Arbeitsrechtliche Entwicklungen während und nach der Coronavirus-Krise
Gewerkschaften bleiben ungehört
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Während sich die Regierungskommunikation in den ersten Wochen der Coronavirus-Krise noch darauf konzentrierte, die Bevölkerung zum Händewaschen und Abstandhalten anzuhalten, werden heute vor allem Botschaften wirtschaftlicher Natur verkündet. Für jeden Arbeitsplatz, der infolge der Pandemie vernichtet wurde, so Ministerpräsident Viktor Orbán, wolle die Regierung einen neuen schaffen. Bereits Anfang April wurde zudem ein Maßnahmenpaket zur Krisen-Unterstützung von Unternehmen angekündigt.
Menschen direkt oder indirekt helfen?
Dass diese Hilfen auch bei den Arbeitnehmern ankommen, wird vor allem aufseiten der Opposition bezweifelt. Die kritisiert, dass es kaum individuelle Unterstützung gebe. Der Vorsitzende des ungarischen Gewerkschaftsbundes, László Kordás, erklärte im Rahmen einer Online-Konferenz zum Thema „Die Arbeitswelt während und nach dem Coronavirus“: „Es gibt zwei verschiedene Philosophien. Zum einen die in Ungarn praktizierte, die besagt: Wenn wir die Unternehmen retten, retten wir die Arbeitsplätze, die Leute haben ein Einkommen und beginnen zu konsumieren. Zum anderen die eher westeuropäische Philosophie, die sich darauf verlegt, die Einkommensausfälle der Menschen in der Krise zu kompensieren. Diese können dann weiterhin konsumieren und der Konsum hilft wiederum den Unternehmen. Hier ist das Ziel des Krisenmanagements vor allem, den Menschen zu helfen, nicht den Unternehmen.“
In den vergangenen Wochen betonte die Regierung immer wieder, Sozialleistungen keinesfalls ausbauen zu wollen: Arbeitslosengeld soll weiterhin nur für drei Monate gezahlt werden. „Wenn diese Zeit abläuft“, so Orbán, „wird es niemanden in Ungarn geben, der ohne eine Stellenofferte bleiben wird.“ Kordás jedoch glaubt, dass die Strategie der Regierung nicht aufgehen wird: „Im März haben bereits 56.000 Personen mehr als saisonal üblich Arbeitslosengeld beantragt. Wenn die drei Monate auslaufen, werden diese Menschen ohne ein Auskommen sein, und das wird zu enormen gesellschaftlichen Spannungen führen.“ Auch Jörg Bergstermann, Büroleiter der FES in Budapest, hält dies für möglich. Er sagte im Rahmen der Konferenz: „Das sind Zeiten, in denen die ohnehin schon vorhandenen sozialen Ungleichheiten noch weiter wachsen werden.“
Csaba Csóti, Präsident des Forums für gewerkschaftliche Zusammenarbeit, glaubt, dass dem aktuellen Krisenmanagement die seiner Ansicht nach falsche Annahme zugrunde liegt, dass die Lage mit der Finanzkrise von 2008 und 2009 vergleichbar sei. Er erklärte: „Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass dies keine Krise der Finanzwelt ist. Darauf haben in den letzten Wochen auch viele Ökonomen hingewiesen. Diese Krise hat ihren Ursprung außerhalb der Wirtschaft, hat für sie aber enorme Konsequenzen und bedroht zahlreiche Existenzen. Die Pläne der Regierung gehen aber nicht auf diese Besonderheit ein. Das ist eine gefährliche Einstellung und kann nicht erfolgreich sein.”
