Lebensniveau: Die letzte Bestandsaufnahme aus Friedenszeiten
Jahreseinkommen von 1,15 auf 2 Mio. Forint gestiegen
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Das Zentralamt für Statistik (KSH) wartete dieser Tage mit einer umfangreichen Zahlensammlung auf, die das Lebensniveau der ungarischen Privathaushalte im vergangenen Jahr beleuchten soll. An erster Stelle steht in einer solchen Betrachtung naturgemäß das verfügbare Einkommen. Das Jahreseinkommen legte gegenüber 2018 um ein gutes Zehntel auf brutto 2 Mio. Forint zu.
Netto verblieben davon etwas mehr als 1,6 Mio. Forint pro Kopf – das waren sogar 12,5 Prozent mehr als im Jahr davor. Da der Fidesz seit 2010 ununterbrochen regiert, lohnt sich ein Vergleich dieser in Euro auch weiterhin sehr bescheidenen Werte mit dem Ausgangsniveau des abgelaufenen Jahrzehnts. Für das Jahr 2010 ermittelte das KSH ein Jahreseinkommen von brutto 1,15 Mio. Forint. Damals verblieben den Menschen davon netto 950.000 Forint pro Kopf und Jahr.
Spaltung der Einkommens-Zehntel bleibt
Dass die Orbán-Regierung ihre Gesellschaftsphilosophie auf Arbeit statt Sozialhilfen basieren lässt, schlägt sich in den Zahlen bereits nieder. So ist der Anteil des aus einer Arbeitstätigkeit generierten Einkommens zu Lasten sozialer Bezüge und sonstiger Einkünfte markant von 65 Prozent im Jahre 2010 auf nahezu 74,5 Prozent im Jahre 2019 gestiegen.
Unter den sozialen Bezügen führen verständlicherweise die Renten, mit großem Vorsprung vor Familienzuschüssen und Kindergeld. Was der Fidesz aber nicht erreichen konnte: Die Unterschiede zwischen dem untersten und dem obersten Einkommens-Zehntel wurden nicht wirklich geringer. Das ärmste Zehntel der Bevölkerung muss sich mit brutto 500.000 Forint pro Kopf und Jahr begnügen, im reichsten Zehntel verfügen die Menschen über brutto 4,85 Mio. Forint.
Die Diskrepanz wird noch dadurch verstärkt, dass sich ärmere Menschen in Haushalten mit deutlich mehr Personen finden. In den Haushalten der Reichen leben umgekehrt im statistischen Durchschnitt weniger als zwei Personen. Die unglaublich niedrig anmutenden Einkommen der ärmsten Schichten (drei Zehntel der Ungarn müssen auch heute noch mit brutto 1 Mio. Forint übers Jahr kommen) stehen im Kontrast zu statistischen Erfolgsmeldungen, wonach das Realeinkommen der privaten Haushalte auf der Ebene der Gesellschaft seit 2013 um 40 Prozent gestiegen ist. Die Dynamik nahm 2019 einen Rekordwert an, als die Realeinkommen ungeachtet der erneut beschleunigten Inflation binnen eines einzigen Jahres um knapp neun Prozent nach oben schossen.
Hochschulabschluss als bester Garant
Wenig überraschend verfügen Haushalte ohne Kinder über die höchsten Einkommen, zu denen Ehepaare mit einem Kind allerdings überzeugend aufschließen konnten. Denn laut KSH bringen es Letztere neuerdings auch auf mehr als 2 Mio. Forint brutto pro Person. Kritisch bleibt die Lage für Alleinerziehende und für Großfamilien mit drei und mehr Kindern.
Bester Garant für hohe Einkommen sind übrigens weder Alter noch wirtschaftliche Aktivität, sondern eindeutig ein Hochschulabschluss. In Akademikerfamilien messen die Statistiker das Pro-Kopf-Einkommen bei 2,9 Mio. Forint – das sind im Mittel 35 Prozent mehr Einkommen, als in allen Haushalten mit Berufstätigen verfügbar sind.
