Empfehlungen der Ungarischen Industrie- und Handelskammer (MKIK)
Staatliche „Beatmung“ für die Besten
Nachdem sich Ministerpräsident Viktor Orbán am Montagvormittag mit Spitzen der Wirtschaft – darunter der Innovations- und der Finanzminister, die Präsidenten der Ungarischen Industrie- und Handelskammer, der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer und der AmCham sowie Repräsentanten der Notenbank und von Arbeitgeberverbänden – beraten hatte, kündigte er für Anfang kommender Woche den „größten Aktionsplan aller Zeiten“ zur Wiederbelebung der Wirtschaft an. Das laufende Budget sei in der akuten Situation der Corona-Krise hinfällig, eine Neuplanung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber unsinnig, weil niemand wisse, was in den nächsten Wochen und Monaten tatsächlich geschehen wird. Damit der Staatshaushalt nun nicht alle zwei Monate neu geschrieben werden muss, habe Orbán mit dem Finanzminister die einzelnen Haushaltskapitel der Ministerien dahingehend abgeklopft, welches Geld unbedingt zum ursprünglichen Zweck benötigt wird und welche Mittel freigesetzt werden könnten, um daraus Fonds zum Krisenmanagement und zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu bilden.
Arbeitsplätze gehen vor
Gewöhnlich behält sich Orbán das Recht vor, dass jede Initiative von ihm ausgeht. Insofern kam es einigermaßen überraschend, dass die Ungarische Industrie- und Handelskammer (MKIK) am Montagabend mit einem eigenen Rettungspaket an die Öffentlichkeit trat, das der Regierung mit seinen detaillierten Vorschlägen als konkrete Handlungsanleitung in der Krisenbewältigung dienen könnte. Ungarn schaltete am 11. März mit der Ausrufung des landesweiten Notstands in den Krisenmodus – spätestens seit jenem Tag sammelt die Kammer die Eindrücke, Erfahrungen und Ratschläge von Seiten ihrer Mitgliedsunternehmen. Anmerkungen von mindestens 15.000 Unternehmen flossen in das Paket ein, von dem sich die MKIK zuvorderst die Rettung möglichst vieler Arbeitsplätze verspricht.
Dabei bemerkenswert erscheint die Attitüde, wonach „die guten einheimischen“ Unternehmen bevorzugt behandelt werden sollen. Gemeint sind damit Unternehmen, die im Gegenzug für die staatlichen Zuwendungen in der Not Eigenverpflichtungen eingehen, indem sie etwa ihre Wertschöpfungsketten neu ausgestalten, ihre Produktivität steigern und natürlich die Arbeitsplätze bewahren wollen. Neben einer Dominanz des staatlichen Engagements beim Tragen der Corona-Lasten müssten dabei auch die Unternehmen und die Arbeitnehmer zu Opfern bereit sein. Vorrangige Aufgabe sei jetzt, den Angebotsschock zu überwinden.
Solidarität aus Zwang
Die Vorschläge der Kammer sind vom Hier und Heute bis zum mittelfristigen Zeithorizont gestaffelt. Die vier Schlüsselthemen sind die Aufstellung eines Nationalen Krisenfonds, der von der Kammer mit dem Kürzel NVA versehen wurde, Garantien für die Bewahrung der Arbeitsplätze beziehungsweise sofortige Reaktionen auf die entstehende Arbeitslosigkeit, die herausragende Förderung lebensfähiger einheimischer Unternehmen und schließlich Maßnahmen im Interesse des Gemeinwohls. Es ist wichtig zu wissen, dass der Präsident der MKIK, László Parragh, neben Notenbankpräsident György Matolcsy und Finanzminister Mihály Varga zur engsten Wirtschaftsführung des Landes gehört – auf diese drei Männer stützt sich der Jurist Orbán hauptsächlich, wenn es um wirtschaftliche Entscheidungen geht. Parragh nahm auch an jener Videoschalte am Montagmorgen teil, in deren Ergebnis Orbán den größten Aktionsplan aller Zeiten ankündigte. Der Kammerpräsident sitzt in der Aktionsgruppe zum Neustart der Wirtschaft, einer von zehn Aktionsgruppen, die der Ministerpräsident Mitte März bestellte, um die spezifischen Aufgaben in der Corona-Krise besser zu strukturieren.
