In der Industrie wurden zur Zeit der Notstandslage besonders viele Arbeitnehmer in Zwangsurlaub geschickt. (Foto: MTI/ Attila Balázs)

Wie die Firmen die Krise erlebten

Überholen vertagt

Lange glaubten die hiesigen Politikgestalter, die ungarische Wirtschaft würde die regionalen Wettbewerber „in der Kurve überholen“. Wie eine Studie der Ungarischen Wirtschaftskammer zeigt, befindet sich diese jedoch tatsächlich in einem wenig beneidenswerten Zustand.

Warum sollten sich die Ungarn nicht die Kurventechnik und die Wissenschaft des Überholens aneignen, wie das schon so manche andere Länder vorgemacht haben? Mit dieser Fragestellung leitete György Matolcsy einen seiner Meinungsartikel ein, die der Notenbankpräsident in loser Folge in den Spalten des Wirtschaftsportals novekedes.hu veröffentlicht. Schon der Name des Portals wirkt verpflichtend für den Konjunktur­optimisten Matolcsy, denn „növekedés“ bedeutet auf Deutsch „Wachstum“. Nachdem die ungarische Volkswirtschaft aus ihrer anhaltenden und tiefen Krise eingangs des neuen Jahrtausends dank einer innovativen Erfolgsformel ab 2013 zum Mittelfeld der Region aufschließen konnte, stieg das Land in den Jahren 2018/19 zumindest hinsichtlich der Wachstumsdynamik sogar bis ins europäische Spitzenfeld auf.

Die Erfolgsformel handelte von einem nachhaltigen Wachstum, das im Kontrast zur Wirtschaftspolitik früherer Jahre und Regierungen auf einem gesunden makro­ökonomischen Gleichgewicht basierte. Doch selbst ein Optimist wie Matolcsy weiß, dass kein Wettrennen bis in alle Ewigkeit bei perfekten Rahmenbedingungen, schnurgerader Piste zu ebener Erde, eitel Sonnenschein und Rückenwind stattfinden kann. Früher oder später geht es steil hinauf in die Berge, wo sich Gewitterwolken zusammenbrauen, die weniger heilende Erfrischung bringen, als dass der aus ihnen prasselnde Regen die engen Kurven über dem schroffen Abgrund rutschig macht. Der Notenbankpräsident hatte, als er dieses Bild Anfang Februar entwarf, das Coronavirus noch gar nicht auf dem Schirm – auch ohne die herannahende Pandemie mehrten sich Krisenanzeichen der Weltwirtschaft nach Jahren der trügerischen Ruhe.

Von der Wissenschaft des Überholens

Matolcsy glaubte, die heimische Wirtschaft in einen Zustand versetzt zu haben, in dem diese souverän und selbst inmitten des schwersten Gewitters durch die schmalen Kurven gleiten wird. Mehr noch, vertraute er auf eine Ausgangsposition, die es dem ungarischen Rennwagen erlauben sollte, vor den Kehren anzugreifen und die Konkurrenz dort zu überholen, wo diese notgedrungen abbremsen muss. Die „Wissenschaft des Überholens“ sah der enge Vertraute von Ministerpräsident Viktor Orbán darin, die Stärken der ungarischen Wirtschaft weiter auszubauen und Schwachstellen nach Möglichkeit zu eliminieren. Fehler und unverhältnismäßige Risiken galt es zu vermeiden.

Die Ungarische Industrie- und Handelskammer hat eine Studie vorgelegt, die kein rosiges Bild von der Lage bei den Unternehmen zeichnet. (Foto: MTI/ Zsolt Czeglédi)

Als Stärken machte Matolcsy die politische Stabilität des Landes, den aktiven Arbeitsmarkt, die Attraktivität der Hauptstadt und weiterer Großstädte für Kapitalanleger, das Steuersystem, Logistik, Teile des Bildungswesens sowie die pragmatische Wirtschafts- und Geldpolitik aus. Schwachpunkte sah er in der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit und der vorherrschenden Dualität der ungarischen Volkswirtschaft, in Gesundheitswesen, Demographie, Teilen des Hochschulwesens, in Sachen Wohnungspolitik und Kapitalbilanz – jedes schwache Kettenglied sei eine potenzielle Gefahr bei den anstehenden Überholmanövern.

