Im Protest vereint – Demonstration gegen das „Sklavengesetz“. (Foto: VDSZ)

Gewerkschaften in Ungarn - Eine Zustandsbeschreibung

Frischer Wind oder Luft raus?

Was ist los im Land der zersplitterten Gewerkschaftsbünde? Kommen die Konföderationen noch zusammen oder ist die Gewerkschaft eine Organisation von gestern? Diese Frage n begleiten unsere kleine Reise durch die ungarische Gewerkschaftslandschaft. Experte Rainer Girndt, ehemaliger Leiter des ungarischen Gewerkschaftsprojekts der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie einige der ungarischen Gewerkschaftsvorstände geben Auskunft über ihre Sicht der momentanen Lage.

Als Rainer Girndt sich das letzte Mal im Sommer 2018 nach der Veröffentlichung seines Lageberichts zur Situation der ungarischen Gewerkschaften und einer anschließenden Diskussionsrunde in eher resignativer Stimmung von den Gewerkschaftsführern und von Budapest verabschiedete, dachte er sich, dass dieses Themenfeld nun langsam abgegraben, alles ausgesprochen und aufgeschrieben sei. Die Probleme wiederholten sich und eine Änderung war kaum absehbar.

Bunte Palette an Gewerkschaftsbünden

Seit 1972 unterhält er Kontakte zu den ungarischen Gewerkschaften und engagierte sich seit 1990 zehn Jahre vor Ort als Leiter des Projekts „Gewerkschaftliche Kooperation und Arbeitsbeziehungen“ im ungarischen Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung. Danach verfasste er noch zahlreiche Expertisen und realisierte Aufträge zu diesem Thema.

So ist der Titel seiner im Juni erschienenen und mit Edit Németh gemeinsam verfassten Studie bezeichnenderweise „Zwischen Resignation und Aufbruch – Aktuelle Entwicklungen bei den ungarischen Gewerkschaften“, denn der Aufbruch scheint in den letzten Jahrzehnten oft steckengeblieben zu sein. Die Wende brachte in Ungarn – anders als in Deutschland – eine bunte Palette an Gewerkschaftsbünden mit sich. „Kinder des Einparteienstaates“ und des damals zentralisierten Gewerkschaftsbundes SZOT überlebten in neuen Formationen. Neue Gewerkschaftsbünde gründeten sich.

Historisches Mitgliedsbuch eines Gewerkschaftlers von Vasas. Auch heute spielt das IG Metall-Pendant in Ungarn eine wichtige Rolle. (Foto: Archiv)

Heute bestehen sechs sogenannte Konföderationen, also quasi sechs DGBs: die größeren MASZSZ, LIGA und SZEF, gefolgt von den kleineren Arbeiterräten (Munkástanácsok), ÉSZT und MSZ EDDSZ. Unter ihnen kommt es seit der Wende immer wieder zu Spannungen, auch aufgrund der unterschiedlichen politischen Ausrichtung.

Girndt und die Ebert-Stiftung fördern seit 1990 den Dialog und stehen ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Sie halten sich dabei möglichst aus den Konflikten heraus und versuchen zur Entschärfung der Kontroversen beizutragen.

Immerhin konnten dabei kleinere, positive Ergebnisse erzielt werden. Eine der gewerkschaftlichen „Sternstunden“ stellt die Aufteilung des verbliebenen Gewerkschaftsvermögens des Einparteienstaats unter den Konföderationen dar, die nach einem langen zwischengewerkschaftlichen Grabenkrieg erzielt wurde. Das Ereignis führte zu einer gewissen Entspannung und war einzigartig in der gesamten MOE-Region.

Schwerer Start nach der Wende

Doch die Gewerkschaftsbündnisse konnten in den 90er Jahren weder große Erfolge für die Arbeitnehmerschaft verbuchen noch ein attraktives Image aufbauen, sodass die Zahl der organisierten Arbeiter bis 2018 auf neun Prozent aller ungarischen Erwerbstätigen schrumpfte. Dabei sind die Zahlen besonders in kleineren Betrieben und im Gastronomiebereich am niedrigsten. Die Zersplitterung der Konföderationen und der geringe Organisationsgrad erschweren eine starke Gewerkschaftsarbeit.

