Wirtschaft im Schatten der EU-Transfers
Eskaliert der „Freiheitskampf“?
Eigentlich wollten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf ihrem Gipfel in dieser Woche (mal wieder) einer effizient abgestimmten Abwehr der Corona-Pandemie widmen. Doch obgleich das neuartige Coronavirus im ach so demokratischen Europa besonders schwer wütet, lässt Brüssel bald ein Jahr verstreichen, ohne gescheite Antworten zu finden. Als Frankreich und Deutschland in einer gemeinsamen, symbolträchtigen Initiative im Mai den Wiederaufbaufonds lancierten, mochte es wirken, als wolle sich diese Gemeinschaft das Prädikat „solidarisch“ verdienen. Zwei Monate später winkte ein historischer EU-Gipfel den Hilfsfonds durch.
Als historisch wurde dieses Treffen von 27 Nationalstaaten deshalb gefeiert, weil man sich auf der höchsten politischen Ebene des Zusammenhalts in Europa auf das gemeinsame Schuldenmachen verständigen konnte und gleich 390 Mrd. Euro an Subventionen unters Volk streuen will, zuzüglich 360 Mrd. Euro an Krediten. Diese Einigung kam am fünften Tag zäher Verhandlungen zustande – nur eine knappe halbe Stunde fehlte, um als längster Marathon aller EU-Gipfeltreffen in die Geschichte einzugehen. Wenn man sich den Tenor der (linksliberalen) Leitmedien in Deutschland aus jenen Tagen vor Augen führt, schien die Vorbedingung von Rechtsstaatlichkeit für die Vergabe von EU-Geldern der schwerwiegendste historische Durchbruch. Zwar erhielten die „obergeizigen“ Niederländer nicht ihr Vetorecht, um den Südländern beim Geldausgeben genau auf die Finger zu schauen, doch Ungarn und Polen sollten sich warm anziehen angesichts der qualifizierten Zweidrittelmehrheit des Europäischen Rates.
Ein guter oder ein fauler Kompromiss?
Während sich die Medien von Merkels Gnaden mal wieder an den „Schurkenstaaten“ abarbeiteten, hatten Forscher längst nachgerechnet: Der Wiederaufbaufonds war nach zwei Monaten so aufgeweicht worden, dass die Ideengeber Frankreich und Deutschland zu den größten Empfängern von Zuweisungen aufstiegen. Wohlgemerkt hinter Italien und Spanien, weshalb der Rettungsfonds medienwirksam weiterhin als Solidarleistung an die Südländer verkauft werden kann. Die historische Größe der erzielten Übereinkunft kann all das aber nicht schmälern. Ebenso fand viel Beachtung, dass sich nach diesem Kompromiss über EU-Finanzen in der Größenordnung von Billionen Euro praktisch alle Mitgliedstaaten als Gewinner feierten. So sieht ein guter Kompromiss aus.
Dann aber trat das Europäische Parlament auf den Plan. Dort konzentrierte man sich fortan auf den einzigen Aspekt, nämlich die Rechtsstaatskriterien zum Dreh- und Angelpunkt der Transfers zu machen. Die deutsche Ratspräsidentschaft gab hier sicher gerne nach, die Regierungen Polens und Ungarns mitnichten. Spätestens seit dem ersten „Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit“, der unter Federführung von EU-Vizepräsidentin Vera Jourová im Herbst zusammengeschustert wurde, ist klar, worauf das Spiel hinausläuft. Insbesondere Geberländer werden wohlwollend betrachtet, die Querulanten der Gemeinschaft aber geradewegs angeklagt. Die Orbán-Regierung tippt, ihre unnachgiebige Haltung in der Migrationskrise sei der Grund. In ihrer Interpretation ist Ungarn weiterhin ein Rechtsstaat. Ein wichtiges Argument: Jedes Urteil des Europäischen Gerichtshofes wird umgesetzt. Ungarn fordert objektive Maßstäbe für die Rechtsstaatskriterien, die aber bleiben die Kommission in Brüssel ebenso wie das Europäische Parlament schuldig.
Mit der Veto-Drohung haben Warschau und Budapest nun gewissermaßen die Notbremse gezogen. Dem Eilzug der Europäischen Union in eine neue solidarische Zukunft droht der Stillstand, noch bevor er überhaupt richtig Fahrt aufnehmen konnte. Wenig überraschend wird den beiden Ländern aus gewissen Kreisen der Politik sogleich der Schwarze Peter zugeschoben. In der Tat kann jeder einzelne Mitgliedstaat den EU-Haushalt blockieren, die Gründungsväter der Gemeinschaft konnten sich halt nicht vorstellen, dass je ein Land diesen Gedanken ernsthaft in Erwägung zieht. Allmählich reift die Vorstellung, Polen und Ungarn sollten aussteigen, den Absprung nach dem Vorbild Großbritanniens vollziehen. Andere vertrauen unbeirrt darauf, die Abtrünnigen mit Geld zu einem Einlenken bewegen zu können. Dass es hier längst um eine Frage der nationalen Souveränität geht, wird geflissentlich übersehen. Aber möchte Ungarn dem Klub überhaupt den Rücken kehren?