Mitte März befand sich Ungarn wie die meisten EU-Mitgliedstaaten inmitten der Corona-Krise, ausgelöst von einem neuartigen Virus, welches die Europäer allzu lange als chinesische Angelegenheit abtun wollten. Schon wenig später musste die Europäische Union die gleiche radikale Abwehrstrategie zur Anwendung bringen, die sich zuvor in Asien bewährt hatte: Die Grenzen wurden geschlossen, die Volkswirtschaften einschließlich öffentlichem Leben, Betrieben und Schulen heruntergefahren, um das Ausmaß der sozialen Kontakte auf ein Mindestmaß zu beschränken.

Mit dieser Krise konnte keiner rechnen, und doch schien die Orbán-Regierung dem obigen Denkschema des Visio­närs György Matolcsy verfallen. Dank der starken Fundamente glaubte man, diese Herausforderung weit besser als die anderen Europäer stemmen zu können. Nicht zuletzt deshalb, weil Ungarns Wirtschaft im ersten Quartal noch gewachsen war, als in vielen anderen EU-Volkswirtschaften bereits die Rezession anklopfte.

Schäden auf der Makroebene

Mittlerweile ist bekannt, dass der Absturz im zweiten Quartal brutalere Ausmaße als zur Zeit der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 annahm und nur wenige Länder in Europa noch härtere Einschnitte als die Ungarn zu verkraften hatten. In der Corona-Krise schrumpfte aber nicht nur die Wirtschaftsleistung ohne jeden Widerstand, auch der Forint befand sich mal wieder auf verlorenem Posten, die Inflation schnellte auf 3,5 Prozent im Jahresmittel in die Höhe (die Kerninflation steuert gar auf fünf Prozent zu), als hätte die Nachfrageseite nichts zu leiden, und es gingen allen anderslautenden Deutungen von Ministern und Staatssekretären zum Trotz jede Menge Arbeitsplätze verloren. Bei Eurostat liest sich Letzteres in Bezug auf die Beschäftigtenzahl wie folgt: In der EU sank diese im zweiten gegenüber dem ersten Quartal um 2,7 Prozent, so heftig wie nie zuvor seit Registrierungsbeginn dieser Daten im Jahre 1995. Ungarn hebt den Durchschnittswert ähnlich wie Spanien und Irland an, denn hierzulande belief sich der Absturz im Quartalsvergleich auf 5,3 Prozent.

Kleinere Firmen hielten in der Krise eher zu ihren Beschäftigten. (Foto: MTI/ Tibor Rosta)

Im Jahresvergleich erreichte der Rückgang in der EU sogar 2,9 Prozent – das Beschäftigungsniveau ist auf den Stand von Anfang 2017 zurückgefallen. Dabei wurden viele Arbeitsverhältnisse mit Kurzarbeitergeld gerettet – die Zahl der kumulierten Arbeitsstunden in der Gemeinschaft lag im Zeitraum April bis Juni um ein Achtel unter jener des Zeitraums Januar bis März. Ungarn zeichnet in der Jahresstatistik ein besonders düsteres Bild, was mit der schleppenden Einführung der Regelungen zur Kurzarbeit zusammenhängen dürfte. Gegenüber dem gleichen Quartal 2019 fiel die Beschäftigtenzahl zur Jahresmitte um 5,6 Prozent zurück, also nahezu doppelt so intensiv, wie in der Gemeinschaft insgesamt.

In Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt holte sich Ungarn einen weiteren dritten Platz unter den größten Krisenverlierern. Nur Spanien und Kroatien verbuchten einen noch dramatischeren Einbruch bei der Wirtschaftsleistung im zweiten zum ersten Quartal, der in Ungarn 14,5 Prozent erreichte, gemessen an durchschnittlichen 11,4 Prozent in der EU. Parallel zu diesen wenig erbaulichen makroökonomischen Indikatoren hat das Wirtschaftsforschungsinstitut GVI der Ungarischen Industrie- und Handelskammer (MKIK) nun eine 40-seitige Studie vorgelegt, die auf der mikroökonomischen Ebene belegt, welche Schäden das Coronavirus unter den einheimischen Unternehmen bisher anrichtete.

