Wirtschaftsminister Márton Nagy (l.) ist weiterhin zuversichtlich, die Rezession mit innovativen Ansätzen noch zu vermeiden. Foto: MTI/ Zoltán Balogh

Rezessionsgefahren

Ist das Drama nur inszeniert?

Ungarn durchlebt eine schwere Wirtschaftskrise, der höchste Leitzins in der Region ist nur ein Beleg dafür. Obendrein befand sich das Land zur Jahreswende sehr wahrscheinlich in einer technischen Rezession.

Die Ungarische Nationalbank (MNB) geht davon aus, dass Ungarns Wirtschaft 2022 noch immer um 4,5-5 Prozent wachsen konnte. Angesichts des Ukraine-Kriegs und einer EU-Sanktionspolitik, die weniger resistenten Ländern wie Ungarn schwer auf die Füße fällt, indem sie beispielsweise die Inflation unverschämt anheizte, ist dieses Wachstum als durchaus passabel anzuerkennen. Allerdings hatte sich die Konjunkturdynamik von rund acht Prozent zu Jahresbeginn bis in den Herbst bereits halbiert, als die Wirtschaft gegenüber dem Sommer-Quartal erstmals schrumpfte. Sollte der Abschwung im letzten Quartal des abgelaufenen Jahres angehalten haben, befindet sich Ungarn in einer technischen Rezession. Die Analysten heben dabei durchweg die Robustheit des Arbeitsmarktes hervor. Die Beschäftigungsquote hält sich auf einem Allzeithoch um 74,5 Prozent, die Arbeitslosenzahlen der Arbeitsämter zeigen mit rund 230.000 Personen den niedrigsten Stand.

Wenn Statistiken etwas vorgaukeln

Allerdings trafen die infolge einer verpfuschten europäischen Energiewende und des Kriegs in eine neue Dimension gehobenen Energiepreise die breite Masse der Wirtschaftsakteure erst ab Oktober (dann beginnt jeweils das neue Gaslieferjahr) beziehungsweise ab Januar (für die Stromrechnung). Das Stahlwerk Dunaferr, an dem direkt und indirekt mehrere zehntausend Arbeitsplätze hängen, kam sogleich ins Schlingern und wird derzeit künstlich am Leben gehalten. Ob der neue, britisch-indische Investor dem wichtigsten Arbeitgeber der Region an der Donau eine langfristige Perspektive bieten kann, steht noch in den Sternen.

Das Gastgewerbe befindet sich derweil in der fatalen Lage, die Kostenexplosion bei Rohmaterialien, Energie und Löhnen gegen den schrumpfenden Geldbeutel der zahlenden Kundschaft abzuwägen. Denn die Reallöhne sind „real“ in Ungarn schon 2022 gesunken, auch wenn die offizielle Statistik etwas anderes vorgaukeln will. Dabei liegt die Schuld gar nicht beim Zentralamt für Statistik (KSH) und Methodik-Schwächen. Das Problem sind die auch dreißig Jahre nach der Wende beschämend niedrigen Löhne. Wenn dann der Staat Ärzten, Richtern und Soldaten die Bezüge auf einen Schlag um ein Drittel bis zur Hälfte sowie den Mindestlohn um ein Fünftel anhebt, wirbelt das die Statistik einer ganzen Volkswirtschaft durcheinander.

Die MTI-Graphik zeigt die Entwicklung des monatlichen Brutto-Mindestlohns seit der Jahrtausendwende (in Forint/Monat).

Was für ein Potenzial hat eigentlich eine Wirtschaft, die ihren Selbständigen umsatzsteuerfrei nicht mehr als umgerechnet 2.500 Euro im Monat zugesteht? Brutto, wohlgemerkt. Wovon der nimmersatte Fiskus an Steuern und Abgaben noch knapp die Hälfte an sich nimmt. Wie soll jemand in diesem Land vom Mindestlohn leben, dessen Niveau nach Gewerkschaftsangaben erst mit den kräftigen Sprüngen der jüngsten Zeit überhaupt das Existenzminimum erreichte? Wohlgemerkt, es leben Hunderttausende vom Mindestlohn oder vom garantierten Lohnminimum für Fachkräfte, also von brutto 232.000 Forint, beziehungsweise von 296.400 Forint im Falle einer besonderen Qualifikation. Die viele Staatsdiener aufweisen, denen ihr Arbeitgeber die gesetzlich zugebilligten Bezüge aufstocken muss, damit sie überhaupt das Mindestlohnniveau erreichen.

