Krisenmanagement
Gelähmte Entscheidungsträger
Dieser Artikel ist Teil unseres Bezahl-Angebots BZ+
Wenn Sie ein Abo von BZ+ abschließen, dann erhalten Sie innerhalb von 12 Stunden einen Benutzernamen und ein Passwort, mit denen Sie sich einmalig einloggen. Danach können Sie alle Artikel von BZ+ lesen. Außerdem erhalten Sie Zugang zu einigen speziellen, sich ständig erweiternden Angeboten für unsere Abonnenten.
Der Ministerpräsident redet neuerdings auffällig in Allgemeinplätzen. Im Sommer wurde der Öffentlichkeit weisgemacht, die Führung des Landes sei auf die zweite Welle der Covid-19-Erkrankung vorbereitet. Schließlich verfügten nunmehr alle Institutionen über einen Erfahrungsschatz in Verbindung mit dem neuartigen Coronavirus, der im Frühjahr einfach nicht vorliegen konnte.
Ungarn wartete also dem Vernehmen nach gut gewappnet und in der martialischen Ausdrucksweise eines Viktor Orbán „bis an die Zähne bewaffnet“ auf die zweite Welle. Was man alleine nicht wusste, nicht wissen konnte, war der Zeitpunkt, wann diese eintreffen würde. Manche Experten tippten auf den September und befürchteten ein „Kollidieren“ der Welle mit dem Schulbeginn.
Sie sollten nicht Recht behalten – die zum 1. September angeordneten Reisebeschränkungen kamen zu spät, denn das Virus wurde seit Ende Juli, Anfang August nur noch marginal aus dem Ausland eingeschleppt und breitete sich weitaus stärker im Inland, unter der weniger reiselustigen Bevölkerung aus.
Die politischen Entscheidungen im Corona-Krisenmanagement stehen weltweit auf dem Prüfstand – kaum eine Regierung hat sich da mit Ruhm bekleckert. Wie aber steht es um die Wirtschaftspolitik? In eine Kurzfassung gepresst könnte man sagen: Womöglich noch schlechter.
Ungarn sieht rot
Als hätte die Regierung nicht aus den Fehlern der ersten Welle gelernt. So mag die Arbeitslosigkeit im europäischen Vergleich noch immer als niedrig gelten, doch nützt den durch die Krise um ihren Job gebrachten Menschen wenig, mit dem Schicksal anderer getröstet zu werden. Tatsache ist, dass die Regelungen zum Kurzarbeitergeld nirgendwo so spät und halbherzig griffen, wie hierzulande. Nicht Millionen Arbeitsplätze wie in Deutschland, aber doch mehrere zehntausend Arbeitsplätze hätte ein entschlosseneres Handeln bei Ausbruch der Corona-Krise retten können.
Doch als wäre das nicht genug, schießt die Regierung gerade den zweiten Bock: Die Regelung lief ausgerechnet Ende August aus, planmäßig, wie das seit ihrer Einführung immer wieder verkündet worden war. Mit dem Haken, dass außerplanmäßig just in dem Moment die Grenzen mit einer wenig nachvollziehbaren Weisung von oben („alle Länder sind rot, nur Ungarn bleibt grün“) zum zweiten Mal geschlossen wurden.
Rechnen konnte kein Manager mit einer derart radikalen Maßnahme, denn die Orbán-Regierung beteuerte immer aufs Neue, einen zweiten Stillstand werde es nicht geben. Nur dass damit der Stillstand in den Betrieben und Schulen gemeint war, den man auf keinen Fall zulassen wolle. Also machte man die Grenzen dicht, denn so konnten Ausländer das Virus nicht länger einschleppen.
Bald erinnerte diese betonsichere Grenzschließung an einen Schweizer Käse; das Virus hatte sich ohnehin längst auf ungarischem Boden sesshaft gemacht. Viele Pendler wurden vor den Kopf gestoßen, für das Hotellerie- und Gastgewerbe insbesondere der Hauptstadt wurde aus dem erträumten goldenen Herbst ein Desaster.
