Tourismus in der Corona-Krise
Soll das Inland das neue Ausland sein?
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Als die staatliche Tourismusagentur im Sommer ein Loblied auf die Entwicklung des Inlandstourismus anstimmte, wurden wir stutzig: Die Euphorie schien überzogen, denn selbst wenn sich die Ungarn mehr denn je zuvor aufmachen sollten, die eigene Heimat zu entdecken, könnten sie doch niemals den gewaltigen Ausfall der ausbleibenden ausländischen Reisegäste kompensieren. Aber Generaldirektor Zoltán Guller fasste es in schöne Worte: „Das Inland ist das neue Ausland. Noch nie haben so viele Ungarn im Inland Urlaub gemacht, wie in diesem Sommer.“ Auf 30 Prozent der Gesamtbevölkerung bezifferte er die Gäste gewerblicher Unterkunftsstätten, im Juli hätten 1,2 Millionen, im August sogar 1,5 Millionen Ungarn in der Heimat Urlaub gemacht. Die Zahlen des Zentralamtes für Statistik (KSH) lesen sich etwas anders.
Im Sommer auf dem Weg der Erholung
Diese liegen vorläufig nur für den Monat Juli vor, als Guller bereits einen Rekordmonat visionierte. Laut KSH fiel die Zahl der Übernachtungen an gewerblichen Unterkunftsstätten im siebten Monat noch um 42 Prozent unter den Vorjahresmonat. (Das kann man getrost als Erfolgsmeldung in der Corona-Krise verbuchen, denn der Absturz im Jahresvergleich erreichte im ersten Monat der Notstandslage, dem März, bereits 65 Prozent, auf dem Tiefpunkt im April sage und schreibe 97 Prozent, gefolgt von 93 Prozent im Mai und 75 Prozent im Juni.) Anders ausgedrückt belegt die Zahlenreihe des KSH, dass sich die Tourismusbranche vom absoluten Stillstand der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens allmählich erholte und im Juli durchaus auf einem guten Weg der Erholung schien. Diese Erholung war aber doch verhalten, eben weil sich das Leben nur schrittweise normalisierte und der internationale Reiseverkehr auch im Sommer von der verängstigten Politik in Corona-Geiselhaft gehalten wurde.
Laut Statistikamt fehlten im Juli immer noch drei von vier Auslandsgästen; das Unterkunftsgewerbe zählte insgesamt gerade mal 166.000 Gäste, die 478.000 Übernachtungen in ungarischen Betten buchten. Budapest, wo die großen sommerlichen Kultur- und Sportveranstaltungen komplett ausfielen oder ohne Zuschauer absolviert wurden, kamen neun von zehn ausländischen Gästen abhanden, den Hotels landesweit vier von fünf Ausländern. Campingplätze und Pensionen durften sich in einem solchen Umfeld nicht beklagen, beschränkten sich die Ausfälle in ihrem Fall doch auf 55-60 Prozent. Ganz anders als die zuversichtlich stimmende Lageeinschätzung der Tourismusagentur wirkten die vom Statistikamt ermittelten Zahlen des Inlandstourismus. Das KSH zählte 758.000 einheimische Gäste, die 2,1 Millionen Übernachtungen buchten – das waren zwölf beziehungsweise 18 Prozent weniger, als im Juli des Vorjahres. Einzig die Pensionen konnten ein leichtes Belegungsplus verzeichnen, die Hotels verloren neben den vielen ausländischen auch jeden zwölften einheimischen Gast, die Campingplätze ein Drittel der ungarischen Urlauber.
Eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Pulzus wiederum zeigte auf, dass die Ungarn einfach gar kein Geld auf der hohen Kante hatten, um sich Auslandsreisen zu genehmigen. Wer in die weite Welt hinaus verreisen wollte und konnte, hätte das im Sommer getan, die Reisebeschränkungen ab September trafen somit die wenigsten. Ganze acht Prozent der Befragten hatten Auslandsreisen für den Herbst gebucht, weitere zehn Prozent planten eine Reise. Die große Mehrheit gab jedoch andere Gründe an: 38 Prozent wagten sich wegen der Corona-Pandemie erst gar nicht ins Ausland, und sogar 41 Prozent hätten sich eine solche Reise von vornherein nicht leisten können. Das Wirtschaftsportal napi.hu als Auftraggeber der Umfrage merkte an, Eurostat hatte im vergangenen Jahr exakt die gleiche Zahl für Ungarn erhoben: Demnach sagten 41 Prozent der Ungarn schon vor einem Jahr, sie könnten sich aus finanziellen Gründen eine wenigstens einwöchige Auslandsreise nicht leisten – im EU-Durchschnitt waren es übrigens 29 Prozent der Befragten.
