Die Eurostat-Graphik zeigt den AIC-Index des privaten Konsums in der EU-27 für 2023 (EU = 100).

Armes Ungarn?

Fachressort gibt Nachhilfe

„Es ist totaler Nonsens und eine vorsätzliche Lüge, Ungarn als ärmstes Land der EU hinzustellen, nur weil es beim privaten Verbrauch den letzten Platz belegt.“ So vehement versuchte das Wirtschaftsressort eine Welle von „Falschmeldungen“ in den linksliberalen Medien des Landes richtigzustellen.

Auslöser dieser Pressemitteilung des Ministeriums war die aktualisierte Eurostat-Datenreihe für den privaten Konsum, der kaufkraftbereinigte AIC-Index. Der sieht wie gehabt Luxemburg vorne (mit 138% des EU-Standards), am Ende der „Wohlstandsliste“ für 2023 aber plötzlich Ungarn mit gerade mal 70% des Durchschnittsverbrauchs in den EU-27. In zahlreichen linksliberalen, der Orbán-Regierung kritisch bis feindlich gegenüberstehenden Medien wurde diese Botschaft als Beleg „gefeiert“, Ungarn sei damit erwiesenermaßen das ärmste Land der Gemeinschaft. Das Wirtschaftsministerium widerspricht dieser „fehlerhaften Interpretation“.

Da kennt nicht jeder das Einmaleins

Es gehöre zum 1×1 der Ökonomen, dass Familien ihr Einkommen ganz nach ihrer eigenen Entscheidung verkonsumieren oder ansparen können. Deshalb seien Verbrauchsdaten für sich genommen nur von eingeschränkter Aussagekraft, der Rückschluss auf die Armut aber eine bösartige Manipulation. Die ohnehin hohe ungarische Sparrate sei nicht zuletzt wegen des Krieges in der Nachbarschaft, der das Vorsichtsmotiv bestärkt, auf mehr als 21% – den höchsten Wert in der EU – gestiegen. In den letzten zwei Jahren habe das Finanzvermögen der Haushalte um rund 22.500 Mrd. Forint zugenommen; zum Vergleich seit 2010 um insgesamt 72.000 Mrd. Forint auf aktuell 102.000 Mrd. Forint (265 Mrd. Euro). Das entspreche 106% am BIP und somit einem Wert im EU-Mittelfeld. Die Orbán-Regierung animiere die Bevölkerung bewusst, Staatsanleihen zu halten, so dass die privaten Haushalte Ende 2023 knapp 22% der Staatsschulden kontrollierten.

Der nominale Bruttolohn habe sich gegenüber 2010 mehr als verdreifacht, der Mindestlohn stieg noch dynamischer. (Hier unterschlägt das Fachressort freilich, dass der Mindestlohn von den Sozialisten nicht besteuert wurde.) Zusammen mit einer wachsenden Beschäftigung (die Quote von 81% liegt im EU-Spitzenfeld) haben die steigenden (Real-) Löhne die Armut in der Gesellschaft massiv zurückgedrängt: Im Vergleich zu 2010 sind heute rund 1,2 Mio. Menschen weniger dem Risiko von Armut und Ausgrenzung ausgesetzt.

Besser beim Pro-Kopf-BIP

Für die große Aufregung im Regierungslager sorgte der Boulevardsender RTL, der sich einen Wirtschaftsexperten ans Mikrofon holte, um die besagten Eurostat-Zahlen zu interpretieren. Der Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts GKI, László Molnár, sagte dem Bertelsmann-Medium: „Die ungarische Bevölkerung ist unter Berücksichtigung aller EU-Bürger im Durchschnitt die ärmste. Das führt u. a. zur Flaute im Einzelhandel, denn wir haben nur wenig Geld zur Verfügung, das wir konsumieren können.“

Bei Eurostat liegen hinsichtlich des kaufkraftbereinigten Verbrauchs im Übrigen Österreich und Deutschland ungefähr ein Sechstel über dem EU-Standardwert; in Osteuropa sind einigermaßen überraschend Litauer und Rumänen (rund 90%) besonders konsumfreundlich. Letzteres deckt sich nicht unbedingt mit dem ebenfalls kaufkraftbereinigten Pro-Kopf-BIP, denn das liegt im Osten immer noch in Slowenien und Tschechien am höchsten – Litauen folgt aber immerhin auf Platz 3, Rumänien mit Polen auf einem geteilten 5. Platz. Ungarn hält sich in diesem Ranking der Wirtschaftskraft mit 76% des EU-Durchschnitts im vergangenen Jahr noch besser als Kroatien, die Slowakei, Lettland, Griechenland und Bulgarien.

Konvergenz blieb auf der Strecke

Seit dem EU-Beitritt 2004 wurde Ungarn in seiner Entwicklung freilich von Litauen und Estland, Rumänien und Polen überrundet, während die anderen allesamt näher heranrücken konnten. Beim privaten Verbrauch treten im Osten der Gemeinschaft neben den Ungarn in den letzten zwei Jahrzehnten eigentlich nur Slowenen und Tschechen auf der Stelle, die aber ein ungleich höheres Lebensniveau aufweisen. Die Rumänen haben ihren privaten Konsum seit 2004 mehr als verdoppelt (!), die Bulgaren um gut drei Viertel, Litauer, Polen und Letten um die Hälfte ausgeweitet.

Fazit: Ungarn mag nicht das ärmste Land der EU sein, seine Konvergenz bleibt gegenüber der Entwicklung in den meisten anderen früheren Ostblockstaaten aber auf der Strecke.

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel