Arbeitsmarkt
Ist das schon die Trendwende?
Von günstigen Prozessen am Arbeitsmarkt sprach der Staatssekretär des Ministeriums für Innovationen und Technologien (ITM) auf Pressekonferenzen am Montagnachmittag und am Dienstag. László György reagierte auf die am Montagmorgen vom Zentralamt für Statistik (KSH) vorgestellten Zahlen, aus denen er – zusammen mit den Wochenberichten, die seinem Ressort von den Arbeitsämtern zugestellt werden – Hinweise auf eine Wende am Arbeitsmarkt ablesen konnte. Denn nach den vom KSH noch nicht aufgearbeiteten Daten für den Monat Juni sinkt die Zahl der bei den Arbeitsämtern registrierten Arbeitslosen nun schon in der dritten Woche, während parallel die Zahl der gemeldeten offenen Stellen von weniger als fünftausend Mitte Juni auf über sechstausend in der dritten Juniwoche anstieg. Für den Staatssekretär liegt klar auf der Hand, dass die Maßnahmen des Aktionsplans zum Schutz der Wirtschaft fruchten. Allein seit Verkündung des hierzulande neuartigen Kurzarbeitergelds konnte die Regierung mit flankierenden Maßnahmen – gerechnet auf einen Zeitraum von fünf Wochen – bei der Schaffung von 24.000 neuen Arbeitsplätzen behilflich sein.
Erste Korrektur im Mai
Das Zentralamt für Statistik (KSH) hatte am Montagmorgen bemerkenswerte Arbeitsmarktdaten vorgestellt. Für den Zeitraum März-Mai landete die Beschäftigungsquote mit 68,6 Prozent auf einem nahezu dreijährigen Tiefpunkt. Im Durchschnitt dieser drei Monate wurden 4,4 Mio. Vollzeitbeschäftigte gezählt. Diese gerundete Zahl traf auch für den Monat Mai zu, was 135.000 Beschäftigte weniger als vor einem Jahr, aber immerhin schon wieder 30.000 Beschäftigte mehr als im Monat April bedeutete. Laut Schätzung des KSH hatten über die drei Corona-Monate März-Mai im Vergleich zum Vorjahr knapp 100.000 Menschen weniger Arbeit, darunter die Hälfte am primären Arbeitsmarkt und jeweils ein Viertel weniger in öffentlichen Arbeitsprogrammen beziehungsweise im Ausland.
Die ebenfalls nur als Schätzung nach ILO-Standard ermittelte Erwerbslosenquote schnellte derweil im Zeitraum März-Mai auf 4,1 Prozent hoch und entfernte sich damit bereits nahezu einen Prozentpunkt vom historischen Tief aus dem Herbst 2019. Gegenüber dem identischen Vorjahreszeitraum nahm insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit zu; mittlerweile ist wieder jeder Achte unter 25 Jahren ohne stabilen Job. Erstaunlich mutet in der Statistik an, dass die älteren Arbeitnehmer offenbar krisenfeste Anstellungen haben: Laut KSH soll es gerade mal 20.000 Ungarn über 55 Jahren geben, die gerne arbeiten würden, wenn sie denn eine Arbeit fänden. Die aktuelle Arbeitslosenzahl der bei den Arbeitsämtern registrierten Personen auf Jobsuche umfasste Ende Mai landesweit übrigens 363.000 Menschen, 43 Prozent mehr, als noch vor einem Jahr! Zudem meldeten die Ämter 30.000 Arbeitslose mehr, als im Vormonat, was auf den ersten Blick im Widerspruch zur obigen KSH-Schätzung der Vollzeitbeschäftigten steht.
„Krisengewinner“ baut massiv Stellen ab
„Im Mai kehrten mit der Lockerung der Notstandslage 59.000 Menschen auf den Arbeitsmarkt zurück, von denen 31.000 wieder eine Arbeit aufnehmen konnten, während 28.000 als Erwerbslose Eingang in die Statistik fanden“, erläuterte Staatssekretär György die KSH-Zahlen. Er rückte zudem die Erwerbslosenquote von 4,1 Prozent in den europäischen Kontext, indem er betonte, dass in der EU nur drei Länder bessere Raten als Ungarn aufzuweisen hätten.