Statt Kurzarbeitergeld hatte der Ministerpräsident einen Tipp für die gebeutelte Branche parat: „Das Geschäftsmodell im Budapester Tourismus baut auf die ausländischen Gäste, die für 93 Prozent der Hotelbuchungen stehen, im Vergleich zu Rom oder Paris, wo dies nur 50-60 Prozent sind. Es gibt aber kein Geschäftsmodell, dass die Ungarn in ihre Hauptstadt lockt, um dort ein Wochenende zu verbringen. Dieses Geschäftsmodell muss in jedem Fall korrigiert werden, selbst wenn das Leben in den normalen Lauf zurückkehrt.“
Bessere Lösung als Kurzarbeitergeld
Nichtsdestotrotz glaubt auch Orbán an die heilsame Wirkung von Arbeitsplätzen, denn „wo Arbeit ist, da findet Wachstum statt“. Im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stünden in diesem Sinne Steuersenkungen und Investitionen. Das Ergebnis seien viereinhalb Millionen Arbeitsplätze, rund achthunderttausend mehr, als die Sozialisten bei der Übergabe der Amtsgeschäfte vor zehn Jahren vorweisen konnten.
Während Lösungen wie das Kurzarbeitergeld krisenanfällige Arbeitsplätze verteidigen, wolle sich die nationalkonservative Regierung auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze konzentrieren, die sich als wettbewerbsfähiger, ergo krisenresistenter erweisen. Beauftragt mit dieser Aufgabe wurde bemerkenswerterweise der Außenwirtschaftsminister, der noch stärker die Werbetrommeln für Ungarn im Ausland rühren darf. Man geht davon aus, dass sich im Wettbewerb nach der Corona-Krise alles um eine Neuaufstellung von Fertigungskapazitäten und Arbeitskräften drehen wird.
Péter Szijjártó erhält damit eine Aufwertung gegenüber dem Minister für Innovationen und Technologien, dessen Ressort aber auch weiterhin die Oberhoheit über den heimischen Arbeitsmarkt behaupten darf. László Palkovics und sein Team sorgen für die Weichenstellungen und Stimuli, damit die einmal in Ungarn angesiedelten Unternehmen auch weiterhin ihre Kalkulationen aufgehen sehen. Dabei weiß auch der Regierungschef zu gut, dass die multinationalen Akteure zwar hinsichtlich Kapital und Technologien weiterhin unerreicht sind, bei den Arbeitsplätzen jedoch ähnlich wie anderswo längst die heimischen Kleinfirmen und Mittelständler das Rückgrat der Wirtschaft bilden.

Stumpfe Geheimwaffe
Einfach irreführend ist die Aussage des Ministerpräsidenten, heute hätten mehr Menschen Arbeit, als das im Januar der Fall war. Selbst wenn das faktisch stimmt, ist der Vergleich dieser beiden grundverschiedenen Monate doch kaum relevant. Der Arbeitsmarkt befindet sich nun mal zu Jahresbeginn auf einem Tiefpunkt, denn Ungarn benötigt keine hunderttausend saisonalen Arbeitskräfte für die Bewältigung des winterlichen Skitourismus, wie das beispielsweise im Nachbarland Österreich der Fall ist.
Das Zentralamt für Statistik (KSH) hat im August erstmals wieder mehr als 4,5 Millionen Beschäftigte gemeldet. Damit fehlen in der Tat nur noch vier Zehntelpunkte zur Rekord-Beschäftigungsquote aus der Zeit vor der Krise, die von der Orbán-Regierung einzigartig für ungarische Verhältnisse auf siebzig Prozent hochgeschraubt werden konnte. Im Jahresvergleich zählte das KSH nur noch zwanzigtausend Beschäftigte weniger. Gegenüber dem Monat Juli konnte der primäre Arbeitsmarkt dreißigtausend Stellen zusätzlich besetzen.
Allerdings weist das KSH seit Jahren rund zweihunderttausend Personen in öffentlichen Arbeitsprogrammen und auf Auslandsentsendung als Beschäftigte aus, was die Statistik künstlich aufpäppelt. Als das Coronavirus im März über das Land hereinbrach, wollte Orbán sogleich auf seine „Geheimwaffe“ der öffentlichen Arbeitsprogramme zurückgreifen – sie sollte eine Alternative für Bürger sein, die ihren Job in der Krise verlieren.