Während die Fidesz-Regierung den Familien mit einer Fülle von Maßnahmen beizustehen versucht, scheinen alle Bemühungen um den zurückgebliebenen Osten des Landes vergebens. Der Budapester bringt es im Schnitt auf gut 2,6 Mio. Forint im Jahr, wer in der Nördlichen Tiefebene lebt, muss mit einer Million Forint weniger auskommen. Relativ gut leben lässt es sich noch in den Städten mit Komitatsrecht, deren Bürger es auf 2,17 Mio. Forint brutto bringen. Die Arbeitsintensität fällt unter allen Regionen in Süd-Transdanubien am niedrigsten aus – dort erreicht der Anteil der staatlichen Beihilfen auch heute noch 30 Prozent.
30.000 Forint zusätzlich im Monat
An den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise hatte die ungarische Gesellschaft bis 2013 zu knappern, im Konsumverhalten setzte von da an eine Tauwetterperiode an, die – wie wir heute wissen – sieben gute Jahre bringen sollte. Im Realwert legten die Konsumausgaben der privaten Haushalte laut KSH zwischen 2010 und 2019 um 41,7 Prozent zu. Davon gingen die ersten drei Jahre wegen verfehlter Weichenstellungen der Matolcsy-Wirtschaftspolitik freilich verloren.
Verkonsumierte der durchschnittliche Ungar im Jahre 2013 noch 870.000 Forint im Jahr, wurden daraus im Jahre 2019 stattliche 1.330.000 Forint. Nach Abzug der Inflation bleibt immer noch ein zusätzlich verfügbares Einkommen von ungefähr 350.000 Forint übers Jahr gerechnet oder von 30.000 Forint monatlich. Den steigenden Wohlstand verdeutlicht, dass die Ungarn den wachsenden materiellen Spielraum am ehesten für Leistungen des Gastgewerbes, für Kultur und Unterhaltung verwendeten.
Absoluter Spitzenreiter bleiben nichtsdestotrotz mit 325.000 Forint pro Kopf und Jahr Lebensmittel, gefolgt von den Ausgaben für Wohnen und Energie (245.000 Forint) sowie für Verkehr (160.000 Forint). Die seit 2013 praktizierte Politik der sinkenden Wohnnebenkosten entlastete die Haushalte. Dass sie heute deutlich mehr für Lebensmittel ausgeben, hat aber leider auch mit dem überdurchschnittlichen Preisanstieg in dieser Kategorie zu tun.
Fleisch und Wurstwaren sind die absolut bestimmende Position im Lebensmittelkorb, mit deutlichem Vorsprung zu Milchprodukten sowie zu Brot und anderen Cerealien. Nahezu 70 Kilogramm Fleisch verspeist der Ungar pro Jahr, darunter hauptsächlich Geflügel- und Schweinefleisch, jeweils 50-55 Kilogramm Obst und Gemüse, aber auch an jedem zweiten Tag ein Ei.
Budapester konsumieren ein Drittel mehr
Der Anteil der existenziell grundlegenden Ausgaben bewegte sich unmittelbar nach der Weltwirtschaftskrise um 60 Prozent. Auf welchem Entwicklungsstand eine Gesellschaft angelangt ist, zeigt sehr anschaulich die Verbrauchsstruktur der Bevölkerung, speziell der Anteil an Ausgaben, mit denen Individualität und Selbstverwirklichung manifestiert werden können.
Nicht nur dass die Ungarn in der lang anhaltenden Konjunkturphase immer mehr Geld zur Verfügung hatten, um derartige höhere Bedürfnisse zu befriedigen. Auch anteilig gewannen solche Ausgaben an Gewicht. Im vergangenen Jahr erreichten diese bereits gut 45 Prozent.
Vom konjunkturellen Aufschwung profitierten laut KSH besonders die Bewohner der Hauptstadt: Allein von 2018 zu 2019 nahmen die Konsumausgaben der Budapester um 13,7 Prozent zu. Zweistellige Zuwachsraten konnten außerdem noch die Agglomeration und weite Teile Transdanubiens verbuchen.
Dabei handelt es sich ausnahmslos um Regionen, deren Bürger sich von vornherein ein höheres Konsumniveau erlauben konnten. Der Osten des Landes wird dementsprechend weiter abgehängt. Im Ergebnis konsumieren die Bürger in der Hauptstadt heute ein Drittel mehr, als der durchschnittliche Ungar.
