Bankensektor vor Herausforderungen
Die Stunde der Patrioten
Die Ungarische Nationalbank (MNB) hatte bei der Vorstellung der Jahreszahlen des Bankensektors für 2019 im Frühling so manches Lob parat, auch wenn sie in ihrer Funktion als Aufsichtsbehörde naturgemäß bei jeder noch so guten Entwicklung die Kritikpunkte nicht vernachlässigen kann. Das größte positive Ergebnis war selbstverständlich das kumulierte Nettoergebnis von 700 Mrd. Forint. Damit hatte der ungarische Bankensektor im vergangenen Jahr nominal das höchste Ergebnis aller Zeiten erzielt und seine Gesamtleistung von 2018 nochmals um 8,5 Prozent übertroffen. Über vier satte Jahre hinweg sammelten sich Nettogewinne in Höhe von 2.400 Mrd. Forint an. Die Konzentration des Sektors setzt sich unaufhaltsam fort, die TOP5 halten mittlerweile zwei Drittel der Marktanteile, die TOP10 überlassen den restlichen Akteuren gerade noch ein Achtel.
Unter den Teilerfolgen stachen die Provisionserträge hervor, die um mehr als ein Fünftel zulegen konnten. Weniger erfreulich erhöhten sich auch die Betriebskosten im zweistelligen Bereich. Auf Sektorenebene wurden dreimal so große Rückstellungen gebildet, wie noch im Jahr zuvor. Der Umstand, dass sich die Gewinne nahezu ausschließlich auf die Großbanken konzentrieren, vermittelt auch nicht gerade den Eindruck eines ausgewogenen Gesamtbildes. Die Eigenkapitalrendite hielt sich oberhalb von 13 Prozent auf einem hohen Niveau, aber auch hier wurde das noch bessere Abschneiden des Jahres 2018 nicht wiederholt. Das Gleiche trifft für die Anlagerendite (1,4 Prozent) zu, während sich die Relation von Aufwendungen zu Erträgen um einen Prozentpunkt auf 64,7 Prozent verschlechterte. Alle wichtigen Kennzahlen fallen zudem bei den großen Geldinstituten markant besser aus, als bei den mittleren und kleineren Akteuren auf dem Markt.
Die ungarische Holding
Das Feld der Großbanken bilden jene Kreditinstitute, die Bilanzsummen jenseits von 1.000 Mrd. Forint aufweisen. Der Branchenkrösus OTP erbringt allein mit dem angestammten Ungarngeschäft allmählich das Zehnfache dieser Summe, die auf den Plätzen folgenden internationalen Bankhäuser K&H, UniCredit und Erste erreichen nur zusammengenommen das gleiche Gewicht. In der TOP10 des ungarischen Marktes finden sich mit Raiffeisen und CIB zwei weitere ausländische Bankgruppen, zu denen sich drei einheimische Institute gesellen: Takarék, MKB und Budapest Bank. Dass dies so ist, darf dem Wirken der national-konservativen Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán zugeschrieben werden.

Diese hatte sich bei ihrem Amtsantritt zum Ziel gesetzt, eine Mehrheit des Bankensektors in ungarische Hand zu geben, und sich diesem strategischen Ziel über die Jahre systematisch angenähert. So wurden zwei deutsche und eine amerikanische Investorengruppe ausbezahlt. Im Falle der Takarék kam es zudem zu einer langwierigen Konsolidierung und Neustrukturierung des heimischen Marktes der Spargenossenschaften; die Integration der Sparkassen wurde gerade zur Jahresmitte endgültig abgeschlossen. Es handelt sich dabei wohl um den größten Umbau im Nachwende-Ungarn, denn seit 2013 wurden insgesamt 126 Geldinstitute zusammengelegt. Dabei mussten in drei Fusionsphasen gleich neun kontoführende Systeme sowie sechs Netbank-Systeme aufeinander abgestimmt werden. Am Ende dieses langwierigen Prozesses fanden sich rund siebentausend Mitarbeiter unter einem Dach wieder. Aus den einstigen Sparkassen und dem früheren Spitzeninstitut der Integration gelangten sämtliche Konten der privaten und gewerblichen Kunden mitsamt Einlagen und Krediten zur neuen Takarékbank, die heute 1,1 Millionen Kunden zählt.
Doch als wären sieben Jahre der fortlaufenden Integrations- und Konsolidierungsprozesse nicht genug, wurde ebenfalls unbeeindruckt von der Corona-Krise zur Jahresmitte die „Ungarische Bankholding“ aus der Taufe gehoben. Symbolträchtiger könnte der Name kaum sein, kommt es hier doch zur Vereinigung der drei in ungarisches Eigentum zurückgeführten Geldinstitute. Ursprünglich unterzeichneten eine entsprechende Absichtserklärung Repräsentanten der Takarék-Gruppe und der MKB Bank, doch keine zwei Wochen später meldete die rückverstaatlichte Budapest Bank an, sich dem Bund anschließen zu wollen. Damit wird eine Bankengruppe entstehen, die 1,9 Millionen Kunden in 920 Filialen bedient und mit einer kumulierten Bilanzsumme von 5.800 Mrd. Forint alle ausländischen Geldinstitute in Ungarn auf einen Schlag überrundet. Zwar bleibt die OTP auch in der neuen Konstellation unangefochten auf Platz 1, die ausländischen Institute könnten den lange behaupteten 2. Platz aber nur dann zurückerobern, wenn sich ihre Eigentümer ebenfalls zu einer Fusion entscheiden würden.