Kein Bedarf an zwölf Prozent der Firmen

Die Kammerstudie beleuchtete anhand von Kriterien wie Kapazitätsauslastung, Finanzreserven und Mitarbeiterzahl sowie Entwicklung der Bruttolöhne, wie die Firmen auf die Corona-Krise reagierten. Gewöhnlich erstellt das GVI zum Halbjahr Konjunkturberichte, wegen der Mitte März verhängten Notstandslage wurden jedoch im Verlaufe des Monats April Repräsentanten von nahezu 2.900 einheimischen Unternehmen zu den spezifischen, krisenrelevanten Themen befragt. Die Antworten lassen aufhorchen.

Anfang März ergab sich eine durchschnittliche Kapazitätsauslastung der Unternehmen von 78 Prozent, die im Median sogar 85 Prozent erreichte. Diese Werte fielen im April auf 55 beziehungsweise 60 Prozent zurück. Die Streuung nahm derweil um acht auf 34 Prozentpunkte zu, womit ein in der Krise heterogeneres Bild der Unternehmenslandschaft gezeichnet wird. Die MKIK erklärt diesen Effekt damit, dass sich die Krise auf die einzelnen Firmen sehr differenziert auswirkte. Im März gaben vier Prozent der Firmen eine Nullauslastung ihrer Kapazitäten an, mit anderen Worten übten sie ihre Geschäftstätigkeit schon in Friedenszeiten nicht mehr aus. Bis zum April verdreifachte sich dieser Wert, also bereits zwölf Prozent der Firmen fanden keine Verwendung mehr für ihre Kapazitäten.

Im Dienstleistungssektor war jede fünfte Firma vom „Lockdown“ betroffen, unter den Kleinfirmen mit weniger als zehn Mitarbeitern traf der Stillstand sogar dreißig Prozent. Je kleiner die Firma, umso schwerer schlug die Krise zu. Das Bauwesen musste sich am wenigsten einschränken (minus 12 Prozentpunkte), Industrie und Handel schon deutlicher (um 18 beziehungsweise 21 Prozentpunkte), während die Dienstleistungsbranche gleich um 31 Prozentpunkte einbrach. Ein dermaßen klarer Unterschied war zwischen den Unternehmen nach einheimischer oder ausländischer Eigentümerschaft nicht abzulesen, und Exporteure kamen etwas glimpflicher davon, als ausschließlich für den heimischen Markt tätige Firmen. (Letzteres darf aber nicht unabhängig von der Unternehmensgröße gesehen werden.) Unterm Strich hat beinahe ein Viertel der Unternehmen Einbußen von mehr als der Hälfte bei der Kapazitätsauslastung hinnehmen müssen, für ein knappes Drittel war die Krise irrelevant, sieben Prozent erlebten noch einen Schub.

Stellenabbau und Neueinstellungen

Die weniger gut ausgelasteten Kapazitäten drückten verständlicherweise auf die Liquidität der Firmen. Jeder fünfte Befragte gab an, unter den neuartigen Bedingungen würden die Finanzreserven höchstens für einen Monat reichen. Nahezu jeder zweite Unternehmensführer befürchtete, die Reserven würden sich spätestens in zwei Monaten erschöpfen. Fast zwei Drittel aller Firmen hätten eine Durststrecke von maximal drei Monaten vertragen. Immerhin 37 Prozent gaben die Reserven als für mindestens sechs Monate ausreichend an, elf Prozent hätten demnach auch eine einjährige Krise überstanden. Größere Unternehmen waren von dem Rückschlag bei den Kapazitäten weniger betroffen und verfügen in der Regel ohnehin über eine stärkere Kapitaldecke. Verblüffen sollte die Verfasser der Studie das Baugewerbe, das trotz relativ stabiler Auftragslage das Lager der finanziell schwächer aufgestellten Firmen mehrte. Dass Exporteure und Firmen mit ausländischer Beteiligung über eine stärkere Kapitaldecke verfügen, muss derweil nicht überraschen.

Dementsprechend sah sich knapp ein Viertel der befragten Firmen nicht imstande, die Belegschaft auch nur einen Monat lang zusammenzuhalten, die Hälfte der Firmen rechnete binnen ein, zwei Monaten mit einem Stellenabbau. Exakt ein Drittel der Befragten traute sich zu, die Mitarbeiter auch über sechs und mehr Monate der Geschäftsflaute zu halten. Insbesondere in der Industrie standen die Arbeitgeber zu ihrer Belegschaft.

