Wirtschaftspolitik in Krisenzeiten
Schon wird der Gürtel enger geschnallt
Dieser Artikel ist Teil unseres Bezahl-Angebots BZ+
Wenn Sie ein Abo von BZ+ abschließen, dann erhalten Sie innerhalb von 12 Stunden einen Benutzernamen und ein Passwort, mit denen Sie sich einmalig einloggen. Danach können Sie alle Artikel von BZ+ lesen. Außerdem erhalten Sie Zugang zu einigen speziellen, sich ständig erweiternden Angeboten für unsere Abonnenten.
Drei Tage dauerte die auswärtige Regierungssitzung in Sopron. Im Ergebnis wurden die Bestimmungen zu den neuen Sondersteuern bis ins Detail ausgetüftelt und „nebenbei“ der Haushaltsentwurf für 2023 gebilligt.
Die neue Notstandslage unter Berufung auf den Ukraine-Krieg ermöglicht es der Regierung, mit Verordnungen unter Umgehung der Parlamentswege schnelle Entscheidungen zu treffen. Ganz klar unter diese Kategorie fallen die über acht Sektoren der Volkswirtschaft verhängten Sondersteuern, mit denen vollendete Tatsachen geschaffen werden sollten, bevor die eigentlichen Zielstellungen im Dialog mit den Lobby-Verbänden zerredet werden.
Diese Anpassung muss in Zeiten einer Krisen-Dauerschleife geschehen. Für die Erholung von der Corona-Pandemie blieben der Wirtschaft nur wenige Monate Zeit, woraufhin der eskalierende Bruderkonflikt zwischen Russen und Ukrainern die vermutlich schwersten je erlebten Turbulenzen an den Rohstoff- und den Energiemärkten heraufbeschwor. Die Zielstellungen der Regierung in dieser Situation liegen klar auf der Hand: Zuerst müssen die Staatsfinanzen ins Lot gebracht werden, anschließend soll Ungarn – ungeachtet der widrigen internationalen Umstände – auf eine solide Bahn nachhaltigen Wachstums gerückt werden.
Teuer erkaufter Konsumrausch
Das saisonal und nach Kalendertagen bereinigte Wachstum von acht Prozent im ersten Quartal war zu einem Gutteil Industrie und Bauwesen geschuldet, deren Aussichten für die kommenden Monate aber alles andere als rosig sind. Abgesehen davon steuerte der durch den Konsumboom angekurbelte Dienstleistungssektor schon jetzt den Hauptanteil bei. Der Privatverbrauch nahm von Januar bis März zweistellig zu, der Konsum von Dienstleistungen gar annähernd um ein Viertel! Dieser Effekt wurde dabei nicht nur durch Steuergeschenke teuer finanziert, sondern über dynamisch steigende Importe zudem teuer erkauft. Denn die Handelsbilanz ist längst gekippt und wird zum nächsten Klotz am Bein, wenn die Konjunktur am Leben gehalten werden soll.
Das dynamische Wirtschaftswachstum hätte es zwar rechtfertigen können, die von der Wirtschaftspolitik präferierten Schichten der Gesellschaft für die Verluste der Corona-Krise quasi zu entschädigen. Was sich jedoch seit ungefähr einem Jahr an den Energiemärkten abspielt, stellt die gesamte Politik der gesenkten Wohnnebenkosten ernsthaft in Frage. Die Energiekosten der Bevölkerung (aber auch der Unternehmen und der öffentlichen Einrichtungen) sowie die durch die neue russische Bedrohung provozierten Verteidigungsausgaben hatte vor einem Jahr niemand auf dem Schirm. Erschwerend kommt in dieser Krisenlage hinzu, dass sich der Fidesz im Streit mit den Institutionen der Europäischen Union möglicherweise verkalkuliert hat.
Brüssels neue Härte sorgt für klamme Kassen
Im diesjährigen Haushaltsplan waren Brüsseler Transfers in der Größenordnung von 6 Mrd. Euro eingestellt. Etwa vierzig Prozent dieser beträchtlichen Summe sollten aus dem Wiederaufbaufonds fließen – auf dieses Geld muss Budapest wegen der in den Augen von Brüssel existierenden ungarischen Rechtsstaatsdefizite wohl noch Monate warten. Der größere Teil der Gelder bezieht sich auf Projekte, die noch aus dem Finanzrahmen 2014-20 abzurechnen sind. Hier finden Überweisungen weiterhin statt (bis Ende April trafen insgesamt 750 Mio. Euro ein), sogenannte Korrekturen drohen aber auch bei diesen Geldern verstärkt. So stachen Brüssel die unproportional an Oligarchen verteilten Agrar-Beihilfen ebenso ins Auge, wie die Vergabe öffentlicher Großaufträge an immer die gleichen Firmen des „Orbán-Clans“. Diese Vorwürfe brachte die deutsche Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley von der SPD, im „Deutschlandfunk“ unverhohlen zur Sprache.
