Analyse der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik
Im Würgegriff hausgemachter und externer Risiken
Drei Rating-Agenturen haben drei Sichtweisen auf Ungarns Wirtschaft und die damit verbundenen Risiken für Anleger. Standard & Poor´s (S&P) stufte die Bonität des Landes im Januar nicht nur zurück, sondern droht bereits unverhohlen mit dem Ramschstatus – seit einem Jahrzehnt hat es das nicht mehr gegeben. Fitch Ratings zeigte sich ebenfalls ausgesprochen kritisch und erteilte einen negativen Ausblick.
Moody´s wiederum sieht die Lage entspannter, und zwar so sehr, dass man den ersten Prüftermin Anfang März ohne Bewertung verstreichen ließ. (Seit die Rating-Agenturen in der Finanzkrise von 2008/09 peinlich versagten, haben ihnen die Aufsichtsorgane die Aufstellung eines Jahresplanes der Bonitätsprüfungen vorgeschrieben. Das verlangt ihnen aber nicht automatisch Stellungnahmen ab.) Moody´s gab für Ungarn nur zwei Termine, im März und im September vor. Da das Prädikat Baa2 weiterhin mit einem stabilen Ausblick versehen ist, droht dem Land von dieser Seite also 2023 kaum Ungemach.
Reformer in den Ramschstatus verbannt
Anders verhält es sich mit Fitch und S&P. Fitch hat das mit der Moody´s-Einstufung vergleichbare Prädikat BBB im Januar mit einem negativen Ausblick versehen, im Juni und im Dezember will man die Entwicklung der ungarischen Wirtschaft neuerlich unter die Lupe nehmen. Im Falle von S&P stehen die nächsten „Prüfungstermine“ im Juli und im Dezember an, und sie verheißen nichts Gutes. Denn bei dieser Rating-Agentur musste Ungarn bereits im Januar eine Rückstufung seiner Bonität auf BBB- hinnehmen. Das ist mindestens aus zwei Gründen prekär.
Zum einen musste sich das Land schlechtere Investment-Grade zuletzt im Umfeld der Weltwirtschaftskrise gefallen lassen. Dieser Prozess hatte seinen Anfang bereits 2006 genommen, als ungarische Staatsanleihen tatsächlich noch als sichere Anlage galten. Die Misswirtschaft unter den linksliberalen Regierungen schauten sich die Rating-Agenturen eine Weile lang an, doch als 2010 endlich die Nationalkonservativen ans Ruder zurückkehren durften, trennte die langfristigen Anleihen nur noch ein Schritt von der Einordnung als spekulative Anlage. Dass die „Hüter der Kreditwürdigkeit“ Ungarn diese ausgerechnet im Moment der tiefgreifendsten Reformen der Nachwendezeit zurückstuften, darf man getrost als politisches Verdikt auffassen. Mit dem Rauswurf des Internationalen Währungsfonds (IWF) 2011 hatte sich die Orbán-Regierung im Westen gewiss keine Freunde gemacht. Es brauchte rund fünf Jahre, bis diese Verbannung in den Ramschstatus wieder aufgehoben wurde.
Die fetten Jahre verpasst und verprasst
Der zweite Grund ergibt sich daraus, dass eben dieser Status, bei dem Anleger explizit vor Zahlungsausfällen gewarnt werden, auch heute gleich um die Ecke ist. Leider versäumte es der Fidesz, die durch die Zweidrittelmehrheit im Parlament gegebene Machtfülle auszunutzen, um die Staatsfinanzen nachhaltig in Ordnung zu bringen. Man wähnte sich auf der sicheren Seite, die Erfüllung der Maastricht-Kriterien schrittweise anzustreben. Ohne jeden Ehrgeiz, was den Prüfern der Rating-Agenturen nicht verborgen bleiben konnte. Die Bonität des Landes schätzten diese nicht einmal in Wahrnehmung eines jahrelangen Aufwärtstrends besser ein, als inmitten der großen Wirtschaftskrise.
