Aktionsplan zum Neustart der Wirtschaft
Orbán: „Wir zwingen das Virus in die Defensive“
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Der Aktionsplan zum Schutz der Wirtschaft ist offiziell beendet. Nichts weniger als das verkündete Ministerpräsident Viktor Orbán zum Jahresauftakt der Ungarischen Industrie- und Handelskammer (MKIK), der mit Rücksicht auf die Corona-Pandemie in diesem Jahr online abgehalten wurde. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen fing bei seiner Live-Übertragung drei Personen auf dem Podium ein, neben dem Regierungschef Finanzminister Mihály Varga und Kammerpräsident László Parragh. Nicht dabei war in diesem Jahr Notenbankpräsident György Matolcsy.
Früher verteidigte Orbán den Ökonomen gegen Angriffe des oppositionellen Lagers, indem er Matolcsy als seine rechte Hand bezeichnete. Nun müsste er sich selbst gegen harsche Kritiken verteidigen, die Matolcsy beinahe in wöchentlicher Regelmäßigkeit in den Spalten eines Wirtschaftsportals zu Papier bringt. Der oberste Währungshüter greift gerne zur Feder, um seine Gedanken zu Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert darzulegen. Erstaunlicherweise gehen diese Gedanken nicht unbedingt konform mit dem, was der Fidesz nach zehn Jahren permanenten Regierens umsetzt und plant. Orbán behandelt den schwelenden Konflikt auf die ihm eigene Weise: er schweigt sich aus. Den Namen des langjährigen Weggefährten und guten Freundes nimmt er gar nicht erst in den Mund.
Mittendrin in Phase eins
Warum diese Reibereien von Interesse sind? Allein das Wissen darum hilft, die schrille Regierungs-PR vom „besten Krisenmanagement“ in der Europäischen Union ins rechte Licht zu rücken. Denn während die Orbán-Regierung nunmehr den Übergang vom „Schutz der Wirtschaft“ zum „Neustart der Wirtschaft“ deklariert, versäumt sie nicht, den Bürgern einzuhämmern, niemand sei so geschickt mit dem Coronavirus fertiggeworden, wie der Fidesz im Ungarnland. Die Botschaft lautet: Arbeitsplätze und Menschenleben sind gerettet, die Wirtschaft übern Berg, jetzt wird zum großen Sprung angesetzt.
Den Neustart stellt sich der Regierungschef in drei Phasen vor. „Bisher attackierte uns das Coronavirus, und wir mussten uns verteidigen. Jetzt ergreifen wir die Initiative und zwingen das Virus in die Defensive“, sagte Viktor Orbán auf der Kammertagung mit dem Hinweis, die erste Phase des neuen Aktionsplans sei im Grunde genommen schon zu Jahresbeginn angelaufen. Im April folge die zweite, im Juli die dritte Phase, deren Abschluss er für den Oktober vorsieht. Als Meilenstein der ersten Phase gilt, dass die Mehrwertsteuer im Wohnungsneubau neuerlich auf fünf Prozent gesenkt wurde, Bürger für die Modernisierung ihres Wohnraums bis zu 6 Mio. Forint als vergünstigtes Darlehen aufnehmen dürfen – von denen der Staat maximal drei Millionen als Zuschuss erstattet –, und dass mit der Ausschüttung des ersten Viertels der 13. Monatsrente begonnen wurde.
Der stärkste Bündnispartner Brüssels
Orbán nannte auch einen vierten Punkt, die Befreiung der jungen Leute unter 25 Jahren von der Einkommensteuer. Diesen Punkt kündigte er tatsächlich in den ersten Wochen des neuen Jahres an, wenngleich die Befreiung erst ab 2022 gelten wird. Der fünfte Punkt beinhaltete eine aktuelle Entscheidung, praktisch ein Geschenk, das er zur Präsentation auf der Kammerveranstaltung mitgebracht hatte. „Gestern hat die Regierung die Einführung einer neuartigen Kreditkonstruktion beschlossen. Wir gewähren jenen kleinen Firmen, die ohne Startkapital nicht zum Wiederanlauf ihrer Tätigkeit imstande wären, einen zinsfreien Kredit von 10 Mio. Forint“, sagte Orbán kurz angebunden und fuhr im Text fort.