Für die Haushaltsplanung bedeutet dies im Klartext, dass Hunderte Milliarden Forint anderweitig beschafft werden müssen. Die Ende Mai angekündigten Sondersteuern sollen bereits in diesem Jahr 815 Mrd. Forint in die klammen Kassen spülen, im kommenden Jahr werden es schon allein inflationsbedingt noch mehr. Damit sind aber nur etwa vierzig Prozent des Gesamtpakets abgedeckt, das die fünfte Orbán-Regierung praktisch als erste Amtshandlung in Angriff nimmt. Der größere Packen ergibt sich daraus, dass die Ministerien rigorose Einsparungen im eigenen Verantwortungsbereich vornehmen müssen, während staatliche Großprojekte im Volumen von 1.150 Mrd. Forint um ein oder zwei Jahre aufgeschoben werden.
„Wir nehmen nicht die Gewinne“
Was die Sondersteuern anbelangt, werden auf Sektorenebene mal wieder in erster Linie die Banken geschröpft, die ca. 300 Mrd. Forint zur Krisenbewältigung beisteuern sollen. Größter Einzahler wird dessen ungeachtet die MOL-Gruppe sein, für die freilich der Begriff der „Zufallsgewinnsteuer“ am ehesten zutrifft. Von den Kursgewinnen des heute zu Dumpingpreisen gehandelten russischen Rohöls will der Staat rund 250 Mrd. Forint abzweigen, der Energiesektor zahlt inklusive Steuern auf Schürfrechte ähnlich wie die Banken insgesamt ca. 300 Mrd. Forint. Der Einzelhandel wird mit 60 Mrd. Forint zur Kasse gebeten, die Versicherungsbranche mit 50 Mrd. Forint. Des Weiteren müssen Unternehmen der Telekommunikations- und der Flugverkehrsbranche sowie im Pharmahandel tiefer in die Taschen greifen. Schließlich wird die Werbesteuer reaktiviert, die 15 Mrd. Forint im Jahr bringen soll. „Wir nehmen den betroffenen Unternehmen nicht ihre Gewinne, sondern ihre Übergewinne“, erläuterte Wirtschaftsminister Márton Nagy das Konzept hinter den Sondersteuern.
Die auf die rabiate Art geschöpften Gelder fließen in zwei Sonderfonds, die zum „Schutz der gesenkten Wohnnebenkosten“ sowie zur Finanzierung der steigenden Verteidigungsausgaben eingerichtet wurden. Ersterer Fonds, der im Klartext die amtlich fixierten Energiepreise für die privaten Haushalte auf dem seit 2013 stabil niedrigen Niveau halten soll, wird allein 700 Mrd. Forint erhalten. Damit hat die Orbán-Regierung die Katze aus dem Sack gelassen. Denn seit Monaten munkelten Kritiker der Politik der gesenkten Wohnnebenkosten, diese sei angesichts der Preissprünge für Erdgas und Elektroenergie nicht länger haltbar. Die staatliche Energieholding MVM würde längst Verluste in einer Größenordnung anhäufen, die ihren Betrieb gefährden könnten. Das galt erst recht, seit der Krieg in der Nachbarschaft jede Hoffnung begrub, die Energiebörsen könnten sich mal wieder beruhigen. Nun sollen also jene Unternehmen für die gedeckelten Preise geradestehen, die von den Krisen profitieren, indem sie Gewinne mitnehmen, die in keinem Geschäftsplan einkalkuliert waren.
Zwei Drittel kontra Marktgesetze
Die Botschaft des Fidesz lautet selbst noch inmitten des brutalsten Sparpakets im Nachwende-Ungarn, die Bevölkerung dürfe nicht die Lasten tragen. Die Marktgesetze kann aber auch eine mit Zweidrittelmehrheit regierende Partei nicht aushebeln. Je stärker sich die im Rahmen der Preisstopp-Maßnahmen festgezurrten Preise von den Marktpreisen entfernen, umso heftiger treten die Anomalien zutage.