Mit allen Unwägbarkeiten kalkuliert
Die Antwort ist eindeutig: Natürlich nicht – ohne jedes Wenn und Aber. Ministerpräsident Viktor Orbán hat allen dahingehenden Spekulationen in der Vergangenheit stets eine klare Abfuhr erteilt. Schließlich weiß keiner besser als er, wie viel dieses prosperierende Land der Europäischen Union diesseits und jenseits der Transferzahlungen zu verdanken hat. Nichtsdestotrotz gilt Orbán nach drei Jahrzehnten im politischen Geschäft als alter Fuchs (beim historischen Sommergipfel bezeichnete er sich gleich selbst so), der alle Unwägbarkeiten einkalkuliert. Beschränkt auf die unliebsamen Finanzen sieht das ungefähr wie folgt aus.
Schon seit Jahren können wir die Praxis dieser Regierung beobachten, die Ausschreibungen für EU-Fördermittel konsequent durchzupeitschen und dabei von vornherein mit „einhundertzehn“ Prozent zu kalkulieren, um den tatsächlichen Mittelfluss zu optimieren. Noch interessanter erscheint aus diesem Blickwinkel, dass die Regierung ständig in Vorleistung geht. Budapest wartet also nicht auf die Bewilligung der konkreten Programme durch Brüssel, sondern schießt das Geld vertrauensvoll vor. Das Wirtschaftsportal portfolio.hu hat errechnet, dass Ungarn aus dem EU-Finanzrahmen der Jahre 2014-2020 noch rund 11 Mrd. Euro zustehen. Für Liquidität sorgen außerdem Devisenanleihen, deren Begebung in diesem Jahr wieder forciert wurde.
Schnell noch Liquidität abschöpfen
In der jüngeren Vergangenheit hatte die Zentrale zur Verwaltung der Staatsschulden (ÁKK) die Strategie verfolgt, den Anteil der in Fremdwährungen zu bedienenden Schulden systematisch zu senken. Diese zu Zeiten sozialistisch-liberaler Regierungen eher dominante Position wurde zuletzt gegen 15 Prozent gedrückt, der Zielkorridor entsprechend auf 10-20 Prozent eingeschossen. In diesem Jahr erfolgte jedoch eine Kehrtwende: Nach einer Euro-Anleihe im Frühjahr, der ersten grünen Anleihe und einer Samurai-Anleihe wurde der Jahresfinanzierungsplan im November aufgestockt und praktisch im gleichen Atemzug eine Anleihe über 2,5 Mrd. Euro begeben. Dem Vernehmen nach wird der Spielraum eines Devisenanteils von höchstens zwanzig Prozent damit maximal ausgeschöpft.
Selbst wenn es um Ungarns Bonität angesichts der im Regionalvergleich hohen Staatsschulden weniger gut bestellt ist, braucht das Land für seine langfristigen Schuldentitel keine zwei Prozent an Zinsen zu zahlen – bei zehnjährigen Papieren ist es kaum mehr als ein halbes Prozent. Der „Freiheitskampf“ zur Erringung einer weitreichenden Unabhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten wird also geschickt gekoppelt mit dem Abschöpfen von Liquidität an eben diesen Märkten. Bei der aktuellen Begebung wollten die Anleger wieder das fünffache Emissionsvolumen platzieren, mit einer Tendenz zu immer längeren Laufzeiten. Womöglich könnte sich der ungarische Staat auch auf hundert Jahre im Voraus verschulden – finanzielle Engpässe drohen einem Freiheitskämpfer Orbán von dieser Seite eher nicht.
Im kurzfristigen Schuldenmanagement ist dessen ungeachtet Vorsicht geboten, erst recht wenn Brüssel den Geldhahn für Budapest mit Hinweis auf die Rechtsstaatskriterien letztlich doch zudrehen sollte. So lässt sich erklären, dass die Schuldenzentrale über das Jahr hinweg Dollaranleihen im Gesamtvolumen von rund 1 Mrd. USD vorfristig tilgte, die in früheren Jahren aufgelegt worden waren und den Anlegern deutlich höhere Erträge versprachen. Der aktuell zunehmende Finanzierungsbedarf wird natürlich vordergründig durch die in der Corona-Krise massiv gestiegenen Ausgaben für das Gesundheitswesen und die Stabilisierung der Wirtschaft motiviert. Daneben wappnet sich die ÁKK aber schon heute für das kommende Jahr. Genauer gesagt sind die Devisenabläufe bis 2023 nunmehr in Sack und Tüten.