Das mochte ein ungerechtes Urteil sein angesichts der behutsam erscheinenden, dabei jedoch stetigen Bemühungen um Besserung. Für die Kritiker des Fidesz-Kurses aber waren das im regionalen Vergleich unvergleichlich hohe Niveau der Staatsschulden und die unverändert expansive Fiskalpolitik ausschlaggebend, an ihrem bescheidenen Prädikat festzuhalten. Als dann die Corona-Pandemie anklopfte, war klar, dass Ungarn die fetten Jahre verpasst und verprasst hatte. Heute, da größere Mächte als die Europäische Union dem alten Kontinent einen neuen kalten nebst dem heißen Krieg in der Ukraine, flankiert von einem Handelskrieg um die Schlüsselindustrien aufzwingen, gilt der Vorwurf von den verlorenen Jahren erst recht.
Rasanter Abstieg in die Rezession
Wo liegen nun die eigentlichen Risiken, die das Vertrauen in ungarische Staatsanleihen einschränken? Da wären als Eckpunkte Wachstumsschwäche, gepaart mit hoher Inflation und einem Zwillingsdefizit, die ausbleibenden EU-Gelder sowie die hohe Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu nennen. Letztere Problematik nimmt mit jeder Eskalation im Ukraine-Krieg noch zu.
Das Wachstum fiel 2022 mit 4,6 Prozent eigentlich ganz passabel aus. Ungarn hatte seinen Vorsprung bei der Abwehr der Corona-Pandemie auszunutzen vermocht, was der Wirtschaft einen Neustart von respektablen Dimensionen verschaffte. Am Jahresanfang übertraf die Dynamik acht Prozent. Der Schwung hielt ungeachtet des Ende Februar in der unmittelbaren Nachbarschaft ausgebrochenen Kriegs noch bis zum Frühsommer an, im zweiten Halbjahr jedoch kam es zu einer Vollbremsung.
Mittlerweile befindet sich das Land in einer technischen Rezession, niemand wird mehr „in der Kurve überholt“. Noch einmal nimmt die Regierung Tausende Milliarden in die Hand, damit die Wirtschaft nicht vollständig in Apathie verfällt. Denn das mit Abstand höchste Zinsniveau der Region würgt die Kreditvergabe ab. Wer will noch investieren oder neu einstellen, wenn man in der Energiekrise kaum mehr kostendeckend produzieren kann?!
Energierechnung sorgt für Turbulenzen
Die Regierung hat für ihre Konjunkturprogramme die Notenbank als Partner verloren, denn die muss die außer Rand und Band geratene Inflation bekämpfen. Dabei ist es sekundär, ob die Teuerung tatsächlich zu vier Fünfteln importiert ist. Der offizielle Anstieg der Verbraucherpreise um mehr als 25 Prozent hat die Einkommenszuwächse in Gänze aufgefressen. Der Forint fiel im Herbst auf Rekordtiefen (bei 435 Forint zum Euro und 450 Forint zum Dollar), weil die internationalen Finanzmärkte der Ungarischen Nationalbank (MNB) ihre geldpolitische Strenge nicht mehr abnahmen. Um das Vertrauen wiederherzustellen, musste ein radikaler Eingriff her: Dieser geschah im Oktober, als der Währungsrat neben dem ohnehin restriktiven Leitzins von 13 Prozent den Einlagesatz auf satte 18 Prozent anhob und Letzteren seither als maßgeblichen Zins behandelt.
Flankiert von einer Reihe weiterer rigoroser Maßnahmen, mit denen überschüssige Liquidität aus dem Markt gesaugt wird, soll die Inflation bis zum Jahresende wieder in den einstelligen Bereich gedrückt werden. Im Jahresmittel rechnet die MNB nichtsdestotrotz mit 15-19,5 Prozent und damit nochmals mit bis zu fünf Punkten mehr Teuerung, als im Krisenjahr 2022. Das Inflationsziel einer knappen Spanne um drei Prozent wird frühestens 2024 erreicht.
Weil die ungarische Energierechnung im vergangenen Jahr um rund 4.000 Mrd. Forint oder 10 Mrd. Euro in die Höhe schoss, bildete sich zudem die Gefahr eines Zwillingsdefizits heraus. In der Handelsbilanz wurden diese Mehrkosten beinahe eins zu eins abgebildet, denn der zuvor positive Saldo stürzte um rund 10 Mrd. Euro in den Keller. Andererseits half die hohe Inflation dabei, die Staatsschulden um vier Punkte auf 73 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu senken. Nominal näherte sich der Schuldenstand 50.000 Mrd. Forint an. Der Staat machte wieder mehr als 4.000 Mrd. Forint an Neuschulden, darunter allein im vierten Quartal über 2.500 Mrd. Forint, was alleine die Nettoposition der privaten Haushalte bei der Schuldenfinanzierung auslöschte.