An den Tankstellen galt das Preisdiktat bereits im Herbst. In seinen ersten Wochen war es jedoch nicht „effektiv“, weil die Rohölpreise gerade wieder sanken und der Forint erstarkte. Diese Trends kehrten sich im Winter um; seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat Großhändler MOL sogar mit Lieferengpässen zu kämpfen. Woher die kommen, lässt sich einfach erklären. Neben MOL soll heute nur noch OMV aus der Schwechater Raffinerie Kraftstoffe auf den ungarischen Markt liefern. Die übrigen Importeure zogen sich angesichts der unattraktiven Großhandelspreise aus dem Markt zurück. Gleichzeitig aber erlebte der Tanktourismus eine Blüte: Die extremen Preisunterschiede begründeten ein neues Geschäftsmodell „fliegender“ Händler, die den billigen ungarischen Sprit gewinnbringend in der Heimat verscherbeln, und nicht wenige ausländische Spediteure erwarteten von ihren Trucker-Fahrern, das Fahrzeug kurz vor der Grenze vollzutanken.
MOL müsste als verbliebener Großhändler an Stelle der gewohnten siebzig Prozent Marktanteile nun den kompletten Bedarf abdecken, der gleichzeitig aber um zwanzig bis zu dreißig Prozent in die Höhe schoss. Dem Tanktourismus schob die Regierung Ende Mai einen Riegel vor, indem die amtlich niedrig gehaltenen Preise fortan nurmehr bei Fahrzeugen mit ungarischem Kennzeichen gelten. Die schleichende Rückkehr der Marktpreise sorgt für allerlei Missverständnisse und neue Spannungen an den Tankstellen sowie natürlich für den nächsten vorprogrammierten Konflikt mit der EU.
Am Pfingst-Wochenende beschloss die Regierung einen weiteren Schritt, mit dem sie anerkennt, dass sich die künstlichen Preisdiktate auf Dauer nicht halten lassen. Die amtlichen Energiepreise sollen fortan nur noch für die Bevölkerung gelten, Kleinfirmen, kommunale Einrichtungen, Städte und Gemeinden müssen Marktpreise zahlen. Dieser Rückzieher könnte zehntausende Wirtschaftsakteure in die Pleite treiben, die von heute auf morgen ein Vielfaches der bisherigen Energierechnung aufbringen müssen.
Schuldendienst frisst Bildungsgelder
Während die Regierung mehr und mehr unhaltbare Positionen aufgibt, hält sie an anderen unnachgiebig fest. Gleich nach Pfingsten stellte Finanzminister Mihály Varga den Haushaltsplan für 2023 im Parlament vor. Dabei bekräftigte er das Defizitziel von 3,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP), das nach 4,9 Prozent für 2022 eine eindeutige Richtung vorgibt. Ein Wachstum von 4,1 Prozent könnte dabei helfen, die Neuverschuldung unter Kontrolle zu halten und die Staatsschulden bis Jahresende 2023 auf 73,8 Prozent am BIP zu senken. Eine mittlere Inflation von 5,2 Prozent scheint derweil zu niedrig angesetzt, nachdem die ersten Experten in ihren Schätzungen für das laufende Jahr eine zweistellige Teuerungsrate nicht mehr ausschließen wollen. Je höher die Inflationsspitze 2022 ausfällt und je länger sich diese Phase der explodierenden Preise hält, umso schwieriger wird es sein, zu normalen Preisverhältnissen zurückzukehren.
Die zwei genannten Sonderfonds werden im kommenden Jahr mit 670 Mrd. Forint (Energiekosten) respektive 840 Mrd. Forint (Militär) ausgestattet. Der Verteidigungsfonds erhält 2023 also bereits mehr Geld, als der Fonds zur Absicherung der niedrigen Nebenkosten. Damit will Ungarn seinen NATO-Verpflichtungen vorfristig gerecht werden. In der Haushaltsdebatte ab Ende Juni werden sich die Oppositionsparteien vermutlich weniger an den Sonderfonds oder aber den zu deren Deckung beschafften 1.400 Mrd. Forint an Sondersteuern stören. Im Mittelpunkt der Kritik dürften eher das um gerade mal 200 Mrd. Forint steigende Bildungsbudget oder die um ganze 100 Mrd. Forint steigenden Gesundheitsausgaben stehen.