Kräftefeld funktioniert nicht länger
Dem Politiker Orbán schwebt logischerweise das Datum Frühling 2022 vor Augen, wenn es für ihn gilt, die Opposition zum vierten Mal in Folge zu schlagen. Das Konzept des zentralen Kräftefeldes funktioniert nicht länger, in dem sich der Fidesz breit in der Mitte positionierte und die Opposition an den Flanken links und rechts politisch austrocknete. Sollte das breite Parteienspektrum von Sozialisten über Liberale und Grüne bis hin zu Rechtsnationalen die zu den Kommunalwahlen erfolgreich praktizierte Einheit bis zu den Parlamentswahlen in anderthalb Jahren durchhalten können, muss Orbán in wirtschaftlichen Belangen punkten. (Erst recht, wenn die zweite Welle der Corona-Pandemie das Gesundheitswesen an den Rand des Abgrunds drücken sollte.)
Indem die Schuldenzentrale die Gunst der Stunde nutzte und die externe Finanzierung für die nächsten Jahre absicherte, baut sie den Unwägbarkeiten einer politischen Eskalation der EU-Krise vor. Der ohnehin historisch schwache Forint gelangt in Teufels Küche, sofern sich die Fronten im Veto-Streit weiter verhärten. Einer auf ihre Souveränität pochenden Orbán-Regierung kommt eine Währungskrise natürlich nicht recht – da genügt es, jüngere Beispiele aus Russland und der Türkei heranzuziehen. Um politische Verwerfungen zu verhindern, muss der Ministerpräsident aber auch die internen Finanzen unter Kontrolle halten.
Wie viel Spielraum bleibt?
Das erscheint in Zeiten einer schrumpfenden Wirtschaftsleistung beinahe noch schwieriger, als das Wohlwollen internationaler Anleger inmitten einer gewollten globalen Liquiditätsschwemme zu erheischen. Der Staat erwies sich in diesem schwierigen Jahr mal wieder als Nimmersatt. Hielt sich die Orbán-Regierung seit der mit dem Rauswurf des Internationalen Währungsfonds gekoppelten „Rentenreform“ strikt an das Maastricht-Kriterium, nicht mehr als drei Prozent Neuschulden jährlich zuzulassen, waren es während der Monate der Notstandslage runde zehn Prozent am zeitanteiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Obgleich es sich zu Jahresbeginn und im Sommer weitgehend unbehelligt vom Virusgeschehen wirtschaften ließ, rechnet Finanzminister Mihály Varga für das Gesamtjahr 2020 mit einem ausufernden Haushaltsdefizit um sieben bis neun Prozent.
Die Staatsschulden sind – wie die Ungarische Nationalbank (MNB) soeben meldete – schon Ende September bei annähernd 74 Prozent am BIP angelangt. Damit hat die Krise binnen weniger Monate drei Jahre des systematischen Schuldenabbaus zunichte gemacht. Nominal ist der Schuldenberg auf 35.000 Mrd. Forint angewachsen; seit Jahresanfang kamen frisch rund 4.000 Mrd. Forint hinzu. Faktisch als Gegengewicht hat die Regierung ihre Einlagen bei der MNB in die Nähe von 3.000 Mrd. Forint aufgestockt – den bei weitem höchsten Stand seit Aufnahme des IWF-Hilfspakets zu Zeiten der Vorgänger an der Regierung. Das ist noch etwas mehr, als das Defizit des Staatshaushalts Ende Oktober erreichte (2.600 Mrd. Forint).
Das Finanzministerium hat sich in der krisenbedingt überarbeiteten Haushaltsplanung einen Spielraum von 1.000 Mrd. Forint bis Jahresende eingeräumt. Da ist noch gar nicht berücksichtigt, dass der Staat bei den EU-Projekten auch im laufenden Jahr wieder mit 650 Mrd. Forint in Vorleistung ging. Die Kosten der Corona-Abwehr werden seit Monaten konstant auf rund 600 Mrd. Forint beziffert (vermutlich sind hier die chaotischen Beschaffungen von Schutzausrüstungen im Frühjahr tonangebend), die Rechnung dürfte aber am Ende markant höher ausfallen. Die weihnachtliche Geldverteilung mit den gewöhnlichen Privilegierten (Stadien, Kirchen, Diaspora) wird in diesem Jahr wohl ausfallen müssen. Um etwa den brodelnden Kessel Sozialwesen auf kleinere Flamme zu setzen, könnten ungefähr 50 Mrd. Forint ausreichen – in Form einer einmaligen Prämie nach dem Vorbild der Ausschüttung vom Sommer im Gesundheitswesen. Auch die Ärzte sind längst nicht ruhiggestellt, denen der Staat im Tausch für massive Lohnerhöhungen ein neuartiges Dienstverhältnis auferlegen will. Die überwältigende Ablehnung der militärischen Dienstordnung hat offenbar auch Orbán überrascht, der in der EU gerne auf größere Werte fernab der Geldtransfers pocht, daheim aber mit Geldspritzen alle Probleme zu meistern glaubt.