Die zweite Phase des Plans für den großen Aufschwung machte der Ministerpräsident am Hochschulwesen fest. Für den grundlegenden Umbau der Universitäten sollen ab April 1.500 oder „besser noch“ 2.000 Mrd. Forint fließen. Ab Juli würden dann Themen wie grüne Energien, Kreislaufwirtschaft und vollständige Digitalisierung der Wirtschaft in den Fokus rücken. Hier verzichtete Orbán auf jede konkrete Aussage; nicht einmal einen Finanzrahmen ordnete er der dritten Phase zu.
Vermutlich speist sich diese Unsicherheit aus dem Umstand, dass der Zufluss der EU-Fördermittel ungewisser ist denn je. Ganz sicher nicht zufällig schloss der Ministerpräsident den Gedankengang zu den drei Phasen des Aktionsplans mit der Anmerkung ab, dass Ungarn seine Position zum traditionellen Familienmodell und zur Migrationspolitik auch gegen alle Attacken aus Brüssel nicht aufgeben will, „in gewissen Themen wie der Umweltwirtschaft oder der Digitalisierung aber gerne der stärkste Bündnispartner Brüssels sein möchte“.
Gut angelegte Aufbaugelder
Den Dauerkonflikt mit den EU-Institutionen in Brüssel hat gerade wieder die Nachrichtenagentur Reuters auf die Tagesordnung gerückt. Ein internes Material der EU-Kommission von Ende Januar hätte den schwachen Wettbewerb und fehlende Transparenz im ungarischen System der öffentlichen Auftragsvergaben angeprangert. Die Auszahlung von Geldern des Wiederaufbaufonds könnte deshalb von Korrekturen des Systems abhängig gemacht werden. Damit ließe sich erklären, warum Orbán seinem jüngsten Aktionsplan keine weiteren Summen zuordnen wollte.
Nichtsdestotrotz dementierte Kanzleramtsminister Gergely Gulyás umgehend gegenüber der amtlichen Nachrichtenagentur MTI: „Wir haben weder eine offizielle noch eine informelle Anfrage der EU-Kommission zum Thema der öffentlichen Beschaffung erhalten.“ Er forderte Brüssel auf, derartige „Zeitungsenten“ unverzüglich zu dementieren, weil andernfalls das öffentliche Vertrauen untergraben werden könnte. Unabhängig davon war es den linksliberalen Medien natürlich nicht entgangen, dass die Orbán-Regierung Ende Januar gleich drei Beschlüsse fasste, mit denen die Technik der öffentlichen Auftragsvergaben in wichtigen Elementen nachjustiert wird.
Die ansonsten so auf ihre Nationalen Konsultationen bedachte nationalkonservative Regierung hat die Geldmittel des Wiederaufbaufonds längst „gut angelegt“. Eigentlich wollte Budapest im Streit um den Rechtsstaatsmechanismus im Zeichen einer politischen Geste an Italien ja ganz auf die Teilnahme an diesem Sonderfonds verzichten, doch weder EU-Rat noch Europäisches Parlament spielten bei dieser allzu durchsichtigen Masche mit. So kam es zur Verabschiedung des historischen EU-Haushaltsrahmens mitsamt Corona-Hilfsfonds, ohne dass Ungarn die erhoffte Entlastung im Rechtsstaatsverfahren zugebilligt worden wäre.
Im Gegenzug verplante Budapest schon mal eifrig die Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds, frei nach dem Motto: wenn schon, denn schon. Kritiker meinen, dies geschehe unbeeindruckt vom Wunsch der Ideengeber von „Next Generation EU“, über die Ausrichtung des Aufbaupakets in einer breit angelegten gesellschaftlichen Debatte zu entscheiden. Allerdings haben insgesamt zwei Drittel aller EU-Mitgliedstaaten ihre konkreten Vorstellungen zur Verwendung der Hilfsgelder für gezielte Investitionen und Reformen dargelegt, nur in drei europäischen Hauptstädten sah man die Zeit hierfür noch nicht reif.
