Außenwirtschaftsminister Péter Szijjártó bei der Bekanntgabe weiterer Investitionen der Continental-Gruppe, die mehr als 4.000 Arbeitsplätze schützen. Foto: MTI/ Márton Mónus

Ein Ausblick für 2021

Szijjártó: Den Wandel als Chance begreifen

Der Impfstoff verspricht der Corona-Krise ein Ende zu bereiten. Aber wie ist Ungarns Wirtschaft für den Neuanlauf aufgestellt?

Eigentlich wollte die Orbán-Regierung der zweiten Welle des Coronavirus mit einem neuen „Aktionsplan zum Schutz der Wirtschaft“ begegnen. Seit September breitet sich SARS-CoV-2 mit heftigeren Nebenwirkungen als im Frühling im Lande aus, weshalb im November neuerlich ein Notstand ausgerufen werden musste. Es gibt zwar immer neue Programme, einen zusammenhängenden, kongruenten „Marshall-Plan“ für die Wirtschaft gibt es allerdings bis heute nicht.

Im Parlament von der Opposition darauf angesprochen reagieren Regierungspolitiker mit dem Hinweis auf das „historische Paket“, das im März und April an den Start gebracht wurde und ein beispielloses Volumen von zwanzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht haben soll. Was nach einem alten ungarischen Sprichwort aber mindestens so weit von der Realität entfernt ist, wie Makó von Jerusalem.

Moratorium gezielt verlängert

Das zweifellos stärkste Element dieses Pakets war das Kreditmoratorium, das von ungefähr einem Drittel der Bürger und Firmen in Anspruch genommen wurde. Die Aussetzung von Kapitaltilgung und Zinszahlungen inmitten der Corona-Krise stellte für ungemein viele Akteure eine kaum zu unterschätzende Liquiditätshilfe dar. Als die Regierung gewahrte, dass sich die Lage in einem langen Winter ohne Impfstoff beziehungsweise Herdenimmunität weiter verschlechtern dürfte, beschloss sie unbürokratisch, das Moratorium bis Jahresmitte 2021 zu prolongieren. Parallel dazu wurden die Voraussetzungen etwas strenger gefasst – auch dies vollkommen vernünftig, um gezielter jenen zu helfen, die Hilfe wirklich nötig haben. So müssen Familien, Rentner, Arbeitslose und Personen in öffentlichen Arbeitsprogrammen mit der Tilgung ihrer Kredite auch nach dem 1. Januar nicht beginnen. Bei den Unternehmen gilt als Faustregel für die verlängerte Kreditstundung, dass die Umsatzerlöse in der Corona-Krise um mindestens ein Viertel gefallen sein müssen.

Zumindest versprach das Ministerpräsident Viktor Orbán, als er Mitte September die Möglichkeiten skizzierte, wie das Moratorium über das Jahresende hinaus Bestand haben könnte. Im einschlägigen Gesetz, das Ende Oktober verabschiedet wurde, fand sich diese Faustregel dann jedoch nicht wieder. Allgemein dürfen die Anträge durch Firmen eingereicht werden, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken. Was damit genau gemeint ist, soll eine Regierungsverordnung regeln, die bis Anfang Dezember aber noch nicht veröffentlicht war. Die Ungarische Nationalbank (MNB) geht davon aus, dass nach dem Jahreswechsel weiterhin mehr als 3.000 Mrd. Forint an Kreditausreichungen dem Moratorium unterliegen werden. Das Ministerpräsidentenamt rechnet seinerseits mit gut 2.500 Mrd. Forint – den Unterschied macht das Volumen der unter dem Schutzschirm verbleibenden Unternehmenskredite aus.

Eher halbherzige Maßnahmen

Dieses Beispiel zeigt, wie alleingelassen von der Politik sich die ungarischen Firmen in der Corona-Krise vorkommen können. Der fachliche Stab der MNB würde auch bei Anwendung der strengeren Vorgaben deutlich mehr Firmen unter dem Schutzschild des Moratoriums halten – die Differenz in der Erwartungshaltung zwischen Notenbank und Regierung beläuft sich auf etwa 500 Mrd. Forint. Als „halbherzig“ kann man auch die Maßnahmen bezeichnen, wie die Regierung die erstrangigen Krisenverlierer auffangen will. Während Insider schon zur Zeit der ersten Welle bis zu 200.000 Arbeitsplätze im Tourismus-, Hotellerie- und Gastgewerbe abschrieben, die im Sommer nur zu einem geringeren Teil kompensiert werden konnten, glaubt die Regierung, aktuell 140.000 Arbeitsplätze in diesem Sektor zu retten.

Jedenfalls behauptete das Finanzminister Mihály Varga, als er am Dienstag verkündete, die in der Notstandslage neuerlich gewährten Lohnzuschüsse bis Ende Januar beizubehalten. Der Staat schießt demnach Firmen, die ihre Mitarbeiter nicht entlassen, in diesen Monaten mit gegen null tendierenden Umsatzerlösen die Hälfte der Löhne zu. Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, dass der Fiskus den Tourismusfirmen wie schon im Frühjahr auch jetzt wieder Vergünstigungen auf Steuern und Abgaben gewährt beziehungsweise diese Lasten ganz erlässt.