Im Wettbewerbssektor provozierte die Corona-Krise dennoch einen heftigen Stellenabbau: Bei Unternehmen mit wenigstens fünf Mitarbeitern traf es im März-April etwa 170.000 Menschen. Im Jahresvergleich war die Zahl ihrer Beschäftigten im April bereits um nahezu neun Prozent gesunken. Am schwersten traf es erwartungsgemäß die Branche des Tourismus- und Gastgewerbes, an zweiter Stelle folgt aber bereits der Handel. Den hatte die Orbán-Regierung noch zum Krisengewinner deklariert, ergo mit einer Sondersteuer belegt – nun sind laut Statistiken allein in diesem Segment 35.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Damit rangiert der Handel in dieser wenig erfreulichen Auflistung noch knapp vor der Industrie und deutlicher vor Dienstleistern sowie der Logistikbranche. In der Krise gilt der öffentliche Dienst gewissermaßen als sicherer Hafen. Interessant ist derweil auch, dass die Zahl der ABM-Kräfte entgegen der Ankündigung des Ministerpräsidenten, notfalls entlassene Menschen durch öffentliche Arbeitsprogramme aufzufangen, in der Krise nicht zugenommen hat.
Analysten verweisen wegen der unvollkommenen Methodik des KSH auf eine erhöhte Dunkelziffer und setzen die Erwerbslosenquote eher bei sechs Prozent an. Als Argumente werden angeführt, dass die Entlassungswelle außerordentlich rasant vor sich ging, sich die statistischen Erhebungen im Umfeld der eingeschränkten Bewegungsfreiheit schwieriger gestalteten und damit eine erhöhte Fehleranfälligkeit aufweisen und wegen der Einschränkungen auch die Arbeitsuche behindert war. So konnten sich frisch in die Arbeitslosigkeit entlassene Menschen über Wochen hinweg nicht bei den Corona-bedingt geschlossenen Arbeitsämtern melden. Wer aber nicht aktiv Arbeit sucht, gilt nicht als erwerbslos, sondern als wirtschaftlich inaktiv.
Jähes Ende für Lohndynamik
Für die Lohnentwicklung liegen die aktuellsten Zahlen vorläufig nur bis zum Monat April vor. Dabei erscheint weniger die Aussage relevant, wonach die Bruttodurchschnittslöhne in Ungarn 400.000 Forint erreicht haben sollen. Relevanter und sicher nicht unabhängig von der Corona-Krise zu deuten ist, dass der Anstieg gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat laut KSH nur noch 7,8 Prozent erreichte. Seit Ende 2016 fiel die Dynamik beim durchschnittlichen Anstieg der Löhne nicht mehr so niedrig aus. Abgesehen von dieser eindeutigen Erkenntnis reflektieren diese Statistiken kaum die reale Lage am ungarischen Arbeitsmarkt. Tatsächlich sind hier ausschließlich Vollzeitbeschäftigte erfasst; dabei hat die Krise die neue Institution des Kurzarbeitergelds hierzulande überhaupt erst zur Praxisreife geführt, ganz zu schweigen von den vielen zehntausend Menschen, die keine Rettungsmaßnahme mehr erfassen konnte, da sie im Zuge des Lockdowns zwangsläufig in unbezahlten Urlaub geschickt worden waren.
Wie dem auch sei: Die Lohnexplosion der vergangenen Jahre hat in der neuerlichen Krise nach dem Zusammenbruch von 2008/09 ein jähes Ende gefunden. Ein schwacher Trost bleibt jenen Arbeitnehmern, die weiterhin regelmäßiges Geld verdienen dürfen. Weil sich die Teuerungsrate seit Jahresbeginn halbiert hat, liegt der Zuwachs der Reallöhne wieder bei fünf Prozent. Das nimmt sich gemessen an den häufig zweistelligen Zuwächsen der letzten vier Jahre zwar bescheiden aus. Die immer noch große Zahl der durch das Coronavirus ihrer Existenz beraubten Ungarn würde freilich viel darum geben, an diesem bescheidenen Wachstumswunder weiter teilhaben zu dürfen.