Doch nur wenige folgten dem Angebot, was in Zeiten der galoppierenden Inflation nicht verwundern muss: Seit vier Jahren erhalten die ABM-Kräfte die gleiche Entlohnung, die mittlerweile keine zwei Drittel des Mindestlohns mehr wert ist. Erstmals räumte der Ministerpräsident öffentlich ein, sich vom Staat beschäftigen zu lassen, wäre kaum die optimale Lösung, aber immer noch besser, als gar nichts. In jedem Fall müssten die Bezüge der ABM-Kräfte im kommenden Jahr angehoben werden.
Eigentlich müssten alle Löhne weiter erhöht werden, ist das Geld doch immer weniger wert. Was vom KSH nicht ausgewiesen wird, sind die vielen auf Teilzeitarbeit umgestellten Arbeitsverhältnisse. Für viele sinkt das Einkommen in der Krise aber auch dadurch, dass sie ihren Job verloren und notgedrungen eine weniger fachliches Know-how erfordernde Tätigkeit angenommen haben, die gewöhnlich auch schlechter bezahlt wird.
Schließlich weicht die Erwerbslosenstatistik des KSH immer stärker von den Ausweisungen der Arbeitsämter ab. Dort waren Ende August knapp dreihundertfünfzigtausend Menschen als arbeitslos registriert, beinahe doppelt so viele, wie in der nach ILO-Standard ermittelten Quote als „erwerbslos“ eingestuft wurden. Weil mittlerweile außer Frage steht, dass die zweite Corona-Welle nach der Zahl der Infektionen selbst das im Frühjahr Erlebte in den Schatten stellen wird, wird der Arbeitsmarkt in den nächsten Monaten erheblich unter Druck gelangen.
Was sich jetzt rächt
Schon hat die Ungarische Nationalbank (MNB) ein weiteres Programm präsentiert, das „nur“ fünfzig Punkte aufzählt, auf die sich die Wirtschaftspolitik unbedingt konzentrieren müsste. Bekanntlich hatte der fachliche Stab der MNB zuvor mehr als dreihundert Punkte zusammengetragen, die den Erfolg Ungarns im neuen Jahrzehnt begründen sollten. In der Krise bleibt jedoch keine Zeit für all das, jetzt muss schnell gehandelt werden, um Arbeitsplätze zu erhalten sowie Konsum und Investitionen anzukurbeln. Hier offenbart sich aber nicht nur ein Dilemma.
Jetzt rächt sich, dass der Staat Vorzeigeprojekte zu besten Konjunkturzeiten vorantrieb, anstatt Reserven für Zeiten wie die Corona-Krise zu bilden, um die Durststrecke besser zu bewältigen. Aber auch die Notenbank hat viel Pulver verschossen, heizte sie doch mit ihren Wachstumsprogrammen in der Dimension von Tausenden Milliarden den Kredit- und Immobilienmarkt dermaßen an, dass schon 2019 mehr und mehr Experten eine Blase erkannten. Ganz zu schweigen von ihrer ultralockeren Geldpolitik, die den Forint lange vor der Krise in ungeahnte Tiefen drückte. Nun versucht die MNB die heimische Währung krampfhaft vor den Spekulanten zu retten.
Dieser Versuch erscheint jedoch reichlich aussichtslos, da auch die Inflation längst nicht mehr unter Kontrolle ist. Bei der Kerninflation schießt das Land seit Monaten über das obere Ende des Zielbandes von vier Prozent hinaus. Wegen seiner schwachen Währung hat sich Ungarn schon vor der Krise vom restlichen Europa abgekoppelt, wo im Umfeld einer lahmenden Konjunktur bisher nicht einmal die exorbitante Geldschwemme der Europäischen Zentralbank der Teuerung auf die Sprünge helfen konnte.
Extreme Neuschulden wollte man eigentlich nicht
Die Orbán-Regierung ist derweil deshalb gelähmt, weil all ihre Zurückhaltung bei Steuergeschenken in der ersten Welle nicht verhindern konnte, dass der Fiskus extreme Neuschulden machen muss. Selbst das Finanzministerium rechnet mittlerweile mit einem Defizit von bis zu neun Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP), einzelne Analysten schließen auch zehn Prozent nicht mehr aus.