Bei grundlegenden Dingen kann man hin und wieder doch einen Konsens erkennen. So wurde beispielsweise eine gemeinsame Erklärung aller Konföderationen und des Deutschen Gewerkschaftsbunds beim Budapest-Besuch des DGB-Vorstands Stefan Körzell Ende Februar unterzeichnet, die „armutsfeste Mindestlöhne” in der EU zum Ziel hat.

Laut Dr. József Szilágyi, dem Vorstand der Vereinten Elektroenergiegewerkschaft EVDSZ und Ko-Vorsitzendem der alternativen LIGA-Gewerkschaften liegt das Netto-Mindesteinkommen in Ungarn noch immer unter dem Existenzminimum, obwohl die Regierung ständig von einem Wirtschaftswachstum redet. Hier müsse sich auch auf dem europäischen Arbeitsmarkt etwas tun. Einheitliche Standards sollten eingeführt werden. Diesbezüglich besteht ein gewerkschaftsübergreifender Konsens.

Aber auch Tamás Székely, Vorsitzender der Gewerkschaft für Chemieindustrie und Energiewirtschaft VDSZ und stellvertretender Leiter des Gewerkschaftsbundes MASZSZ, spricht von „schwankenden Beziehungen zwischen den Konföderationen“, die natürlich auch von den jeweiligen Führungskräften abhängig seien.

Einen vielversprechenden Ansatz gäbe es laut Girndt jedoch jenseits der Gewerkschaftsbünde in den einzelnen Betrieben, wie jüngst am Audi-Beispiel erlebt, wo die unabhängige Audi-Gewerkschaft seit 1996 immerhin über 70 Prozent der Arbeiter rekrutieren konnte. Branchenübergreifende Kollektivverträge seien in Ungarn eher rar. Eine Ausnahme ist die Elektroenergieindustrie, wo unter Szilágyi zusammen mit der Bergbaugewerkschaft (BDSZ) solch ein Vertrag ausgehandelt werden konnte.

Gewerkschaftsexperte Rainer Girndt: „Wir haben zur Entschärfung der Kontroversen beigetragen.“ (Foto: FESBP / Rainer Girndt)

Erschwerend kommt hinzu, dass das vorher „äußerst liberale Streikgesetz“ Ungarns im Jahr 2010 durch die Orbán-Regierung so verändert wurde, dass Streiks laut Girndt nahezu unmöglich geworden sind und in den letzten Jahren daher auch kaum oder gar nicht stattfanden.

„Sklavengesetz“ brachte Fass zum Überlaufen

Umso erstaunter war Girndt zum Jahresende 2018, als die Gewerkschaften ins Rampenlicht der Presse rückten. Seitdem gäbe es wieder einen Grund für ihn, die ungarische Berichterstattung zu verfolgen, wo die Gewerkschaften nun endlich auch wieder vorkämen und auch einmal positiver als nur wie üblich als „schwerfällig herumtappender Dinosaurier“. Ob dies von Dauer ist oder der Enthusiasmus rasch wieder abebbt, hängt nun von den nächsten Schritten ab.

Aber wie kam es zu diesem neuen Schwung? Alles begann, wie der Vorsitzende der Metallergewerkschaft Vasas, Béla Balogh, erzählt, im Frühling, als schon eine Vorform des später von den Gewerkschaften als „Sklavengesetz“ bezeichneten Gesetzesentwurfs vorgestellt wurde. Als jedoch erste Kritik daran laut wurde, wurde das Gesetz wieder zurückgezogen. Wahrscheinlich auch aufgrund der bevorstehenden Wahlen, wie Balogh vermutet.

Dass der Gesetzesentwurf wiederkehren würde, war Balogh schon damals klar. Nachdem im Herbst erst die Cafeteria-Leistungen, also die zusätzlichen geldwerten Leistungen des Arbeitgebers beschnitten worden waren, brachte dann der erneut auftauchende Vorschlag zur Überstundenregelung für sie das Fass zum Überlaufen.

Die interviewten Gewerkschaftsführer sind sich einig, dass die Regierung mit dem Vorschlag und dem Durchwinken des sogenannten Sklavengesetzes nun eine Schwelle der Nicht-Kommunikation überschritten habe. Sie fühlen sich übergangen und es gäbe überhaupt keinen Dialog über diese Änderungen, die ja genau ihr Gebiet, nämlich das Arbeitsrecht, betreffen, empört sich Balogh. Dass ein so weitreichendes Gesetz, wie das nun verabschiedete „Sklavengesetz“, ohne vorherige Konsultationen im Alleingang entwickelt und dann einfach beschlossen wurde, findet er geradezu skandalös.