Laut Lageeinschätzung der Kammer lasse sich die gegenwärtige Krise nicht mit der Finanzkrise von 2008 vergleichen. Dementsprechend bedürfe es anderer Techniken, um damit umgehen zu können. In dieser außerordentlichen Lage sei es relevant, die Prinzipien einer Solidarität aus Zwang und der asymmetrischen Lastenverteilung anzuwenden, betont die MKIK in ihrer Vorlage. Sobald die unmittelbare Gefahr für das Leben der Menschen abgewendet sei, müsse eine offensive Wirtschaftspolitik verfolgt werden.
Ein Fonds für jede Katastrophe
Die größte Zahl wurde im Zusammenhang mit der Aufstellung des neuen Krisenfonds genannt: Der mit Haushaltsgeldern im Volumen von 500 Mrd. Forint auf die Beine zu stellende NVA-Fonds sollte 2021 mit einem Gesamtvolumen von 2.000-4.000 Mrd. Forint aktiviert werden. Der Fonds sollte mit dauerhaftem Charakter zur Finanzierung der wirtschaftlichen Folgeschäden von „Naturkatastrophen“ eingerichtet werden. Technisch gehe es nicht um die Bindung staatlicher Gelder, vielmehr sollte ein „nach oben offenes“ System von Garantien zur Schadensminderung in Notlagen geschaffen werden. Künftige Haushaltspläne müssten unter Berücksichtigung dieser Position aufgestellt werden.
Neben der Begebung von Anleihen und dem allgemeinen „Abknapsen“ von bestehenden Steuern (nach dem Vorbild der Ein-Prozent-Verfügung bei der Einkommensteuer) stellt sich die Kammer die Finanzierung über Branchensondersteuern vor, die gezielt auf jene Wirtschaftstätigkeiten erhoben würden, die von der aktuellen Krise profitieren. Auch eine neue NVA-Steuer als Pflicht für die Wirtschaftsakteure oder Sondereinzahlungen von Seiten der profitabelsten Gesellschaften seien denkbar. Mit dem Geld würden die als Motor der Wirtschaft definierten Klein- und mittelständischen Unternehmen vorübergehend an das staatliche „Beatmungsgerät“ angeschlossen. Das sollte aber nicht in Form von Beihilfen passieren, sondern über die Senkung von Sozialabgaben oder indem eine zahlungskräftige Nachfrage generiert wird. Die kurzfristige Schocktherapie würde später durch eine strategische Dimension abgelöst, die sich auf besonders lebensfähige Unternehmen mit großem Potenzial konzentriert.
Exklusiv ungarisch
Für die Bewahrung der Arbeitsplätze hält die Kammer mehr als ein halbes Dutzend Vorschläge parat. Dabei stellt man sich die Implementierung staatlicher Zuwendungen in der Form vor, wonach Firmen Steuern und Abgaben ihrer Arbeitnehmer zurückhalten dürften. Des Weiteren könnte der Staat Darlehen für Lohnauszahlungen gewähren, die 2021/22 zurückerstattet werden müssten. Es werden verschiedene spezifische Lösungsansätze für Unternehmensgruppen vorgeschlagen, die beispielsweise der Pauschalsteuer KIVA für Kleinfirmen und Mittelständler unterliegen. Arbeitnehmern, die sich mit ihrem Arbeitgeber darauf einigen können, unter Lohnverzicht zu Hause zu bleiben, würde ihr Lohn durch den Staat bis zu einem gewissen Grad aufgestockt – das wäre immer noch günstiger für das Gemeinwesen, als die Zahlung von Arbeitslosengeld. Wichtig erscheinen der MKIK wegen der Dimensionen dieser Problematik auch Schritte, um Akteure aus der Grauzone der Wirtschaft zu motivieren, fortan gesetzkonform zu agieren.
Die „herausragende Förderung“ lebensfähiger einheimischer Unternehmen setzt bei der Generierung einer Nachfrage durch gezielte staatliche Förderungen wie beim Programm „Warmes Zuhause“ an. Dieses seit Jahren bewährte Programm einer energietechnischen Modernisierung der ungarischen Privathaushalte könnte künftig exklusiv auf ungarische Produkte und Leistungen zugeschnitten werden. Die Kammer möchte eine umfassende Diagnose der Firmen aufstellen, die ihren Beitrag zu BIP, Beschäftigung, Exporten und Innovationen sowie ihre digitalen Kompetenzen beleuchtet. Firmen mit ungesunden Strukturen sollten hingegen „unbedingt“ von den Förderungen ausgeschlossen bleiben. Die Notenbank und staatliche Kreditgarantien sollten den im Übrigen zukunftsträchtigen Unternehmen ausreichende Liquidität verschaffen, um die Krisenzeit zu überbrücken.