Den Rücken freihalten
Der Ungarn im Zeichen der europäischen Solidarität zustehende Rahmenbetrag wird sich wohl zwischen 5.500 und 6.000 Mrd. Forint (aus Zuschüssen und langfristigen Krediten) bewegen. Die weiter vorne durch Orbán erwähnten 1.500-2.000 Mrd. Forint für die Universitäten sollen bereits aus diesem Topf gespeist werden. Etwa ein Drittel der zusätzlichen EU-Gelder würde Ungarn in die Verkehrsinfrastruktur stecken, rund 1.000 Mrd. Forint in das Gesundheitswesen. Sollte die Regierung mit ihren Beschlüssen zu Modifizierungen bei der Abwicklung öffentlicher Aufträge tatsächlich Brüssel entgegenzukommen versuchen, wie das Beobachter vermuten, dürfte sie das mit dem Kalkül tun, sich den Rücken freihalten zu wollen. Einem kooperierenden Mitgliedstaat gegenüber zeigt sich die Kommission eher nachsichtig, was die Erwartungen an den gesellschaftlichen Dialog angeht. Erst recht, wenn die Regierung klar umrissene Konzepte auf den Tisch legen kann.
Da ist der Visionär Orbán zweifellos manch anderen EU-Regierungschefs voraus. Es sei nur an die ungarische Agrarstrategie zur Modernisierung der Nahrungsmittelindustrie und des ländlichen Raums bis 2030 erinnert, mit der Budapest aufwartete, kaum dass der Finanzrahmen 2021-2027 der EU stand. Beim kategorischen Bestreiten der von Reuters lancierten Vorwürfe ließ der Kanzleramtsminister zumindest durchblicken, man wolle öffentliche Ausschreibungen mit nur einem Bieter künftig unter 15 Prozent drücken. Hier fordert die Kommission beispielsweise Veränderungen in der gängigen Praxis der Ungarn, wonach ungefähr jedes vierte Verfahren mangels Mitbewerbern nur davon handelt, ob ein allein angetretener Bieter den Zuschlag erhält oder nicht.
Hohes Risiko der Blockade
Andererseits wird die Eile der ungarischen Regierung vor dem Hintergrund verständlich, dass ihr das Europäische Parlament im Nacken sitzt. Dort will die Mehrheit der linken, liberalen und grünen Fraktionen den Rechtsstaatsmechanismus schnellstmöglich aktivieren, um bei festgestellten Verstößen gegen Grundwerte der Gemeinschaft (wie sie nach dem politischen Urteil besagter Mehrheit im Falle Polens und Ungarns vorliegen) den Geldfluss aus Brüssel zu blockieren. Noch nicht hundertprozentig geklärt ist dabei, ob dies rückwirkend bereits für Gelder gelten könnte, die Ungarn aus dem Finanzrahmen 2014-2020 noch nicht abgerufen hat. Im Falle des neuen Haushalts besteht in jedem Fall ein hohes Risiko der Blockade. Die Orbán-Regierung schätzte dieses Risiko am Jahresende selbst so hoch ein, dass der Finanzminister und die Zentrale zur Verwaltung der Staatsschulden (ÁKK) angewiesen wurden, die Fremdwährungsfinanzierung des Landes bis 2023 abzusichern.
In Zeiten einer anhaltenden Geldschwemme an den Märkten gelang dies ohne größere Anstrengungen. Dennoch wird Orbán die EU-Gelder auch weiterhin liebend gerne in seine Zukunftspläne einbinden wollen. Bis 2027 stehen Ungarn mehr als 50 Mrd. Euro zu, darunter rund 20 Mrd. Euro aus den Kohäsionsfonds und deutlich über 10 Mrd. Euro im Politikbereich der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Da der Finanzrahmen 2018 kalkuliert wurde, sind es zu laufenden Preisen schon nach heutigem Stand etwa 10-20 Prozent mehr, die das Land verausgaben könnte. Ganz zu schweigen von der schleichenden Forint-Abwertung, die den Spielraum der Regierung nochmals ausweitet.