Das hängt nicht zuletzt mit dem enttäuschenden „Neustart“ der Wirtschaft zusammen: Im Sommer hatten die Wirtschaftslenker zuversichtlich auf eine V-Kurve gehofft, aktuell geht Finanzminister Mihály Varga jedoch davon aus, dass der ersehnte Impfstoff bis Mitte 2021 für Entspannung sorgen muss, soll nicht eine lang anhaltende Stagnation eintreten. Seit Wochen hören die Wirtschaftsakteure unentwegt, ein neuer Aktionsplan werde im Herbst Schutz bieten.

Die konkreten Ansagen des Finanzministers zeugen jedoch von Kleinmut und der Ministerpräsident verliert sich in Allgemeinplätzen. Da muss es schon ernüchtern, wie die Notenbank die Regierung dazu drängt, Positionen aufzugeben und die Krise proaktiv zu bewältigen. So fordert die MNB völlig konträr zu Ministerpräsident und Innovationsministerium die sofortige Neuauflage des Kurzarbeitergeldes, dessen Vergabe zudem administrativ erleichtert werden müsse.
Noch weit mehr Arbeitsplätze müssten mit Vergünstigungen auf Steuern und Abgaben geschützt werden – Orbán und sein Außenwirtschaftsminister meinen derweil, die Schaffung neuer, wertvollerer Arbeitsplätze binde alle Ressourcen. Der Wohnungsbau müsse mit großzügigen Geschenken bei der Umsatzsteuer gefördert werden, erklärt die MNB, die weitreichende Entlastungen für Mütter und junge Eheleute sowie für Großfamilien und Rentner (einschließlich einer gestaffelten Senkung der amtlichen Gaspreise!) fordert.
Wer passt sich wem an?
Nur am Rande bemerkt sei, dass selbst László Domokos, der seit Jahren an der Spitze des Staatlichen Rechnungshofes steht, die sofortige Senkung der Einkommensteuer unter zehn Prozent ins Spiel gebracht hat. Der vom Fidesz ins Amt gebrachte Kader sieht durchaus Spielraum im Haushalt, aber weitaus mehr die Notwendigkeit, dem privaten Konsum auf die Beine zu helfen, bevor das Coronavirus zum Kahlschlag ansetzt.
Verblüffend ist an diesen Wortmeldungen, dass Institutionen wie Notenbank und Rechnungshof die Wirtschaftspolitik der Orbán-Regierung seit jeher wie ein Mann unterstützen. Nicht von ungefähr sorgte der Ministerpräsident für einen heiteren Moment, als er der Nachrichtenagentur Reuters kürzlich zum schwachen Forint befragt erklärte, das sei nicht seine Angelegenheit, der Forint liege in der Zuständigkeit der unabhängigen Notenbank, er vertraue deren Politik und ihrem Präsidenten, György Matolcsy. „Wenn die MNB den Forint erstarken lässt, muss ich meine Wirtschaftspolitik daran anpassen, wenn sie den Forint schwächt, dann daran.“ Es ist nicht bekannt, dass die Notenbank seit Amtsantritt des Orbán-Vertrauten Matolcsy im März 2013 jemals auf einen starken Forint gesetzt hätte.
Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, dass man auch bei der EZB in Frankfurt nicht so recht weiß, wie man in der Corona-Krise weiter verfahren soll. Dort hat man mit dem Kauf von Anleihen im Umfang von 1.350 Milliarden Euro auf die erste Pandemie-Welle reagiert, um einen Schock an den Märkten zu verhindern. Dennoch wurde in der Eurozone bisher keine Inflation gemessen.
Von solchen Zahlen kann Ungarn nur träumen. Vielleicht feiert es sich am Ende des Krisenjahres 2020 aber doch wieder. Denn dass die Wirtschaftsleistung gleich um neun Prozent wie in der Eurozone erwartet abschmiert, befürchtet wirklich niemand. Der Selbsterhaltungstrieb der Wirtschaftsakteure wird es schon irgendwie richten. Auch wenn ihnen der Staat beim Überleben bisher nicht groß hilft.