Überleben einfach nicht möglich
Von Januar bis Ende Juli sind die Bruttoumsatzerlöse des Gastgewerbes um 55 Prozent auf 137 Milliarden Forint eingebrochen. Diese Zahl verdeutlicht schonungslos, warum am vorigen Freitagnachmittag Hunderte auf dem Budapester Heldenplatz zusammenkamen, um zur Rettung der Tourismusbranche aufzurufen. Nach Darstellung der Organisatoren der Kundgebung sind in der jetzigen Lage mehrere Tausend Reisebüros, Busunternehmen, Fremdenführer sowie die im Hotelgewerbe, im Luft- und Schifffahrtsverkehr tätigen Unternehmen und ihre Mitarbeiter akut in ihrer Existenz gefährdet – grob geschätzt leben 400.-450.000 Menschen in Ungarn von diesen Berufen. Wenngleich die Veranstaltung als politikfrei deklariert wurde, erklang doch der Satz: „Das Inland darf nicht das neue Ausland werden!“ Ein Land brauche seinen Fremdenverkehr, die Mitarbeiter der Branche schaffen Werte bei der Betreuung der ausländischen Gäste sowie bei der Repräsentanz Ungarns im Ausland. Die Maßnahmen der Regierung zum Schutz der Wirtschaft hätten die Branche – so ein weiterer Vorwurf – weitgehend ausgeklammert. Ohne Beihilfen wird sie nicht überleben.
Der Präsident des Ungarischen Hotellerie- und Gaststättenverbandes (MSZÉSZ) formuliert ohne Zurückhaltung, seit die Regierung über Nacht die neuartigen Reisebeschränkungen beschloss, die zum 1. September wirksam wurden. Für Tamás Flesch hat die Regierung mit dieser Maßnahme den Auslandstourismus in Ungarn bis Mai 2021 nahezu komplett zum Erliegen gebracht. Diese sieben, acht Monate ohne staatliche Beihilfen zu überleben sei einfach nicht möglich. Pessimistisch zeigte sich der Experte freilich schon mitten im Hochsommer, wobei er seine Einschätzung damals auf Budapest beschränkte. Dessen Tourismussektor werde, so sagte Flesch Mitte August der Wirtschaftszeitung Világgazdaság, bis Ostern 2021 nicht wieder zu sich finden. Die Verluste für die Branche infolge der Corona-Krise bezifferte er damals auf 200-300 Mrd. Forint. Prognosen abzugeben sei noch verfrüht, doch dürfte das Tourismusgewerbe als Ganzes erst 2022 wieder auf Hochtouren kommen.
Regierung hat alles getan
Dabei hatte Ministerpräsident Viktor Orbán schon Mitte März, als die drastischen Maßnahmen zur Abwehr des Coronavirus beschlossen und die Notstandslage eingeleitet wurden, damit gerechnet, dass die Tourismussaison 2020 verlorengeht. Allerdings bat er damals die Wirtschaftsakteure, ihre Verluste zu summieren und den Kammern zu melden, damit die Regierung ihnen bei der Krisenbewältigung zur Seite stehen kann.
Diese Hilfestellung bezifferte Regierungssprecherin Alexandra Szentkirályi nun in einem Telefoninterview für die amtliche Nachrichtenagentur MTI auf mehrere 100 Mrd. Forint. Der Tourismussektor sei eine der Wachstumslokomotiven der ungarischen Wirtschaft in den vergangenen Jahren gewesen. Als die Corona-Pandemie ausbrach, habe die Regierung deshalb unverzüglich und sehr entschlossen gehandelt, um den Fortbestand der Unternehmen der Branche sicherzustellen. Es wurden Vergünstigungen auf Steuern und Abgaben sowie Zuschüsse für die Modernisierung von Unterkünften gewährt, Festivals gefördert und vergünstigte Kredite eingeräumt.
Die Sprecherin ordnete das allgemeine Kreditmoratorium unter die Branchenhilfen ein, ebenso wie Maßnahmen zum Schutz der Mietgebühren sowie die Aussetzung der Fremdenverkehrssteuer. Helfen sollte der Branche zudem eine Anhebung des Jahresrahmens der SZÉP-Urlaubskarte, deren Sozialbeitragssteuer zudem gesenkt wurde. Szentkirályi erwähnte auch das Kisfaludy-Programm, das die Modernisierung der Unterkunftsstätten mit Zuschüssen von insgesamt 150 Mrd. Forint vorantreibt – diese Gelder waren bereits im Haushaltsplan 2020 vorgesehen worden, also unabhängig von der Corona-Krise der damals noch erfolgsverwöhnten Branche beschieden worden.