Den Durchschnittswert um 1,5 Mio. Forint erreichen die Agglomeration von Budapest und die Region Nord-Transdanubien. Der Rest Transdanubiens und Südostungarn liegen bereits um einige Prozentpunkte unter diesem Standardkonsum, im Nordosten des Landes fehlt sogar ein Sechstel.
Armut droht Roma und Alleinerziehenden
Dem Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ist bald jeder vierte Bewohner im „Armenhaus“ Ungarns ausgesetzt, unter den Roma noch immer jeder zweite. Immerhin gelang es, den Anteil von Zigeunern in schwerer materieller Deprivation unter ein Drittel zu senken.
Für die Gesamtbevölkerung gilt, dass der Fidesz am konsequentesten das Armutsrisiko von Haushalten mit einer geringen Arbeitsintensität zurückdrängen konnte. Heute beträgt es nur noch dreieinhalb Prozent. Unter schwerer materieller Deprivation leiden noch acht Prozent der Bevölkerung, unter relativer Einkommensnot zwölf Prozent.
Heute berührt das Armutsrisiko (ähnlich wie bei den Rentnern) weniger als ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen, beim Amtsantritt der Orbán-Regierung 2010 war es noch ein Viertel. Gefährdet waren 2019 in erster Linie Arbeitslose beziehungsweise wegen ihres überproportionalen Anteils Menschen, deren Bildungsgrad nicht über die Grundschule hinausgeht. Noch jede sechste Familie bedroht das Armutsrisiko, bei den Alleinerziehenden sind es aber sogar annähernd 40 Prozent.
Fernsehgeräte, Waschmaschinen und (Mobil-) Telefone müssen ungarische Bürger heute eigentlich nicht mehr entbehren, wie auch die unzureichende Beheizung von Wohnraum mittlerweile weniger als fünf Prozent betrifft. Problematisch bleiben Zahlungsrückstände, der Mangel an Fleisch im Speiseplan und die ohne eigenen Pkw eingeschränkte Mobilität.
Unerwartete Ausgaben (die an der statistischen Armutsgrenze von monatlich 93.000 Forint festgemacht sind) stellen derweil 36 Prozent der privaten Haushalte vor unlösbare Probleme, auf jeglichen größeren Urlaub müssen weiterhin knapp 40 Prozent verzichten.
Das Mobiltelefon gehört allen
Dessen ungeachtet erreicht der rasante Modernisierungsprozess der jüngsten Jahre die meisten Familien. Das KSH weist heute moderne TV-Geräte in 70 Prozent aller Haushalte aus – 2010 waren es erst elf Prozent! Waschmaschinen gelten weitgehend als Standard, Spülautomaten haben ein Viertel der Haushalte erobert. Jeder zweite Haushalt besitzt einen Laptop oder Notebook, jeder sechste ein Tablet – ein PC findet sich mit leichtem Abwärtstrend noch in 40 Prozent der Haushalte.
Nicht mehr wegzudenken ist das Mobiltelefon: Laut KSH fallen heute bereits 202 Handys auf 100 Haushalte an, mit einer Penetration von 95 Prozent. Die Statistiker betonen, dass es bei diesem Statussymbol praktisch keine (mengenmäßigen) Unterschiede zwischen Stadt und Land, Ost und West oder Arm und Reich mehr gibt.
Eine erhöhte Konzentration betrifft auch das Ausstattungsmerkmal eigener Pkw: Auf 100 Haushalte sind landesweit 70 Pkw zugelassen, aber nur in 57 Prozent der Haushalte gibt es auch (mindestens) einen Pkw.
Der Wohlstand steht jedoch im Ungarn des Jahres 2019 auf einer breiteren Basis, denn gegenüber 2010 hat sich der Ausstattungsgrad bei Mobiltelefonen und Pkw jeweils um zehn Punkte, bei Laptops sogar um 35 Punkte verbessert.
Leider wird sich diese Entwicklung 2020 infolge der Corona-Krise nicht fortsetzen. Aktuell lässt die ganz offenkundig härtere zweite Welle befürchten, dass an eine Konsolidierung der Verhältnisse vor 2022/23 nicht zu denken ist.