In vieler Hinsicht, so die Teilnehmer der Online-Konferenz, stehe das jetzige Handeln der Regierung in Einklang mit früheren Maßnahmen, etwa dem 2018 als „Sklavengesetz“ bekannt gewordenen neuen Arbeitsgesetz. „Seit 2011 gab es immer wieder Situationen, in denen sich die Regierung – statt den Arbeitnehmern zu helfen – auf die Seite der Konzerne gestellt hat. Jedes neue Gesetz nützt seitdem vor allem den Interessen der Unternehmerseite“, kritisierte Gewerkschaftschef Kordás. Laut Csóti ist die Fidesz-Regierung der Ansicht, „je weniger das Arbeitsgesetz reglementiert, desto besser geht es der Wirtschaft. Dieser Irrglaube basiert aber auf der Annahme, dass die Arbeitnehmer, wenn sie nicht unter ausreichend Druck stehen – egal ob nun im öffentlichen Sektor oder in der Privatwirtschaft –, anfangen zu faulenzen und nicht genügend arbeiten. Dieses Denken ist tief verwurzelt, aber meines Erachtens völlig inakzeptabel.“
20.000 Beschäftigte im Kulturbereich verlieren ihren Beamtenstatus
Auch die plötzlichen Änderungen bei den Beamten sieht Csóti darin verortet. Kurz vor Ostern veröffentlichte die ungarische Regierung eine Gesetzesvorlage, in deren Zuge 20.000 Beschäftigte im Kulturbereich, darunter Bibliothekare sowie Museums- und Theatermitarbeiter, ihren Beamtenstatus verlieren werden. Obwohl die Regierung im Gegenzug Gehaltserhöhungen im Umfang von sechs Prozent verspricht, wären diese Arbeitnehmer durch Wegfall der Beamtenprivilegien künftig schlechter gestellt. Csóti betonte, dass es aber wichtig sei, Angestellte in diesem Bereich zu halten, um die Qualität der öffentlichen Kultureinrichtungen zu sichern. Dem stimmte auch Katalin Papp, amtierende Vorsitzende der Gewerkschaft der Beschäftigten des öffentlichen Kulturbetriebs, zu. Den Status dieser Beschäftigten sieht sie in der besonderen Wichtigkeit ihrer Arbeit gerechtfertigt: „Diese Menschen erhalten, archivieren und erforschen die kulturellen Schätze der ungarischen Nation.“
Viele Gewerkschaftsmitglieder, sagte sie, sehen sich mit einer sechsprozentigen Gehaltserhöhung nicht ausreichend kompensiert, insbesondere da das Gehaltsniveau in diesem Sektor seit 2008 nicht angehoben wurde. Vor allem aber der Verlust der Beamtenrente würde viele schmerzhaft treffen. Papp und andere Gewerkschaftsführer monieren zudem, dass sie den Entwurf für die Gesetzesänderung erst einen Tag vor Karfreitag erhalten hätten, ihr Feedback aber bereits am ersten Arbeitstag nach dem Osterfest einreichen mussten – ihnen also nicht genügend Zeit blieb, das Vorhaben zu evaluieren, sich auszutauschen und Änderungsvorschläge zu erarbeiten. „Es schockiert mich, dass inmitten einer Pandemie so ein komplett unvorbereitetes Gesetz auf den Weg gebracht wird”, kritisierte Papp.
Es sei jedoch nicht das erste Mal, dass die Regierung jegliche Zusammenarbeit verweigert habe. Laut Papp werde ihre Gewerkschaft schon seit Langem nicht mehr konsultiert: „Das letzte Mal, dass der Kulturvermittlungsrat zusammengerufen wurde, war im Juni 2016.“
Verhallt die Stimme der Gewerkschaften?
Ähnlich ergeht es auch dem ungarischen Gewerkschaftsbund, dessen Stimme, so László Kordás, bei der aktuellen Regierung auf kein offenes Ohr treffe. „Zwar gibt es seit Beginn der Krise an jedem Montag eine Online-Konsultation, bei der es theoretisch die Möglichkeit gibt, mit der Regierung und Arbeitgebervertretern ins Gespräch zu kommen. Es gibt aber keine substanziellen Diskussionen. Die Regierung hört sich zwar an, wie jede Seite die Situation einschätzt, und trifft dann jedoch ganz unabhängig davon eine Entscheidung.” Hinsichtlich des Einflusses der Gewerkschaften stellte Kordás resigniert fest: „Die Regierung hat sich in der aktuellen Situation mit keiner der Organisationen beraten, die die Arbeitnehmer vertreten. Wenn wir Vorschläge haben, mailen wir sie oder kommunizieren sie auf anderem Wege. Manchmal bekommen wir eine Antwort – meistens aber nicht.“
Dieser fehlende Dialog könnte für Ungarn noch zum Problem werden: „Länder, in denen der soziale Dialog funktioniert“, ist sich jedenfalls FES-Büroleiter Jörg Bergstermann sicher, „werden die Krise schneller überwinden, da die verschiedenen sozialen Akteure zusammenarbeiten, um die notwendigen Kompromisse zu finden.“
Daraus ergibt sich natürlich die Frage: Was kann getan werden, um die Position der Gewerkschaften zu stärken? Katalin Papp glaubt, der Schlüssel liegt in großen koordinierten Aktionen. Die rund 10.000 Mitglieder ihrer eigenen Gewerkschaft, die zudem nur schwer auf die Straße zu bringen seien, könnten allein nie den Effekt erreichen, den größere Demonstrationen erzielen. Csaba Csóti sieht den Fehler auch bei den Gewerkschaften selbst. „Seit Ende des Kommunismus haben wir die Arbeiter nicht mehr ausreichend darüber unterrichtet, was eigentlich ihre Rechte sind. Viele folgen unserer Arbeit auch nicht.“
Ein Gewerkschaftsführer könne in Verhandlungen aber nur dann stark auftreten, wenn er die Massen hinter sich hat, ergänzte Csóti. „Wenn aber fünf von zehn Angestellten nur ihre individuellen Interessen verfolgen und einen eigenen Deal mit dem Arbeitgeber machen, dann funktioniert das System nicht mehr.“ Er appellierte deshalb an alle Arbeitnehmer: „Wir können uns nicht auf das Gesetz verlassen, sondern nur aufeinander.“