Dabei geht das Finanzressort von einem Bruttoinlandsprodukt um 68.000 Mrd. Forint (175 Mrd. Euro) aus, und einem Rahmenbetrag des Staatshaushalts von 28.000 Mrd. Forint. Während im Angesicht einer zweistelligen Inflation Bildung und Gesundheit zusammengenommen ca. 300 Mrd. Forint mehr an Mitteln erhalten, muss das Land für den Schuldendienst allein im laufenden Jahr 400 Mrd. Forint mehr als zuletzt aufwenden. Neben der Inflation ist dies dem schwachen Forint und der ausbleibenden Einigung mit Brüssel zu verdanken. Die nämlich zwingt Ungarn, mehr Staatsanleihen zu begeben, deren Zinsniveau sich derzeit wieder über sieben Prozent bewegt.
„Das größte Sparpaket aller Zeiten“
Im Parlament sprach angesichts der eingeführten Restriktionen zuerst die Momentum-Bewegung von einem „Orbán-Sparpaket“. Die Sozialisten meinten, der Fidesz treibe das Land in eine Existenzkrise. Ginge es nach der Opposition, würden die Sondersteuern über Banken und Versicherungen hinaus ganz sicher auf Casinos und Baufirmen, darunter insbesondere die Profiteure staatlicher Großaufträge, ausgeweitet. Der MSZP-Vorsitzende Bertalan Tóth erinnerte daran, dass die reichsten einhundert Ungarn ihr Vermögen allein im vergangenen Jahr wieder um 650 Mrd. Forint (1,75 Mrd. Euro) vermehren durften. „Was bitte schön ist das, wenn nicht Übergewinne?“, fragte er in der Parlamentsdebatte.

Für den Budapester Oberbürgermeister Gergely Karácsony ist dies das größte Sparpaket aller Zeiten. Das Ende der amtlichen Energiepreise bringe zahlreiche Kleinfirmen und Städte an den Rand des Ruins. Allein bei den Budapester Verkehrsbetrieben dürften die Mehrkosten im laufenden Jahr 20 Mrd. Forint erreichen, nachdem für die Kommunalbetriebe nun wieder Marktpreise für Kraftstoffe und Energie gelten. Dabei hatten die Städte, die seit Beginn der Corona-Krise auf die Hälfte der Einnahmen aus der Gewerbesteuer verzichten mussten, die Regierung um Entlastungen gebeten – wegen der Schieflage des Staatshaushalts werden sie nun aber zusätzlich belastet.
Am Scheideweg
Von Regierungsseite wird derweil ein „Hurra-Optimismus“ verkündet, der bisweilen bizarr anmutet. Bis Ende des Monats muss über die Zukunft der Preisstopp-Maßnahmen entschieden werden, doch schon jetzt verkünden die Minister und Staatssekretäre im Chor, diese Maßnahmen hätten sich bewährt, man wolle zum Schutz der Familien gerne daran festhalten.
Dabei wäre eine Anpassung an die Marktpreise aus oben genannten Gründen vernünftiger. Die könnte an den Tankstellen stufenweise geschehen, um Preisschocks zu vermeiden. Das lässt sich gar nicht mehr anders bewerkstelligen, denn von den bei 480 Forint gedeckelten Spritpreisen hat sich die bittere Realität mittlerweile um rund dreihundert Forint entfernt. Man glaubt beim Fidesz nicht im Ernst, dass Europa noch einmal auf ein Preisniveau zurückkehren wird, wie es die künstlich fixierten Preise für Benzin, Strom und Gas garantieren wollen. Billige Energiepreise lassen sich weder mit Energiesanktionen gegen Russland noch mit den Klimazielen vereinbaren. Ungarn steht am Scheideweg, ob es will oder nicht.
Jeder einzelne Frao oder Mann, Alt und Jung soll sparen. Es ist in Kriesenzeit absolut normal..
Mit Benzin, Heizung, Elektrizität, Lebensmittel. Und mit vielen anderen Sachen auch. Sonst treibt jeder die Inflationsrate selbst ein wenig hoch.
Lieferzeiten funktioniert nicht, Energie wird nach dem Krieg auch hoch bleiben. Lebensmittel wegzuwerfen ist eine Sünde.
Wenn Ungarn die zweidickste Bevölkerung hat, soll nachdenken bei Essen und Bewegung.