Bei den auf das Gemeinwohl gerichteten Maßnahmen denkt die Kammer beispielsweise an einmalige Zuwendungen für alle infolge der Krise in die Arbeitslosigkeit entlassenen Menschen, für Rentner und Familien. Der erhöhte Arbeitsaufwand der Mitarbeiter im Gesundheitswesen und im Bildungswesen sollte mit zusätzlichen Kompensationszahlungen gewürdigt, das Breitbandinternet landesweit kostenlos offeriert werden. Im weiteren Jahresverlauf sollte ein neues öffentliches Beschäftigungsprogramm aufgelegt werden. Die Zeitdauer der Zahlung von Arbeitslosengeld würde, wenn die Regierung dem Vorschlag der MKIK folgt, auf 180 Tage verdoppelt. Ausschreibungen zur Anwendung von Forschung, Entwicklung und Innovationen müssten darauf abstellen, die Kapazitäten im Lande zu halten.
Gegenüber dem Wirtschaftsportal portfolio.hu stellte Kammerpräsident László Parragh am Mittwoch klar, es sei nicht „Sache der Kammer, die Verantwortung im Entscheidungsfindungsprozess zu übernehmen“. Die bisher von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen seien richtig und durchdacht. Das Land dürfe heute zu Recht Maßnahmen erwarten, die dem grundlegenden Ziel dienen, dass die Menschen über Einkommen verfügen, dass sie ihr Geld ausgeben können und dass die Löhne möglichst nicht drastisch sinken.
Damit hat die Industrie- und Handelskammer den Ball an die Regierung zurückgegeben. Nun bleibt nichts anderes als abzuwarten und sich ein Wochenende in Geduld zu üben. Dann wird der Ministerpräsident einen Plan präsentieren, der eins sicher nicht darf: die hochgeschraubten Erwartungen nach all den gemachten Ansagen enttäuschen. Man darf gespannt sein.
Interview mit Kammerpräsident László Parragh
Der wirtschaftliche Schock trifft alle
Der Präsident der Ungarischen Industrie- und Handelskammer spricht von drei Phasen der Corona-Krise: Panik, Anpassungsprozess und Recovering.
Der dramatische Rückfall der Wirtschaft lässt immer mehr Experten Parallelen zur Weltwirtschaftskrise 2008 ziehen. Werden wir tatsächlich erneut so heftig abstürzen, wie vor zwölf Jahren geschehen?
Ich halte es für wichtig zu betonen, dass dies eine neuartige Situation ist, die sich weder vorauskalkulieren noch mit der globalen Krise von 2008 vergleichen lässt. Die damalige Finanzkrise nahm ihren – symbolischen – Anfang mit der Pleite von Lehman Brothers, und bis zu einem gewissen Grade konnte man sich darauf einstellen. Heute haben wir eine Pandemie als Ausgangspunkt, wobei den Rückschlag der Wirtschaft nicht das Virus selbst verursacht, sondern die darauf gegebenen Antworten. Gemessen an 2008 verbreitet sich die aktuelle Krise zudem erschreckend schnell und breit streuend. Sie erschüttert selbst noch westliche Wohlstandsgesellschaften. Die versuchen – ähnlich wie Ungarn –, sich mit fiskalischen Stimuli zu behelfen. Wahrscheinlich wird es aber mehr Maßnahmen bedürfen.
Wie steht Ungarn da?
Was unsere wirtschaftliche Lage anbelangt, ist ein Vergleich mit 2008 irreführend. Damals war der Staat praktisch bankrott. Das Land verschuldete sich unkontrolliert, obendrein befand sich die Hälfte der Schulden in ausländischer Hand, während Haushalte und Unternehmen wegen des einbrechenden Forintkurses unter den Fremdwährungskrediten litten. Heute können wir uns auf eine starke Basis stützen: Seit mehr als zwei Jahren wächst unsere Wirtschaft um fünf Prozent, die Regierung besitzt einen sicheren Rückhalt in der Bevölkerung, die Schulden sind überwiegend in ungarischer Hand, das Budgetdefizit für 2020 wurde ursprünglich mit nur einem Prozent rekordtief geplant. Und das, obwohl in diesem Haushaltsplan Reserven von insgesamt rund 700 Mrd. Forint angelegt waren. Wenn es sein muss, wird sicher noch mehr Geld freigesetzt werden können.