Auch weisen die Gewerkschaftsführer die Erklärung von Minister Péter Szijjártó zurück, der deutsche Investoren für das Gesetz verantwortlich macht. Tamás Székely hat bereits mit über 60 internationalen Firmen verhandelt, die von einem Einsatz der neuen arbeitgeberfreundlichen Regelungen absehen.

Neue Dialogplattformen

Tamás Székely erzählt, dass die Orbán-Regierung von Anfang an signalisiert habe, dass sie weder an der Meinung der Arbeitgeber noch der der Arbeitnehmer interessiert sei. Sie schaffte 2010 als Erstes die seit 1989 tätigen OÉT-Ausschüsse („Landesrat für Abstimmung der Interessen“) ab. Das war eine Dialogplattform zwischen den sechs damaligen Konföderationen, sechs Arbeitgeberverbänden und der Regierung. Stattdessen schuf sie zwei neue, kleinere Organe; das „Ständige Konsultationsforum der Wettbewerbssphäre und der Regierung“ (VKF) sowie einen „Wirtschafts- und Sozialrat“ (NGTT), der aber laut Székely nur ein „Schaufenster-Gremium“ darstellt. Er wird der EU als Dialogplattform präsentiert, hat jedoch kaum eine praktische Bedeutung.

DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell (2. v. l.) mit den Vorsitzenden der ungarischen Gewerkschaftsbünde beim kürzlichen Budapest-Besuch. (Foto: DGB / Kerstin Deppe)

Der NGTT wird zwar von der Regierung koordiniert, findet aber oft ohne ihre Teilnahme statt. Beide Ausschüsse sind wesentlich ineffektiver als der vorher bestehende OÉT-Ausschuss, auch sind sie deutlich weniger repräsentativ. Daneben gibt es nach wie vor den „Landesrat des Öffentlichen Dienstes“ (OKÉT) für den öffentlichen Sektor.

Vereinnahmung durch die Politik

Die Frustration über das Fehlen eines Dialogs und die neuen – auch gesundheitlichen – Zumutungen durch das neue Gesetz führten zur herbstlichen Demonstrationswelle. Die Proteste der Gewerkschaften gegen das „Sklavengesetz“ wurden jedoch schnell von Politikern vereinnahmt, was laut Girndt in den letzten Jahrzehnten oft vorgekommen sei.

Einen Standpunkt zur Parteienpolitik zu finden, stellt die Gewerkschaftsbündnisse oft vor Schwierigkeiten und sorgt für Dissens. So gibt es in der LIGA etwa die Vorschrift, dass man als Mitglied zwar parteipolitisch aktiv sein darf, wenn man aber eine Funktion in der Gewerkschaft übernimmt, muss man sein parteipolitisches Engagement beenden, beides zusammen geht also nicht.

Beim MASZSZ gibt es auch schon einmal interne Meinungsverschiedenheiten, ob man europäische Spitzenpolitiker verschiedener Parteien – wie jüngst Frans Timmermans – treffen sollte oder beim parteipolitischen Dialog doch lieber vorsichtig bleiben sollte und keinerlei Präferenzen, wie von Székely gefordert, erkennen lassen solle.

Auch Girndt rät den Gewerkschaften, sich von der Parteienpolitik fernzuhalten, besonders bei eigenen Aktionen, gleichzeitig aber offen für einen Dialog mit Politikern zu gewerkschaftlich relevanten Fragen zu bleiben. Auch er sieht die Beteiligung der Politiker an den jüngsten Demonstrationen kritisch. Am Ende habe es so ausgesehen, als wenn die Gewerkschaften die Oppositionsverstärkung spielen würden.

Aber auch die Gewerkschaftsleiter selber sehen die Geschehnisse und die Vereinnahmung der Proteste durch die Politiker durchaus skeptisch. Székely selbst kritisiert, dass der MASZSZ nicht Spielball der Parteipolitik sein darf, schließlich gäbe es unter den Gewerkschaftlern die verschiedensten Wähler, die man nicht vergraulen sollte.