Wirtschaftsminister kontert Notenbank
Die Rating-Agenturen sehen natürlich das neuartige Konfliktgebaren. Ministerpräsident Viktor Orbán weist der Notenbank die Verantwortung für die Inflation zu, Wirtschaftsminister Márton Nagy bestreitet, der hohe Leitzins habe den Forint gerettet. „Der Forint hätte sich vermutlich nicht stabilisiert ohne die fallenden Energiepreise, ganz gleich wo der Leitzins steht“, sagte Nagy dem Nachrichtenportal index.hu. Dieses Argument schob er freilich vor, um einer drastisch sinkenden Energieabhängigkeit das Wort zu reden.
Es ist eine Tatsache, dass Ungarn die Folgen des Ukraine-Krieges und der Sanktionen gegen Russland auch deshalb schwerer als andere Länder der Region treffen, weil es extrem von (russischen) Importen abhängt. Mit den deutlich gesunkenen Energiepreisen scheint nun aber wenigstens die Gefahr eines Zwillingsdefizits gebannt. Das Budgetdefizit soll in diesem Jahr um die Hälfte auf vier Prozent gedrückt, das Defizit der Zahlungsbilanz nach dem Schwarzen Jahr 2022 wieder eingefangen werden.
Ideologisierte Kommission
Immer weniger wahrscheinlich fließen derweil die Gelder aus Brüssel. Der Streit der Orbán-Regierung mit der Europäischen Kommission bewegt sich zunehmend auf einer politisch-ideologisierten Ebene. Dabei zeigt Brüssel offenbar selbstzufrieden, wer am längeren Hebel sitzt. Die Blockade von Geldern wurde von vornherein mit Korruptionsrisiken begründet, führende Europapolitiker stellen gerne ihre Überzeugung zur Schau, Korruption sei ein ungarisches Phänomen. Seit geraumer Zeit werden Ungarn immer neue und zunehmend präzisere Auflagen erteilt, das Geld scheint derweil in weite Ferne zu rücken.
Die Kommission ist längst ihrer Rolle als Hüter der Verträge entwachsen, dabei aber völlig vom eigenen Anspruch überfordert, auch nur eine der großen Krisen (Migration, Pandemie, Energie) zu lösen. Es stellt ihr ein Armutszeugnis aus, wenn von den Geldern des Wiederaufbaufonds in der gesamten Gemeinschaft überhaupt erst ein Fünftel verteilt wurde – dabei sollte dieser politisch gewagte Sonderfonds eigentlich über die Corona-Krise hinweghelfen. Ungarn speziell Gelder dieses Fonds vorzuenthalten, enthüllt das eigentliche Anliegen der von der Leyen-Kommission, nämlich mittels politischer Gängelung Einfluss auszuüben, welcher ihr gar nicht zusteht.
Demokratie mit Füßen getreten
Der vorläufige unschöne Gipfel dieser politischen Ränkespiele ist freilich der Ausschluss von zwei Dutzend Hochschulen aus Erasmus-Studentenaustausch- und Horizont-Forschungsprogrammen. Ihnen wird der vom Fidesz durchgezogene Modellwechsel in einer Weise zur Last gelegt, als würde die Kirche den deutschen Gender-Wahn mit einem Bann der Heiligen Inquisition belegen. Immerhin regt sich nun Widerstand von Seiten der Betroffenen gegen diesen Brüsseler Irrsinn. Die Rektoren der diskriminierten Hochschulen werfen der EU-Kommission in einem Offenen Brief vor, Grundprinzipien der Demokratie mit Füßen zu treten. Der absurde Ausschluss betrifft 18.000 Forscher und mehr als 180.000 Studenten. Die Rektoren beklagen, die zuständigen Brüsseler Gremien würden bei den Konsultationen nicht einen Hauch von Kompromissbereitschaft erkennen lassen.