Schnell, groß, verhältnismäßig

Wie sich das im Gesamtbild der Wirtschaft darstellt, fasste der Minister für Innovationen und Technologien bei seiner Jahresanhörung vor dem zuständigen Parlamentsausschuss für Unternehmensförderungen zusammen. László Palkovics sieht den Erfolg des Krisenmanagements (während der ersten Corona-Welle) in der Schnelligkeit, wie die Eingriffe vorgenommen wurden, ihrer Größenordnung und Verhältnismäßigkeit. Nach seiner Zählung wurden mit den unterschiedlichen Programmen insgesamt 590.000 Arbeitsplätze über die Krise gerettet und darüber hinaus das Zustandebringen von 47.000 neuen Arbeitsplätzen staatlich unterstützt. Mehr als 60.000 Ungarn konnten kostenlose Basiskurse in Informatik belegen. Zur Finanzierung des Kurzarbeitergeldes schoss der Staat den entsprechende Anträge stellenden Unternehmen insgesamt 35 Mrd. Forint zu, die 207.000 Arbeitnehmern zugutekamen. Als Beleg für den Erfolg dieses neuartigen Programms führte der Minister die geringfügige Fluktuation im Kreis der davon profitierenden Arbeitnehmer an. Diese blieb unter zwei Prozent.

Innovationsminister László Palkovics sprach vor dem Parlamentsausschuss von rund sechshunderttausend Arbeitsplätzen, die in der Krise bewahrt werden konnten. Foto: MTI/ Zsolt Szigetváry

Was Palkovics vor dem Ausschuss nicht zum Besten gab, war der zähe Widerstand des Ministerpräsidenten, der erst relativ spät einwilligte, und auch nur in eine Variante des Kurzarbeitergelds, die mit dem Vorbild aus Deutschland wenig gemein hat. Auf Kritiken des Oppositionslagers, auch Österreich würde weit mehr Geld bereitstellen, um mittels Kurzarbeiterregelung den Gang aufs Arbeitsamt zu verhindern, merkte das für den Arbeitsmarkt zuständige Innovationsministerium gebetsmühlenartig an, so viel Geld habe Ungarn nicht. (Freilich ist man auch weit von den achtzig Prozent Zuschüssen entfernt, die in Tschechien gezahlt werden. Mit diesem Land sollte ein Vergleich erlaubt sein.)

Mutige Investoren sind die Partner

Unterdessen werden an Stelle umfassender Aktionspläne immer neue Programme aufgelegt, um die Investitionsbereitschaft der Unternehmen anzukurbeln. Außenwirtschaftsminister Péter Szijjártó sagt bei jedem Anlass einer Unterzeichnung von Förderdokumenten, es sei besser, Investitionen mitzufinanzieren und damit Arbeitsplätze zu schützen, als Arbeitslosenhilfe zu zahlen. Die für investitionswillige Unternehmen aufgelegten Programme überschlagen sich. Der Minister betrachtet jeden Wirtschaftsakteur als Partner, der in der Krise nach vorne schaut und mutig Geld in die Zukunft steckt.

Den Anfang machte ein Programm, bei dem die Europäische Union zustimmte, dass Investoren für ihre Projekte bis zu 800.000 Euro an Zuschüssen erhalten dürfen. Das jüngste Programm in der kaum noch überschaubaren Serie kündigte Szijjártó Ende November an: Weitere 60 Mrd. Forint werden unter Firmen verteilt, die ihre Tätigkeit modernisieren, um Arbeitsplätze zu erhalten. Allein um diese Ausschreibung bewarben sich 360 Unternehmen, die den Finanzierungsrahmen innerhalb von 15 Minuten (!) ausschöpften, um Projekte im Gesamtwert von 200 Mrd. Forint auf den Weg zu bringen und dadurch 50.000 Arbeitsplätze über die Krise zu retten. Der Außenwirtschaftsminister spricht seit geraumer Zeit vom Anbruch einer neuen Epoche; den Wandel in der Weltwirtschaft habe die Corona-Pandemie eher noch beschleunigt. Ungarn müsse diesen Wandel als Chance begreifen und aus der Krise gestärkt hervorgehen. Während anderswo Fabriken schließen und Stellen abgebaut werden, verkündet Szijjártó nahezu im Tagestakt neue Investitionen.

Positives Zeugnis ausgestellt

Diesen Eindruck bestätigt der Datenanbieter Opten. Seit dem Sommer ist ein neues Gründerfieber ausgebrochen, im Oktober gab es so viele Firmenanmeldungen, wie seit sechs Jahren nicht mehr. Der Anteil an Löschungen und Neugründungen von Firmen im Vergleich zu sämtlichen eingetragenen Gesellschaften ist nur in Budapest und im Norden des Landes hoch. Für große Landesteile ist eher Stabilität in der Firmenlandschaft charakteristisch. Natürlich zwingt die Corona-Krise viele Unternehmer zur unfreiwilligen Geschäftsaufgabe, und immer mehr Firmen droht ein Insolvenzverfahren, weil die Partner angesichts unbeglichener Rechnungen die Geduld verlieren. Aber schon wegen des fortbestehenden Kreditmoratoriums rechnen die Experten erst 2021 mit einer größeren Pleitewelle – aktuell wirtschaften noch immer rund 515.000 eingetragene Firmen ungarnweit.