Öffentlich kritische Positionen zu aktuellen Gesetzesentwürfen beziehen

Viel wichtiger sei es laut Girndt, dass die Gewerkschaften auch öffentlich kritische Positionen zu aktuellen Gesetzesentwürfen beziehen, nicht als Parteipolitik, sondern aus der Perspektive einer auch politischen Interessenvertretung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. So wurde laut Girndt zum Beispiel eine Stellungnahme zum neuen Familienprogramm der Regierung seitens der meisten Gewerkschaftsbündnisse – bis auf jene des christlichdemokratischen und Fidesz-nahen Bundes der Arbeiterräte – schlicht verschlafen, wie auch Székely zugibt.

Streiken lohnt sich: 18,5 Prozent Lohnerhöhung konnten bei Hankook erstreikt werden. (Foto: MASZSZ)

Grund dafür sei natürlich auch der zur Zeit stattfindende Lohnkampf in vielen Betrieben. Auch hier ist weiterhin mit den Gewerkschaften zu rechnen. Dabei blieb es in den letzten Monaten nicht beim alleinigen Erfolg der unabhängigen Audi-Gewerkschaft, auch in anderen Unternehmen wurden Erfolge erzielt und bessere Lohnerhöhungen ausgehandelt, wie beispielsweise beim südkoreanischen Autoreifenproduzenten Hankook.

Dort hielt die Chemiegewerkschaft mit großer Unterstützung seitens der Beschäftigten (70 Prozent) 10 Tage lang einen Streik durch. Es war der längste Streik in der 116-jährigen Geschichte dieser Gewerkschaft. Statt der angebotenen 10 Prozent wurden 18,5 Prozent Lohnerhöhung durchgesetzt.

Allianz mit Studentenverbänden

Anstatt mit Politikern anzubandeln, sollten die Gewerkschaften eine stärkere Anbindung an die zivile Sphäre und zivile Organisationen suchen, denn hier gäbe es mehrere Anknüpfungspunkte, etwa wenn es um die Arbeitsbedingungen für Menschen mit Behinderungen gehe, meint Girndt. Im Herbst entstand auch erstmals eine Allianz mit Studentenverbänden („Hallgatói Szakszervezet“), die von allen Seiten sehr positiv aufgenommen wird. Von dieser neuen Solidarität versprechen sich die Gewerkschaften auch Zugang zu den Ausbildungsstätten, um so auch bei jungen Menschen ein Bewusstsein für die Bedeutung von Gewerkschaften zu schaffen.

Gleichzeitig kann das Engagement junger Menschen frischen Wind in die eher überalterten Gewerkschaftsstrukturen bringen. Die Gewerkschaften stehen im Austausch mit ihren Infrastrukturen zur Verfügung, teilweise sogar mit sehr attraktiven, wie etwa mit dem wunderschönen Gebäude der Metallergewerkschaft, die eine der ältesten, traditionsreichsten und zahlenstärksten Gewerkschaften ist.

Fazit

Seit etwa einem halben Jahr lässt sich ein leichter Auftrieb der Gewerkschaften feststellen, der durch die Serie von Streiks und Lohnverhandlungen wohl noch weiter andauern wird. Im Vergleich zu Deutschland hat Ungarn noch einiges aufzuholen. Gute Beziehungen nach Deutschland wie zur IG Metall und zum DBG werden unterhalten und in gemeinsamen Projekten wie den neuen Transnationalen Partnerbüros (TPI) in Győr und Kecskemét weiter ausgebaut. Auch europaweit vernetzen sich die Gewerkschaften immer weiter.

Leicht steigende Mitgliederzahlen sorgen ebenfalls für einen verhaltenen Optimismus. Außerdem wird die Position der Gewerkschaften aufgrund eines leergefegten Arbeitskräftemarktes für Facharbeiter sowie der anhaltenden Abwanderung gegenüber dem Management in Lohnverhandlungen natürlich derzeit sehr begünstigt. Auch das gibt den Gewerkschaften einen Rückenwind, um wieder häufiger das Mittel des Streiks einzusetzen. Insgesamt sind die Gewerkschaften in Ungarn noch immer eine nicht außer Acht zu lassende, gesellschaftliche Kraft.

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