszeit nirgendwo so viele schmerzliche und bis heute sichtbare Narben hinterließ, wie im ländlichen Raum.
Spezifische Herausforderungen für kleinere Betriebe
Eine detailliertere Betrachtung offenbart eine Vielfalt an landwirtschaftlichen Betrieben, von großflächigen Agrarunternehmen bis hin zu kleineren Familienbetrieben, die eine breite Palette von Produkten anbauen und herstellen. Diese Diversität ist sowohl eine Stärke als auch eine Herausforderung, da unterschiedliche Betriebstypen unterschiedlich auf Marktveränderungen und politische Entscheidungen reagieren. Die Öffnung des Marktes für ukrainische Agrarprodukte hat nun einen direkten Einfluss auf die Preisgestaltung und die Verfügbarkeit von Produkten auf dem ungarischen Markt, auch wenn über die genauen Dimensionen politisch gestritten wird.
Wie üblich sind jedoch die kleineren und mittleren Betrieben als erstes von negativen Entwicklungen betroffen. Sie sind oft weniger in der Lage, in moderne Technologien zu investieren oder von Skaleneffekten zu profitieren. Die Handelsliberalisierung mit der Ukraine bedroht daher vor allem diese kleineren Betriebe, da sie nicht so produktiv wirtschaften, um mit den deutlich preisgünstigeren ukrainischen Importen erfolgreich konkurrieren zu können.
Das gilt umso mehr, als ungarische Landwirte die volle Bandbreite der immer ambitionierteren EU-Vorschriften zu Umwelt-, Klima-, Tier- und Arbeitsschutz zu erfüllen haben, während die Ukraine bekannterweise noch kein Mitglied der Union ist und ihre Landwirte daher von all diesen Auflagen verschont sind. Der ungleiche Wettbewerb schadet also insbesondere den kleineren und mittleren Betrieben Ungarns. Gerade bei ihnen gibt es aber überproportional viele Arbeitsplätze, und gerade sie sind für den Erhalt des Landlebens von besonderer Bedeutung.
Reaktionen und Anpassungsstrategien
Nun kann man Ungarn vorwerfen, sich durch eine zu einseitige Ausrichtung verletzbar gemacht zu haben. Jedoch versuchen der Agrarsektor und auch die Regierung sehr wohl, sich diesen Herausforderungen zu stellen und sich langfristig aufzustellen, ohne gleich in eine politische Blockadehaltung zu verfallen.
Die Anpassungsstrategien ungarischer Landwirte und der Regierung an die neuen Marktbedingungen sind vielfältig. Sie reichen von einer Neujustierung und Aufstockung der Agrarhilfen bis hin zur Erschließung alternativer Märkte und der Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion. Jedoch braucht dieser Strukturwandel Zeit und Geld, während die Öffnung der Märkte von einem Tag auf den anderen ihre Wirkung entfaltet.
Daher bleibt Ungarn nur die Möglichkeit, sich für Einschränkungen ebendieser Öffnung zu entscheiden, damit überhaupt landwirtschaftliche Betriebe erhalten bleiben, die ebendiesen Strukturwandel durchführen können. Dieses Risiko ist nicht bloß eine falsche Wahrnehmung, hervorgerufen durch „ultrarechte Agitatoren“, das Höfesterben ist ein gut dokumentiertes Phänomen in ganz Europa.
Ungarns Rolle in der europäischen Agrarpolitik
Die ungarischen Landwirte stehen mit ihren Problemen aber bei weitem nicht allein da. Die Bauernproteste haben mittlerweile alle EU-Mitgliedsstaaten erfasst, ihre Ursachen sind im Wesentlichen auf zwei strukturelle Themenkomplexe zurückzuführen. Einerseits die immer strengeren EU-Umweltvorschriften aller Art, andererseits die Liberalisierungen der Märkte, die die Landwirte einem unfairen Wettbewerb aussetzen. Die Landwirte vernetzen sich daher mittlerweile über die Grenzen hinweg. So war es auch nicht überraschend, dass der Parlamentarier und Präsident des Ungarisch Bauernverbandes, István Jakab, Mitte März bei Gesprächen mit deutschen Branchenkollegen eine Fülle an deckungsgleichen Positionen ausmachen konnte (die Budapester Zeitung berichtete).

Diese grenzüberschreitende Vernetzung führte auch in den EU-Institutionen zu den eingangs erwähnten positiven Wendungen. Ungarns Regierung steht bei diesen Themenfeldern bei weitem nicht isoliert da. Schon seit November erhöhen die Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Probleme der Landwirte kontinuierlich den Druck auf die EU, denn natürlich sind es zuerst die Regierungen vor Ort, die den Unmut der Bauern noch früher zu spüren bekommen, als das ferne Brüssel.
Doch die Bauernproteste machen selbst die EU-Parlamentarier zunehmend nervös, schließlich steht ihre Wiederwahl im Juni an. Daher war man in der EU zum ersten Mal bereit, mit dem Paradigma zu brechen, dass der Ukraine unter allen Umständen geholfen werden müsse. Zwar gehen die Maßnahmen hinsichtlich der Handelsrestriktionen noch nicht weit, denn wie üblich sind sie ein Kompromiss, aber sie markieren ein deutliches Abweichen von der bisherigen Handelspolitik.
Eine noch größere Baustelle aber bleibt: Wie geht es weiter mit der EU-Agrarpolitik hinsichtlich des Umwelt- und Klimaschutzes, und wie positioniert sich Ungarn? Dieser noch größere und bedeutendere Themenkomplex wird nicht nur durch den Ausgang der Europawahlen entschieden, sondern wird die ungarische Regierung auch während ihrer anstehenden Ratspräsidentschaft und darüber hinaus beschäftigen.
Der Autor ist Research Fellow des Mathias Corvinus Collegiums am Standort Brüssel (MCC Brussels).