Feuerlöschen gegen Flächenbrand
Da die Wirtschaft derzeit kaum überschaubar schrumpft, ist es gescheiter, die klammen Finanzen zusammenzuhalten, so gut es geht. Im Herbstquartal konnte auch Ungarns Wirtschaft zweistellig wachsen und sich dabei im europäischen Mittelfeld platzieren. Gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum fehlten aber immer noch rund fünf Prozent an Wirtschaftsleistung. Ein halbes Jahr in der Rezession minderte das Nationaleinkommen um geschätzte 2.500 Mrd. Forint! Zwar haben sich die Unkenrufe (vorerst) nicht bewahrheitet, wonach Ungarn zu den größten Verlierern der Corona-Krise in Europa gehören wird. An Stelle der sehnlichst erhofften V-Kurve mit einem schnellen Neustart der Wirtschaft dominiert nun jedoch die ernüchterte Erwartungshaltung einer W-Kurve. Wenn sich die Erholung in die Länge zieht, werden die öffentlichen Finanzen entsprechend länger und womöglich über Gebühr strapaziert.
Allein für die Automobilindustrie, einen der großen Stützpfeiler der einheimischen Wirtschaft, sieht der europäische Fachverband ACEA über die ersten neun Monate einen kumulierten Produktionsausfall von vier Millionen Pkw. Ein Viertel dieser Einbußen musste Deutschland wegstecken, aber auch Ungarn schmerzt die Zahl von rund 100.000 Autos, die hierzulande nicht wie geplant vom Band liefen. In der durch die Reisebeschränkungen besonders arg gebeutelten Tourismusbranche bahnt sich im langen Corona-Winter geradewegs eine Katastrophe an: Zwei von drei Arbeitsplätzen wurden im Hotellerie- und Gastgewerbe, Veranstaltungssektor und Fremdenverkehr bereits wegrationalisiert. Weitere stehen unweigerlich zur Disposition, wenn die Branche vor 2022/23 keine Rückkehr zu Normalität erwartet und sich die Regierung nur mit halbherzigen Überbrückungskonzepten auf die eigene Schulter klopft.
Wo man auch hinsieht, muss die Politik eiligst ans Feuerlöschen gehen, will sie keinen Flächenbrand erleben. Damit der Ministerpräsident die Corona-Pandemie auf seinem Spielfeld als Nebenschauplatz halten kann, dürfen die Todesfallzahlen nicht durch die Decke gehen und das Gesundheitswesen nicht an jene Grenzen stoßen, die eine Triage heraufbeschwören. Ob er sich wirklich mit der EU überwerfen will, erscheint zumindest solange waghalsig, wie eine Mehrheit der Ungarn zur Integration steht. In der Wirtschaft sind die sieben fetten Jahre unwiderruflich zu Ende gegangen – hier muss Viktor Orbán das Kunststück vollbringen, seinem Volk die bittere Realität der längst angebrochenen Fastenzeit irgendwie noch schmackhaft zu machen.
Medien von Merkels Gnaden? Diese Formulierung lässt aber doch ziemlich Kenntnis über die Medien in Deutschland vermissen. Dass Deutschland und Frankreich aus einem EU-Hilfsfond mehr beziehen, als Länder wie Ungarn, ergibt sich schlicht aus der Zahl der Einwohner. Sie sind schließlich auch betroffen von Corona. Vor allem aber waren gemeinsame Schulden für Deutschland bisher tabu. Schließlich erhält Deutschland Kredit zu Negativzinsen. Zu dieses Hilfsprogramm wurde Deutschland also wirklich nur aus Gründen der Solidarität und der Stabilisierung der EU-Wirtschaft bewogen. Wie Deutschland ist Ungarn Teil des EU-Wirtschaftsraums und sollte eigentlich sehr großes Interesse daran haben, dass dieser die Corona-Krise schnell überwindet. Merkel hat dies erkannt – Orban hoffentlich auch. Schließlich werden die in Ungarn gebauten Autos nicht nur in Ungarn verkauft. Die wirtschaftliche Erholung kann schnell gehen, wenn die EU-Mittel rasch eingesetzt werden.