Prognose der Raiffeisen Bank
Das zweite Jahr der Corona-Krise
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In ein neues Jahr gehen wir gewöhnlich mit der freudigen Erwartung, es werde wieder einmal besser als das abgelaufene Jahr ausfallen. Logischerweise kann sich eine solch übersteigerte Erwartungshaltung nicht immer bewahrheiten. Dass aber Analysten ihre Prognose für die kommenden Monate ausgehend von der Lageeinschätzung nach einem besonders schwarzen Corona-Jahr mit Zweifeln beladen, hat schon etwas von Weltuntergangsstimmung an sich. Der fachliche Stab der Raiffeisen Bank Hungary Zrt. stellte für Ungarn dennoch die bange Frage an den Anfang seiner Betrachtung: „Wird es wirklich besser?“
Dabei hatten die Politiker proklamiert, ein effizienter Impfstoff werde der Corona-Pandemie ein Ende bereiten. Dank langjähriger Forschungen auf dem Gebiet der Coronaviren, modernisierter Verfahrenswege und gebündelter Anstrengungen gingen wir tatsächlich sogar mit mehreren Impfstoffen ins neue Jahr, die eine Erlösung von dem globalen Übel versprechen. Da keimte zurecht Hoffnung auf, die Einschränkungen im öffentlichen Leben finden über kurz oder lang ein Ende, die Wirtschaft darf endlich aufatmen, das Leben normalisiert sich. Einen Monat später müssen wir sehen, dass die Impfkampagne schwerfällig anläuft und die Skepsis nicht weichen will – so aber wird eine ausreichende Durchimpfung der Bevölkerung hinausgezögert. Infolgedessen verlängert sich der Schwebezustand: Die Politik hält die Gesellschaft unverändert an der virtuellen Leine, welche sie je nach der aktuellen Infektionslage mal kürzer, mal länger fasst.
Kurve streckt sich in die Länge
In der durchschnittlichen Risikobewertung gehen die Raiffeisen-Experten von vier Prozent Wachstum aus, im optimistischen Szenario – mit einer deutlich beschleunigten Impfkampagne – könnten durchaus auch sechs Prozent drin sein, bei einer negativen Entwicklung mit weiteren Monaten Zeitverlust aber vielleicht nur zwei Prozent. Nachdem die ungarische Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr ersten Hochrechnungen zufolge um 6,4 Prozent geschrumpft ist, dürfen demnach nur noch die kühnsten Optimisten an eine V-Kurve der Erholung glauben. Was sich realistischer für die Jahre 2020-22 abzeichnet, erinnert an das Nike-Logo.
Mit vier Prozent Wachstum in 2021 holt Ungarn im Wettbewerb aber kaum auf. Gerade erst hat auch der Präsident der Ungarischen Nationalbank (MNB), György Matolcsy, eingestehen müssen, dass es mit dem „Überholen in der Kurve“ im Jahr eins der Corona-Krise nichts wurde. Das machte er an durchwachsenen Ergebnissen bei der Abwehr der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie fest. Bestnoten vergab der MNB-Präsident für den Schutz der Arbeitsplätze, den auf hohem Niveau gehaltenen Privatkonsum und die stabilen Finanzsysteme. Das Feld der Investitionen sah er allen staatlichen Förderprogrammen zum Trotz derweil sehr kritisch, bei Investitionen der öffentlichen Hand sei die Wirtschaftspolitik nach seinem Dafürhalten geradewegs gescheitert. „Die Bravourleistung blieb aus, wir konnten nicht in der Kurve überholen. Aber das Rennen geht weiter, die Kurve streckt sich mehr in die Länge und das Terrain ist offensichtlich schwieriger, als es anfangs schien“, schrieb Matolcsy in einem Meinungs-Beitrag für das Wirtschaftsportal novekedes.hu.
Aus dem Hinweis auf die Spanische Grippe leitete er ab, die (Pandemie-) Kurve könne sich über Jahre hinziehen, es sei also noch reichlich Zeit zum Überholen vorhanden. Dazu bedürfe es allerdings eines beschleunigten, zentralisierten Investitionsmodells des Staats mit unverzüglicher Rückkopplung, aber auch privater Investitionen der Geschäftssphäre und der Haushalte zur Untermauerung der großangelegten staatlichen Vorhaben.
Angst weicht Zuversicht
In der Tat verlor Ungarn im vergangenen Jahr im internationalen Wettbewerb eher an Boden. Obgleich das Haushaltsdefizit auf rund neun Prozent hochgetrieben wurde und die Arbeitslosigkeit in der offiziellen Statistik nur um einen Prozentpunkt zulegte, schrumpfte die Wirtschaftsleistung nach den vorläufigen Daten heftiger als beispielsweise in Deutschland, während sich Polen mit minus dreieinhalb Prozent ungefähr so respektabel halten konnte, wie die Vereinigten Staaten von Amerika unter dem viel gescholtenen Donald Trump.
Was die Aussichten für das angebrochene Jahr betrifft, macht Ungarn im regionalen Wettstreit bestenfalls gegenüber Tschechien ein wenig Boden gut. Der von Ministerpräsident Viktor Orbán quasi als Pflichtübung ausgegebene Zwei-Punkte-Vorsprung gegenüber dem EU-Durchschnitt beziehungsweise der Eurozone fällt im zweiten Jahr in Folge ins Wasser. Nach aktuellem Stand scheint Ungarn zu solchen „Überflieger“-Leistungen frühestens 2022 wieder imstande – die Experten der Raiffeisen Bank setzen das hiesige Wirtschaftswachstum dann auf sechs Prozent an.
Was also verspricht uns das Jahr 2021? „Es ist der zweite Abschnitt der Corona-Krise, in der Angst, Hoffnungslosigkeit und Verunsicherung dank der Impfstoffe durch Zuversicht und eine Neuplanung abgelöst werden“, sagt Raiffeisen-Chefanalyst Zoltán Török. In diesem Sinne werde 2021 ganz sicher markant besser ausfallen, als das 2020 konnte. Den Hemmschuh bilden neben der unzureichenden Verfügbarkeit jene Impfgegner, die ihre Angst vor dem Virus in eine Angst vor der Impfung umwandeln. Weil Wirtschaft und Gesellschaft erst wieder richtig durchstarten können, wenn die sogenannte Herdenimmunität erreicht ist, befürchtet Török, dass diese Problematik in naher Zukunft einen Stellenwert einnimmt, der uns nicht lieb sein kann.
Ernüchterung ob schleppender Lieferungen
Im Grunde genommen hat sich die Europäische Union bei ihren Lieferverträgen mit Pfizer/BioNTech, Moderna, AstraZeneca/Oxford und den anderen mehr als zur Genüge abgesichert, bestellte die Brüsseler Kommission doch insgesamt 1,4 Milliarden (!) Impfdosen. Die meisten Hersteller schreiben zwei Impfdosen für das Erreichen der Immunität vor, Johnson & Johnson nur eine – allein bei dieser US-Firma hat sich die EU 200 Mio. Impfungen gesichert. Voraussetzung bei all den Bestellungen ist natürlich, dass sich die Pharmakonzerne auch tatsächlich an ihre Lieferzusagen halten. In dieser Hinsicht brachte der Januar nach einem hoffnungsvollen Lieferstart am Jahresende reichlich Ernüchterung. Derzeit überbieten sich die Hersteller in Beteuerungen, die Rückstände so schnell es irgendwie geht aufzuholen.
Es liegt in ihrem eigenen Interesse, denn sie wollen ihren enormen Entwicklungsaufwand nicht zum Fenster hinauswerfen. Allein Pfizer soll 2 Mrd. USD in das Projekt Corona-Impfstoff gesteckt haben, am Ende stand aber immerhin ein laut Zulassungsbehörden effizientes Produkt. Andere Größen der Branche wie Sanofi und Merck haben die Segel gestrichen beziehungsweise bestimmte Entwicklungsansätze aufgegeben. Wie wirksam die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 und seine Mutanten am Ende wirklich sind, muss der Praxistest mit Bevölkerungsmassen erst noch zeigen. Unklar ist dabei auch, wie lange die Immunität der geimpften Personen gewährleistet sein wird und wie es genau mit den Nebenwirkungen aussieht.
Unabhängiger bei künftigen Pandemien
Diese Vielzahl an Unwägbarkeiten und der Eindruck vom Chaos um die Beschaffung von Schutzausrüstungen im vorigen Frühling haben die Orbán-Regierung veranlasst, in den Aufbau eigener Kapazitäten zu investieren. Erst ging es um Beatmungsgeräte, die zum Beispiel von der TU Budapest entwickelt und von einer dem Innenministerium unterstellten Firma hergestellt wurden. Von diesem Erfolgsprojekt hört man seit Monaten nichts mehr. So bleibt völlig im Dunkeln, wie viele Geräte der Staat dieser Firma letztlich abkauft, nachdem man selbst auf einem Berg eiligst beschaffter Beatmungstechnik aus Fernost sitzen geblieben ist. Die Opposition möchte solchen Fragen zu gerne in Sonderausschüssen des Parlaments nachgehen, der Fidesz aber verschanzt sich hinter seiner Zweidrittelmehrheit.
Eine Lohnfertigung von Impfstoffen in einem nicht näher benannten ungarischen Werk wurde im Spätherbst in die Debatte eingeworfen. Ungarn bot sich dabei als Distributionspartner für den russischen Impfstoff „Sputnik V“ an. Was aus dieser Idee geworden ist, findet keinen Widerhall in der offiziellen Kommunikation; still ruht der See auch hier. Die Herstellung eigener Impfstoffe ist Gegenstand laufender Projekte in Debrecen und in Pécs (letzteres in Kooperation mit der Biotechnologiefirma CEBINA GmbH in Wien, die von der Ungarin Eszter Nagy geführt wird).
Wie viel Steuergelder investiert werden, ist unbekannt. Was zählt, ist der politische Wille, die Unabhängigkeit des Landes bei künftigen Pandemien zu stärken. Der Virologe Professor Ferenc Jakab von der Universität Pécs leitet die eigenständige Aktionsgruppe für Corona-Forschung, die im Krisenstab unmittelbar bei Ministerpräsident Viktor Orbán angesiedelt ist. Vor wenigen Tagen gab er bekannt, die Phase der Tierversuche sei erfolgreich abgeschlossen worden, der ungarische Antigen-Impfstoff könne nun erstmals an gesunden Menschen erprobt werden. Eine Lösung in der jetzigen Pandemielage wird dies nicht bringen, doch das Leben geht weiter; die Forscher rüsten sich bereits für kommende Herausforderungen.
Das Automobil wird abgelöst
All das in die Sprache der Wirtschaft übersetzt stuft Chefanalyst Török 2021 als ein weiteres Krisenjahr ein. Ganz klar trifft dies für Tourismus und Gastgewerbe sowie für die Veranstaltungsbranche zu. Die Makro-Statistiken werden derweil ein deutlich besseres Bild zeichnen, ganz besonders eindrucksvoll im II. und im IV. Quartal. Denn deren Basiswerte sind katastrophal, ausgehend von den im Frühling sowie im Spätherbst 2020 verhängten Notstandslagen. Das aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wirtschaftsleistung und das Lebensniveau schwere Dämpfer erhalten haben.
Als wahrscheinlichstes Szenario zeichnet der fachliche Stab der Raiffeisen Bank auf, dass die breite Impfkampagne ungefähr zur Jahresmitte über ihren Höhepunkt hinaus ist. Die Regierung wird die Beschränkungen des öffentlichen Lebens zwar schon im I. Quartal schrittweise lockern, der große Befreiungsschlag dürfte aber die Durchimpfung einer Bevölkerungsmehrheit voraussetzen. Im Tourismus wird das II. Halbjahr eine Rückkehr zur Normalität bringen – zunächst erholt sich der Inlandstourismus, gefolgt von ausländischen Geschäfts- und Einzeltouristen. Ungefähr Ende 2021, Anfang 2022 wird die ungarische Wirtschaft wieder an dem Punkt angelangt sein, den sie vor einem Jahr notgedrungen aufgeben musste. Das trifft – wie Török betont – aber vornehmlich auf makroökonomischer Ebene zu; die Realität stellt sich für viele weniger rosig dar.
Eindeutiger „Champion“ des vergangenen Jahrzehnts war hierzulande die Automobilindustrie, 2020 stieg innerhalb der Elektroniksparte das Teilsegment Herstellung von Batterien für Elektroautos zum neuen Star auf. Um eine übertriebene Abhängigkeit von diesen Bereichen zu verhindern, setzt die Regierung neuerdings verstärkt darauf, Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie in Position zu bringen. Török sieht hier außerordentlich ehrgeizige Pläne, wobei die agrartechnischen Gegebenheiten und Traditionen eher die Frage erlauben, warum die Politik dieses wichtige Standbein in den letzten Jahrzehnten so stiefmütterlich behandelte.
Der Einsatz von rund 4.000 Mrd. Forint zusätzlich bis 2027 könnte bei einer Rückkehr zur früher erzielten Wertschöpfungs-Effizienz das ungarische Bruttoinlandsprodukt zu laufenden Preisen um 7.000 Mrd. Forint mehren. Mit anderen Worten würde das gesamte Spektrum des Agrarsektors die Wirtschaftsleistung um weit mehr als ein Zehntel anzuheben vermögen, ganz zu schweigen von dem komplexen Thema der gezielten Entwicklung des ländlichen Raums.