Gleichauf mit den Griechen? Leider nein…

Die Orbán-Regierung betont mit Vorliebe, den Mindestlohn während ihrer vier aufeinanderfolgenden Amtszeiten seit 2010 überdurchschnittlich angehoben zu haben. Nominal hat sich dieser in der Tat verdreifacht. Der Rückstand zum durchschnittlichen Bruttolohn wurde aber nur bis 2017 konsequent – bis auf 43 Prozent – verkürzt, seither nimmt dieser wieder kontinuierlich zu.

Gerade hat Eurofound, eine EU-Agentur zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa, Ungarns Mindestlohn im europäischen Maßstab bewertet. In die Gemeinschaftswährung umgerechnet legte dieser seit 2010 um gut 300 auf 580 Euro zu. Hätte der Forint in der Zwischenzeit nicht so kräftig abgewertet, würde der ungarische Mindestlohn heute 860 Euro wert sein. Das entspräche ungefähr dem Niveau von Litauen, Griechenland und Malta.

Wie sehr die schwache Landeswährung die Erfolgsgeschichte im internationalen Vergleich relativiert, zeigt auch die jüngste Anhebung: Zum 1. Januar wurde der Mindestlohn in Forint wieder um 16 Prozent angehoben; in Euro sind dies aber weniger als sieben Prozent. Die traurige Wahrheit besagt, dass in der EU einzig Bulgarien noch weniger Lohn garantiert. Denn soeben hat auch Rumänien Ungarn hinter sich gelassen, also jener östliche Nachbar, der 2010 nur halb so viel Mindestlohn garantieren konnte.

Investitionen braucht das Land

Eurofound begrüßt zwar, dass sich die Sozialpartner in Ungarn darauf verständigen konnten, die Mindestlohn-Vereinbarung zur Jahresmitte zu überprüfen. Das wurde aber zugleich davon abhängig gemacht, dass die Wirtschaft weiter wachsen muss.

In der Hinsicht ist keiner so zuversichtlich wie Wirtschaftsminister Márton Nagy. Auf einem Forum bekräftigte er auch in dieser Woche wieder, dass die Regierung ein Wachstum von 1,5 Prozent anstrebe. Eine Rezession müsse unbedingt vermieden werden, die Inflation bis zum Jahresende in den einstelligen Bereich zurückkehren und das Zwillingsdefizit aufgelöst werden. Dazu bedürfe es auch in der Folgezeit innovativer Lösungen der Wirtschaftspolitik, zum Beispiel einer neuartigen Finanzierungsstruktur, um die Konjunktur über mehr Exporte und Investitionen anzukurbeln. Das Ziel müsse lauten, so viele Investitionen wie möglich ins Land zu holen, und nach Möglichkeit die besten Projekte. Das Investitionsvolumen dürfte sich 2023 auf 20.000 Mrd. Forint summieren, woran der Zustrom an Auslands­investitionen weiterhin einen Anteil über 20 Prozent halten müsse. Demnach kalkuliert Nagy mit einem Zufluss von 10 Mrd. Euro!

Gesegnet mit Zucker und Mehl

Zu den „innovativen“ Lösungen des Wirtschaftsministers gehört ohne Zweifel die Politik der Preisdiktate. An den Tankstellen gilt diese nach gut einem Jahr nicht länger. Bis dort wieder Normalität in alle Abläufe einkehrt, dürfen die Ungarn nun die höchsten Spritpreise der Region bezahlen. In der Fidesz-Kommunikation wurde die Maßnahme, die hunderte Tankstellenpächter in den Ruin trieb und zu Versorgungsengpässen führte, bis zum bitteren Ende am Nikolaustag mit dem Argument verteidigt, man habe den Menschen Ausgaben von mehreren Tausend Forint im Monat erspart. Mal abgesehen davon, dass die stockende Versorgung direkt auf die wirtschaftlichen Aktivitäten durchschlug, fabrizierte Ungarn allen Preisstopps zum Trotz die höchste Inflation in der EU. Nach der durch den Markt und bemerkenswerte Erscheinungen im Geschäftsgebaren des Großhändlers MOL „erzwungenen“ Freigabe wurden Benzin und Diesel dann so teuer, dass die Inflation hierzulande für Monate geschürt wird, während die Preise überall anderswo längst sinken.