Im Zeitraum zwischen Anfang März und der Datenerhebung im April entließen letztlich 36 Prozent der Firmen Mitarbeiter, 24 Prozent meldeten derweil Neueinstellungen. Anteilig waren die Großunternehmen überrepräsentiert, wo der Stellenabbau 47 Prozent aller befragten Unternehmen betraf, aber auch die Dienstleister (mit 42 Prozent) und die Firmen im ausländischen Eigentum (40 Prozent). Unter den Kleinfirmen mit höchstens zehn Beschäftigten trennte sich nur jede fünfte von Mitarbeitern, im Bauwesen berührten die Entlassungen weniger als ein Viertel der Firmen. Neueinstellungen nahmen hauptsächlich ausländische Unternehmen (zu 35 Prozent), Großunternehmen, Exporteure und Baufirmen vor. Das Forschungsinstitut der Kammer fand heraus, dass die Krise praktisch alle Kategorien mit Ausnahme der Akademiker in Büroberufen erfasste. Am schwersten waren Praktikanten und Studentenjobs betroffen (-6 Prozent), gefolgt von Hilfsarbeitern. Aber auch im Kreis von Fachkräften, Senior-Arbeitnehmern und Teilzeitbeschäftigten kam es zu einer Entlassungswelle.

Lohnverzicht wird zur neuen Normalität

Wesentlich markanter ging unterdessen der Anteil der Vollzeitbeschäftigten zurück. Waren im Vorkrisen-Ungarn Beschäftigungsverhältnisse in Vollzeit und an der Betriebsstätte des Arbeitgebers die Regel (die für 92 Prozent der Arbeitsverträge galten), fiel dieser Anteil in der Notstandslage auf 67 Prozent zurück. Anfang April wurden jeweils elf Prozent in Heimarbeit beschäftigt beziehungsweise befanden sich in bezahltem Urlaub. Daneben stieg die Quote von Homeoffice-Hybridlösungen auf fünf Prozent. Für die alternativen Formen der Arbeitsorganisation zeigten sich insbesondere kleinere Firmen offen. Heimarbeit setzte sich am ehesten im Dienstleistungssektor durch, Teilzeitarbeitsmodelle verbreiteten sich im Handel. In Zwangsurlaub wurden gleich 13 Prozent der Arbeitnehmer von Industriebetrieben geschickt. Die weiteren Beschäftigungsaussichten für 2020 sehen 35 Prozent der befragten Firmenvertreter pessimistisch, eine absolute Mehrheit von 56 Prozent rechnet derweil mit dem gleichen Beschäftigungsniveau wie im vorigen Jahr.

Wenig verwunderlich schlägt sich die Krise in den Vorstellungen der Arbeitgeber nieder, wie sie ihre Mitarbeiter vergüten wollen. So rechneten zum Zeitpunkt der Erhebung im April bereits elf Prozent der Befragten mit sinkenden Löhnen im laufenden Jahr (im Vorjahr wurden die Löhne tatsächlich bei zwei Prozent der Firmen gekürzt). Eine relative Mehrheit von 39 Prozent (Vorjahr: 14 Prozent) will das Lohnniveau einfrieren. Jeder fünfte Befragte sah noch Spielraum für einen Inflationsausgleich, und nur jede vierte Firma wollte die Löhne um die im Vorjahr typischen 6-10 Prozent anheben.

Gab es 2019 noch bei jeder fünften Firma zweistellige Lohnerhöhungen, fiel deren Anteil in der Corona-Krise auf fünf Prozent. Übrigens sind für Großunternehmen solide Lohnerhöhungen um bis zu zehn Prozent charakteristisch, extreme Lohnsteigerungen im zweistelligen Bereich nehmen aber auch weiterhin am ehesten kleine (vermutlich innovative) Firmen vor. Verzicht üben müssen in diesem Jahr besonders viele Mitarbeiter im Dienstleistungs- und Handelssektor.

Die Kammerstudie hat am Beispiel von dreitausend Firmen aufgezeigt, dass sich die ungarische Wirtschaft derzeit mehrheitlich im Modus der Krisenabwehr befindet. Die wenigsten Unternehmensführer beschäftigen da Gedanken, wie sie in der Kurve am besten überholen können. Der für September angekündigte Aktionsplan zur Stimulierung der Wirtschaft ist dringend nötig, um in dieser allgemein prekären Lage Zuversicht zu verbreiten.

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