Die relativ stabile Position der ungarischen Wirtschaft hob auch die Rating­agentur Moody´s hervor, die Ungarn Ende September das Zeugnis eines positiven Ausblicks ausstellte. Reichlich ungewöhnlich inmitten einer globalen Krisenlage. Selbst wenn die Analysten gerne den großen Überblick im Fokus haben, dürfte die erfolgreiche Abwehr der ersten Corona-Welle durch die Orbán-Regierung in dieses Zeugnis eingeflossen sein. Seither hat sich die Zahl der an und mit Covid-19 verstorbenen Ungarn leider verzehnfacht, und das Defizitziel ist nicht länger in Stein gemeißelt. Im laufenden Jahr sind nun Neuschulden von gut und gerne neun Prozent der Wirtschaftsleistung „akzeptiert“, mit der direkten Folge, dass ein Jahrzehnt des Kampfes gegen den Staatsschuldenberg ausgehebelt wird. Das Doppel-Veto gegen den EU-Finanzrahmen 2021-27 und den Wiederaufbaufonds wirkt in einer solchen Lage wenig vertrauensbildend – erwartungsgemäß haben das alle drei tonangebenden Ratingagenturen längst moniert.

Saxo-Prognose: Kühn, aber nicht abwegig

Es gibt abgesehen vom politischen Streit ohnehin jede Menge Baustellen, deren Effekte auf die Staatsfinanzen mehr oder minder heftig ausfallen können. Die Inflation ist noch längst nicht unter Kontrolle, nur weil geopolitisch bedingt mal wieder (temporär) die Preise an den Zapfsäulen fallen. Zumal der Bürger auf ausufernde Preise bei den Grundnahrungsmitteln gewiss sensibler reagiert, als auf die in der Notstandslage erlassenen Parkplatzgebühren für den beruflich oder wegen des Einkaufs abgestellten Pkw. Von einem Konsumrausch kann keine Rede sein – die Zahlen des Einzelhandels strafen jene Lohnstatistik Lügen, die noch immer zweistellige Zuwächse in die Welt posaunt. In der rauen Wirklichkeit verteilt sich die Lohnmasse auf weniger Köpfe. Das ist ganz typisch in einer Krise. Immerhin hat das Statistikamt KSH endlich zugegeben, dass die „subjektive“ Arbeitslosigkeit bereits im Juni vierhunderttausend Personen betraf. Das sind beinahe doppelt so viele, wie nach dem ILO-Standard berechnet, aber nur ungefähr fünfzigtausend mehr, als sich bei den Arbeitsämtern als arbeitslos registrierten.

In den angelaufenen Tarifverhandlungen für 2021 profitieren die Arbeitgeber in jedem Fall von der neuen Arbeitsmarktreserve. Die Gewerkschaften sind ganz klar in die Defensive gelangt; an Stelle einer erhofften Fortsetzung dynamischer Lohnerhöhungen im hohen einstelligen oder gar zweistelligen Bereich erscheint heute bereits ein Inflationsausgleich als entgegenkommend von Seiten der Unternehmen. Diese müssen ihrerseits zusehen, dass sie fit sind, wenn Wirtschaft und Gesellschaft hoffentlich ab dem zweiten Quartal 2021 zu Normalität zurückkehren können. Um durch den langen Corona-Winter zu kommen, braucht es neben Liquidität sicher auch eine gute Portion Optimismus.

Die Ministerpräsidenten Polens und Ungarns, Mateusz Morawiecki und Viktor Orbán, trafen sich ein weiteres Mal in Warschau. Bereitet Orbán insgeheim den EU-Austritt vor? Foto: Pressestelle des Ministerpräsidenten/ Vivien Cher Benko

Vielleicht sollten wir da als gutes Omen betrachten, dass die Saxo Bank auf ihrer Liste sogenannter „Black Swan“-Ereignisse für das kommende Jahr Ungarn nicht mehr in den Vordergrund rückte, wie das für 2020 noch der Fall war. Schließlich hatten die Analysten des dänischen Bankhauses als unerwartetes und deshalb unverhofftes Ereignis eingestuft, Ungarn könnte in diesem Jahr den Prozess des Austritts aus der Europäischen Union einleiten. Inwieweit der seither vom Zaun gebrochene Veto-Streit und ein in der Europäischen Volkspartei marginalisierter Fidesz in diese Richtung weisen, mag jeder für sich selbst abwägen. Bei der Saxo Bank hatte man im Zusammenhang mit diesem (wohlgemerkt als sehr unwahrscheinlich eingestuften) Szenario vorausgesagt, der Forint könnte von 330 bis auf 375 zum Euro abrauschen. Nun ja, diesen Absturz besorgten allein die Unwägbarkeiten der Corona-Pandemie.

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