Im Moment klammert sich die Orbán-Regierung noch an die Preisdeckelungen für ausgewählte Grundnahrungsmittel, als würden die armen Rentner täglich Zucker, Mehl und Speiseöl einkaufen. Selbst die von László Parragh mit eiserner Hand geführte Ungarische Industrie- und Handelskammer (MKIK) bettelt nun um ein Ende der restriktiven Maßnahme irgendwann im Frühling. Die fixierten Preise erfüllten ihre Funktion, denn sie erleichterten dem „unteren Drittel der Gesellschaft“ die Existenz, äußerte der Orbán-Getreue dabei pflichtschuldig. Dass dies ökonomischer Unsinn ist, hat die MNB jedoch längst in einer Studie nachgewiesen.

Für ein halbes Dutzend Produkte im Warenkorb wurde der Preis eingefroren, alle anderen Preise gingen derweil durch die Decke – Ungarn hat mit knapp 50 Prozent die unverschämteste Lebensmittel-Inflation in ganz Europa. Parragh war auch da nicht um eine Erklärung verlegen: Der schwache Forint verteuerte halt die Importe. Er hätte auch die Dürre als Auslöser anführen können, aber er nannte im Nachrichtenfernsehen ATV stattdessen die extrem geringe Produktivität der ungarischen Nahrungsmittelindustrie. Ein Argument, das zuerst Notenbankpräsident György Matolcsy in die Debatte eingeworfen hatte. Wofür es keinen Applaus aus dem Regierungslager gab.

Notenbankpräsident György Matolcsy – hier bei einer Veranstaltung Mitte Januar – darf nun zusehen, wie er die Preise wieder unter Kontrolle bekommt. Foto: MTI/ Zoltán Máthé

Monetäre Strenge wird neutralisiert

Matolcsy befindet sich schon seit geraumer Zeit auf Konfrontationskurs zur Wirtschaftspolitik. Er soll die überbordende Inflation drosseln, während die Regierung immer neue Kreditprogramme auflegt. Die MNB hatte selbst mit tausenden Milliarden seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts für die „Hochdruck“-Wirtschaft gesorgt, die so manchen zusätzlichen Wachstums­punkt mit billigen Krediten erwirkte. In Zeiten der Niedrigzinsen schien dieser Kurs vertretbar. Doch als FED und EZB das Ende des billigen Geldes verkündeten, trat der MNB-Präsident vergeblich auf die Bremse, das Wirtschaftsministerium hatte längst den Bremsschlauch durchtrennt.

Die Notenbank hob den Leitzins auf 13 Prozent an – bei Tschechen, Polen und Rumänen sind derweil sieben Prozent das höchste der Gefühle –, machte den Tageseinlagensatz mit 18 Prozent (!) zum eigentlich maßgeblichen Leitzins und beendete abrupt ihre Konjunkturprogramme (mit Ausnahme „grüner“ Projekte). Gleich am nächsten Tag stellte sich Nagy vor die Kameras, um zu erklären, der Kreditmarkt dürfe nicht austrocknen, die Regierung werde den Unternehmen unter die Arme greifen. Seither wurden von einem an die Széchenyi-Karte geknüpften Programm über Rettungsschirme als Antwort auf die Energiekrise bis hin zum Baross-Programm für eine „Reindus­trialisierung“ Instrumente zuhauf aufgeboten, um die plötzliche Strenge der MNB zu kompensieren.

Wie sich das mit dem Ziel verträgt, die Inflation auszubremsen, sei dahingestellt. Dem Wirtschaftsminister werden sicher noch mehr innovative Ideen einfallen, wenn es der Ministerpräsident so wünscht. Viktor Orbán meinte jedenfalls, die Preise zu stabilisieren sei Aufgabe der Notenbank. Das konnte man als Seitenhieb auf deren Präsidenten auffassen. Oder auch als Theaterinszenierung, denn dem hoch verschuldeten Fiskus kommt die Inflation durchaus gelegen. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema.

Ein Gedanke zu “Ist das Drama nur inszeniert?

  1. Inflation eindämmen geht für die Notenbank nur über die ein Ausbremsen der Wirtschaft und der Nachfrage. Was der Krise die Dramatik nimmt, sind die hohe Beschäftigungs- und niedrige Arbeitslosenquote.
    Die Orban-Regierung greift einerseits zu Maßnahmen aus Sowjet-Zeiten und untergräbt andererseits die Maßnahmen der Notenbank.

    Die gute Aussicht ist jedoch, dass Ungarn von der Erholung der westlichen Wirtschaft mitgezogen wird.
    Die extremen Preisausschläge im Energiesektor klingen nun zudem auch ab. Normalisierung wird einkehren.

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