Schließlich wäre da noch der Eigenanteil zu nennen, den die Gemeinschaft bei vielen Projekten voraussetzt. In der Kohäsionspolitik sind dies gewöhnlich 15 Prozent, bei den GAP-Geldern schwankt die Eigenleistung stärker. Letztere Gelder dürften zudem vom ideologischen Streit mit den EU-Institutionen am ehesten verschont bleiben. Deshalb sorgte die Ankündigung von Agrarminister István Nagy Mitte Januar für Furore, die Regierung wolle die Förderanteile auf 80 Prozent aufstocken. So werden der Landwirtschaft, der angeschlossenen Nahrungsmittelindustrie und allgemein dem ländlichen Raum Gelder von historischen Dimensionen zufließen.
Kraft und Mut aufbringen
Weil Orbán das große ganze Bild überschauen will, übersieht er Details wie die unangenehmen Nebenwirkungen der Corona-Krise. Die besagten zehn Millionen Forint sollen jenen Kleinunternehmern als Anschubfinanzierung dienen, deren Reserven nach Monaten des Stillstands erschöpft sind. Weil der Ministerpräsident jedoch jede Beihilfe rigoros ablehnt, wird es das Geld nur als Darlehen geben, immerhin zinsfrei und mit einer Laufzeit von zehn Jahren, wobei die Tilgung für die ersten drei Jahre ausgesetzt ist. „Diese Regierung hat der Versuchung widerstanden, in Zeiten der Krise zu einem Wirtschaftsmodell zurückzukehren, das auf Beihilfen basiert“, gab Orbán seinen Denkansatz unnachgiebig zum Besten.
Ganzen Branchen wurde seit Ausbruch der Corona-Pandemie über lange Monate hinweg von den Behörden die Ausübung ihrer Tätigkeit untersagt. Wenn der Staat Lohnzuschüsse gewährte, verrechnete das Finanzamt diese sogleich mit bestehenden Schulden. Sicher: Behördenwillkür wurde aus Angst vor dem dämonisierten Coronavirus länderübergreifend angewandt, und das Unternehmertum wurde von der Politik überall mehr oder weniger im Stich gelassen. Am ungarischen „Modell“ sticht jedoch ins Auge, dass der Staat jenen unter die Arme greift, die noch die Kraft und den Mut für weitere Investitionen aufbringen. Da wurden mehrere 100 Mrd. Forint eingesetzt, um Arbeitsplätze in Betrieben zu sichern, die nach dem ersten Corona-Schock längst wieder zum Alltagsgeschäft zurückgekehrt sind. Krisenbranchen wie das Gastgewerbe sollten 27 Mrd. Forint als Lohnzuschüsse erhalten, wenn auch sie ihre Mitarbeiter weiter bezahlen. Allerdings ganz ohne Arbeit im Lockdown und auch nur zur Hälfte als Zuschuss, denn den Rest sollten die Unternehmer aus ihren Rücklagen dazutun.
Kürzlich artikulierte sich der Frust der Gastwirte auf dem Heldenplatz in Budapest, wo Hunderte trotz Versammlungsverbots zusammenkamen. Die Polizei verteilte saftige Geldbußen, aber endlich kam es dem Premier zu Ohren, dass von den siebenundzwanzig bislang tatsächlich nur sieben Milliarden zugeteilt worden waren. Orbán wird wohl mit der Faust auf den Tisch gehauen haben, so dass die Milliarden nun unbürokratisch fließen sollen. Gewisse Zuschüsse gibt es halt auch in dem auf Arbeit basierenden Wirtschaftsmodell.
Besser ist natürlich dran, wer investieren kann. Hunguest Hotels als eine der größten Hotelketten des Landes zum Beispiel nutzt die Corona-Krise aus, um den Qualitätssprung auf Viersterneniveau zu wagen. Für die umfassenden Baumaßnahmen erhielt die Kette 17,7 Mrd. Forint als staatliche Zuwendungen. Für die langen Monate der Umbauphase entließ Hunguest in den zwecks Renovierung geschlossenen Häusern einfach die Mitarbeiter. Warum sollte man denn das Personal halten, wenn das Geschäft ruht. Wer hinter Hunguest Hotels steht? Ein gewisser Lőrinc Mészáros.