Wenn in diesem Konflikt einer politischen Druck ausübt, dann sind das wohl kaum die von der Kommission wegen ihrer Regierungslastigkeit gerügten Kuratorien der Trägerstiftungen, denen die Universitäten weg von der staatlichen Trägerschaft übertragen wurden. Mit diesem Eklat zog die EU-Kommission im Übrigen selbst den Unmut der ungarischen Opposition auf sich. Mehr als kleinlaute Proteste sprangen dabei aber nicht heraus; letztlich müsse der Fidesz auch dafür die Verantwortung übernehmen, dass Brüssel immer neue Spielregeln entwickelt. Das destruktive Verhalten der Bürokraten in der EU-Zentrale wird billigend als neue Gegebenheit in Kauf genommen.
Auch Moody´s verschließt die Augen nicht
Seit Monaten steht die Frage im Raum, ob der Ministerpräsident die EU-Gelder womöglich längst abgeschrieben hat. S&P will davon jedenfalls nichts wissen und drohte im Januar unverhohlen: Die endgültige Streichung erheblicher Fördermittel werde dazu führen, dass man Ungarn den Investment-Status entziehen muss. Ein vergleichbar hohes Risiko sieht die Rating-Agentur eigentlich nur, wenn im Zuge eines eskalierenden Ukraine-Krieges die Energielieferungen aus Russland in Gefahr gerieten.
Bei Moody´s verschließt man die Augen vor solchen Szenarien natürlich auch nicht. Dennoch sickerten Informationen durch, warum die dortigen Experten Anfang März keinen außergewöhnlichen Stressfaktor für Ungarn-Anlagen ausmachen wollten. Der Hauptgrund dürften die purzelnden Energiepreise an den internationalen Märkten sein. Nicht die EU-Transfers, sondern die Energiepreise waren hauptverantwortlich für die Schieflage der Bilanzen und Finanzen 2022. Ergo sinkt das Erpressungspotenzial der EU-Kommission in dem Maße, wie das kleine Land seine Befähigung stärkt, mit solchen Schocks zurechtzukommen.
Es ginge gescheiter
Dazu gehören auch die Auslandsinvestitionen (FDI), die im vergangenen Jahr – neben Exporten und Investitionen – für einen dritten Rekord sorgten. Da flossen 7 Mrd. Euro ins Land, für 2023 hofft Wirtschaftsminister Nagy sogar auf 10 Mrd. Euro. Keine Frage, dass dieser Kapitalzufluss als Kompensation für ausbleibende EU-Gelder verstanden werden kann. Dessen ungeachtet vergibt sich Ungarn mit seiner konfrontativen Haltung gegenüber Brüssel Zuschüsse von Euro-Milliarden, die effizient eingesetzt die Modernisierung des Landes, grüne und Energiewende, Digitalisierung sowie moderne Infrastrukturprojekte voranbringen könnten. Selbst die Kreditgelder aus den Gemeinschaftsfonds abzurufen wäre in diesen Zeiten der Hochzinspolitik gescheiter, weil es den eigenen Geldbeutel schont.
Während das politische Ringen zwischen Budapest und Brüssel immer noch weitergeht, muss das Land seine Anstrengungen zur Bewältigung der Krisenlagen forcieren. Dazu gehören die vielen staatlichen Hilfsprogramme, damit weder Unternehmen noch Kommunen infolge der Energiekrise das Handtuch werfen müssen. Dazu gehören ebenso diversifizierte Lieferquellen, die der Außenminister in Aserbaidschan, Ägypten und Katar erschließt, der parallel auch alles dafür tut, damit die Transportwege über die Türkei und den Balkan gesichert sind und bleiben. Dazu gehören aber auch Anstrengungen der MOL-Gruppe, bei der einheimischen Förderung von Öl und Gas alle Register zu ziehen, um mit modernsten Technologien selbst dort noch Energieträger zu fördern, wo das vor Jahren als unrentabel angesehen wurde.
Dazu gehört schließlich auch jede einzelne Maßnahme auf dem Weg zu einer autarken Energieversorgung, indem das enorme Potenzial bei Sonnen-, Wind- und geothermischer Energie ausgeschöpft wird. Ganz zu schweigen von der Nuklearenergie, die auch im künftigen Energiemix Ungarns eine herausragende Rolle spielen wird.