Das Interview schloss mit einer bemerkenswerten Wendung: „Die Regierung hat alles in ihren Kräften stehende getan, um der wegen der Corona-Krise in eine schwierige Lage geratenen Branche zu helfen. Damit der Tourismus in der Hauptstadt wieder auf die Beine kommt, müssen alle mit Hand anlegen. Die Stadtführung von Budapest muss langsam etwas zur Rettung des Sektors tun, denn die Tourismuszahlen in der Hauptstadt sind ausgesprochen schlecht.“
Damit trat die Regierungssprecherin eine Angriffswelle gegen das von der Opposition geführte Budapester Rathaus los. Tags darauf schlug Kanzleramtsminister Gergely Gulyás in die gleiche Kerbe, als er auf der üblichen Regierungspressekonferenz erklärte: „Budapest ist die reichste Stadt im Lande, der Staat musste Kredite aufnehmen und das Defizit erhöhen, um der Wirtschaft zu helfen.“
Deshalb sei die Idee des Budapester Fidesz zu begrüßen, für die angeschlagene Wirtschaft in der Hauptstadt, insbesondere Unternehmen der Fremdenverkehrsbranche und Taxifahrer, ein Hilfspaket im Volumen von 50 Mrd. Forint zu schnüren. Der Ministerpräsident „ergänzte“ diese Idee am Samstagabend im staatlichen Nachrichtenfernsehen um den Hinweis, Budapest sitze auf einhundert Milliarden Forint an freien Mitteln.
Kein Geld übrig für Aufgaben anderer
Das sieht der Oberbürgermeister wenig verwunderlich ganz anders. Der Oppositionspolitiker Gergely Karácsony schrieb zu dem Fidesz-„Vorschlag“: „Wir haben nicht etwa 100 Mrd. Forint an Überschüssen, wir befinden uns mit 150 Mrd. Forint im Minus. Die Hauptstadt hat kein Geld übrig, um Aufgaben wahrzunehmen, die von der Regierung erledigt werden müssten.“ Karácsony erinnerte daran, dass Budapest neben schwindenden Steuereinnahmen durch die sogenannte Solidaritätssteuer gebeutelt wurde, also in der Krise noch mehr Geld an den Zentralhaushalt abführen muss.
„Wo das Geld ist, dort liegt auch die Verantwortung“, merkte er an. Der Oberbürgermeister hätte aber auch einen Vorschlag zu machen: Die Regierung sollte die Hälfte der „astronomischen Beträge“ aus dem EU-Wiederaufbaufonds im Verhältnis der Bevölkerungszahlen unter den Städten und Gemeinden verteilen, die „das Geld bei weitem nützlicher verwenden werden, als es die Regierung kann“.
Abgesehen von diesem innenpolitisch motivierten Schlagabtausch sollte der Fremdenverkehrsbranche zu denken geben, wie Orbán ihre Lage beurteilt. Auch wenn man nicht so tun könne, als sei nichts geschehen, wolle die Regierung die Funktionsfähigkeit von Sport, Kultur, Tourismus und Gastgewerbe bewahren. Es sei jedoch ein schwerwiegendes Problem, dass sich der Tourismus in Budapest nahezu ausschließlich auf Ausländer stützte und nun eingebrochen ist. „Jenes Geschäftsmodell von Hotels und Restaurants in Budapest, das auf mehr als 90 Prozent ausländischer Übernachtungen basierte, lässt sich nicht aufrechterhalten. Und zwar nicht nur in diesem Jahr, sondern auch im kommenden Jahr nicht. Budapest muss sein Geschäftsmodell modifizieren.“
Pläne der Mutigen durchkreuzt
Dabei hinterlässt die hinter uns liegende Sommersaison auch dort einen fahlen Beigeschmack, wo der boomende Inlandstourismus für volle Häuser (und Strände) sorgte. Die Hotels nahmen im Monat Juli knapp 30 Mrd. Forint und damit kaum mehr als die Hälfte der vor einem Jahr im gleichen Monat erzielten Erlöse ein. Und das, obwohl die Preise teils gehörig in die Höhe schossen.
Der Branchenverband MSZÉSZ wies am beliebtesten Urlaubsparadies der Ungarn, dem Plattensee, Preiserhöhungen von annähernd vierzig Prozent aus. Daraufhin konnten sich die ungarischen Hotels hinter Österreich und der Slowakei, aber noch vor Tschechien und Polen auf Platz 3 in der Region platzieren, was die Umsätze pro verfügbarem Zimmer angeht. Dieser Nettoerlös belief sich in Österreich auf 33,60 Euro, im deutlich kaufkraftärmeren Ungarn auf 23,40 Euro, in Tschechien nur auf 16,60 Euro.
Am Balaton realisierten die Hotels durchschnittliche Zimmerpreise von 26.350 Forint (knapp 75 Euro). Nach der schrittweisen Normalisierung des Inlandstourismus ab Pfingsten öffneten Hotels auf dem Lande mutiger die Tore. Bei ihrer Preisgestaltung wollten sie ganz offensichtlich die verlorenen Monate kompensieren. Neben dem Balaton zogen auch die Hotels der Region Nördliche Tiefebene kräftig an der Preisschraube.
Dort ging es um gut 36 Prozent bis auf einen Durchschnittszimmerpreis von 18.750 Forint (über 50 Euro) hinauf. In Budapest würden solche Preise häufig nicht einmal die Fixkosten decken – jedes vierte Haus blieb in der ungarischen Hauptstadt denn auch im Sommer geschlossen. Mancher Betreiber wollte mit neuem Schwung in die Nachsaison starten. Solche Pläne durchkreuzten die neuartigen Reisebeschränkungen aber radikal, noch bevor das Coronavirus zur großen zweiten Welle auflief.