Wenn alles so gut ist, sind wir etwa in wenigen Monaten schon über den Berg?
Leider kann davon keine Rede sein, die Wirtschaft ist in Schockstarre verfallen. Es wird dauern, bis sie wieder zu sich kommt. Die von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen sind nützlich, aber es braucht mehr, als eine vorübergehende Erleichterung bei den Abgabenzahlungen für Krisenbranchen. Das Moratorium für Kredittilgungen, das Hunderttausenden unmittelbar hilft, war ein Vorschlag der Kammer, ähnlich wie die Prolongierung der kurzfristig fälligen Kredite.
Wie würden Sie diese Krise beschreiben?
Ich sehe drei Phasen: Auf die Panik folgt die Phase der Anpassung an die neuartige Situation, mit dem Erstellen kurz- und mittelfristiger Pläne. Dem schließt sich das Recovering an, also in erster Linie die Stabilisierung und Wiederherstellung von Finanzhaushalten und Wirtschaft.
Ministerpräsident Viktor Orbán bat Sie zum Auftakt des Wirtschaftsjahres der Kammer, die Rückmeldungen der Unternehmer zu erfassen und bis Ende April konkrete Vorschläge zu unterbreiten.
Natürlich wissen wir heute, dass wir nicht mehr bis Ende April Zeit für diese Vorlage haben. Gleich, nachdem der Ministerpräsident diese Bitte am 10. März an uns herantrug, begannen wir, Stimmungslage und Erfahrungen mittels Fragebögen zu erkunden. Bislang haben wir mehr als 15.000 Antworten von Unternehmen aufgearbeitet; dabei zeigt sich eine enorme Angst, weil realistisch zu sehen ist, dass der wirtschaftliche Schock an niemandem vorbeigeht.
Gibt es denn überhaupt Krisenpläne bei den Firmen?
Nach unserem Kenntnisstand verfügt ungefähr die Hälfte der Unternehmen über eine Art Krisenplan, was aber eher für die Großunternehmen typisch ist. Das Virus hat die gewohnte Arbeitsordnung von Grund auf verändert; immerhin kann ein Drittel der Unternehmen mit Homeoffice reagieren. Wir haben Expertenteams bei der Kammer gebildet, um die branchenspezifischen Probleme zu erfassen und Vorschläge zusammenzustellen, die auf Unternehmensebene sowie volkswirtschaftlich greifen sollen.
Womit dürfen wir konkret rechnen?
Wahrscheinlich wird es weitergehende Erleichterungen geben. Noch haben die ergriffenen Maßnahmen kein großes Loch in den Haushalt gerissen. Eine Neuplanung des Budgets macht aber nicht viel Sinn, solange wir nicht einigermaßen absehen können, wie lange die Epidemie noch anhält.
Macht es auch dann keinen Sinn, wenn reihenweise Firmen das Handtuch werfen und Hunderttausende ihre Arbeit verlieren?
Wir müssen realistisch einkalkulieren, dass sehr, sehr viele Firmen pleitegehen werden. Das wird überall auf der Welt der Fall sein. Das unterscheidet sich nach Wirtschaftszweigen, Unternehmensphilosophie und Kapitaldecke, wobei wohl ausschlaggebend sein wird, welche Rücklagen vorhanden sind. Hier bewährt sich nun eine gesunde Kultur der Finanzen.
Der Tourismus beispielsweise wird wohl ein Jahr brauchen, um sich zu erholen – zumindest in Budapest rechnen wir mit einem solchen Szenario. Wenn die Ungarn aber im Sommer nicht mehr ins Ausland reisen, könnte davon vielleicht der Inlandstourismus im ländlichen Raum profitieren. Aber halt nur jene Firmen, die bis dahin nicht pleitegegangen sind.
Alle Automobilwerke stehen. Nach der üblichen Sommerpause fahren diese ihre Produktion immer schnell hoch – dürfen wir auch jetzt darauf hoffen?
Da bin ich optimistisch: Die hierzulande angesiedelten Automobilwerke verfügen über modernste Technologien und lassen sich technisch ohne weiteres hochfahren. Allerdings sprechen wir hier nicht allein vom Stillstand bei Audi, Mercedes, Opel und Suzuki, sondern ebenso von den vielen Zulieferern, die nun eine Zwangspause einlegen müssen.
Das Interview führte Csaba Szajlai.
Aus dem Ungarischen von Rainer Ackermann.
Das hier gekürzt wiedergegebene Interview erschien zuerst im konservativen Wochenblatt Figyelő.