Euphorische Kreditvergaben
Das eine ist die Größe der Banken, das andere die Dynamik ihrer Geschäftsprozesse. Wie geschildert, geht es getrieben von einer unbändigen Fusionsfreude in den von Staat oder Oligarchen kontrollierten Häusern rasant zu. Dabei ist auch das sogenannte organische Wachstum des Sektors nicht ohne: Gleich fünf Großbanken gelang es 2019, ihren Einlagenbestand gegenüber 2018 im zweistelligen Bereich zu erhöhen. Die Erste und die Budapest Bank waren dabei besonders erfolgreich, denn sie mehrten ihre Kundeneinlagen um sage und schreibe ein Viertel. Das bedeutet allein bei diesen zwei Marktakteuren einen Zuwachs um 600 Mrd. Forint. Freilich reichte Marktführer OTP eine Steigerung um ein gutes Achtel, um bei den absoluten Zahlen auch weiterhin die Nase vorn zu haben, mit einem Zuwachs der Kundeneinlagen um mehr als 750 Mrd. Forint.
Die Banken kanalisieren aber nicht nur das infolge eines seit Jahren robusten Wirtschaftswachstums schwungvoll zunehmende Vermögen der Bürger und Firmen, sie kurbeln auch die Konjunktur mit neuerlich intensivierten Kreditvergaben weiter an. Eigentlich sollte das immer im Verhältnis zu den gesammelten Einlagen geschehen, aber in Zeiten des Aufschwungs nahm man diese Ratio mancherorts nicht mehr so genau und ließ sich von der Euphorie mitreißen. Das Kreditgeschäft florierte stärker, als das Einlagengeschäft, weshalb nicht nur die Mehrheit der Großbanken hier zweistellige Zuwächse verzeichnete, sondern gerade jene voranpreschten, die sich weniger um den Rückhalt in ihren Bilanzen scherten.
Die Takarék-Gruppe steigerte ihre Kreditausreichungen um mehr als ein Viertel und damit siebeneinhalb Mal schneller, als ihre Einlagen. Der übergewichtige Akteur im Verbund der entstehenden ungarischen Bankenholding erreichte am Jahresende ein Kredit-Einlagen-Verhältnis von 90 Prozent und könnte somit schneller als jedes andere Geldinstitut hierzulande auf zusätzliche Refinanzierungsquellen mit Blick auf die vergebenen Kredite angewiesen sein. Der neue Holdingpartner Budapest Bank stand ein Jahr zuvor noch schlechter da, steuerte jedoch 2019 dagegen und mehrte die Einlagen doppelt so schnell wie die Kreditvergaben. Das stabilste Mitglied der Superholding wäre nach dem Kredit-Einlagen-Verhältnis zu urteilen demnach die MKB. Die brachte es bei dieser Verhältniszahl am Jahresende auf 75 Prozent und vergab dabei nach einem langwierigen, von der Europäischen Bankenaufsicht mit strengen Auflagen begleiteten Konsolidierungsprozess sogar wieder absolut mehr Kredite, während die Bilanzsumme nochmals um fünf Prozent und die Einlagen gar um zehn Prozent schmolzen.

In der Kreditvergabe preschten im vergangenen Jahr außerdem Erste und Raiffeisen auffällig nach vorne. Die Österreicher verbrannten sich einst mit der ungezügelten Vergabe von Fremdwährungskrediten nicht nur die Finger, können heute aber immerhin auf ein Einlagenpolster von einem guten Drittel über den Kreditausreichungen verweisen. Für die Stabilität des ungarischen Bankensektors spricht vor allem, dass die drei größten Institute absolut ausgewogen und dennoch dynamisch wachsen. Das lässt sich sowohl für die UniCredit als auch für die K&H sagen, aber erst recht für Marktführer OTP. Denn das Kind des lange Zeit als reichster Mann Ungarns ausgewiesenen Großunternehmers Sándor Csányi könnte die Kreditvergabe von heute schon weit über 3.500 Mrd. Forint ohne weiteres verdoppeln und wäre noch immer auf keine Fremdfinanzierung angewiesen.
Eine Klasse für sich
Die OTP ist in der Tat eine Klasse für sich. Gemeinsam mit ihren Tochtergesellschaften, die über ein Dutzend Länder der Region verstreut angesiedelt sind, erwirtschaftet sie mittlerweile im Quartalstakt Nettogewinne in der Größenordnung von 100 Mrd. Forint. Selbst wenn die neue Bankholding mit Rückendeckung der Regierung zu einem passablen Konkurrenten auf dem Heimatmarkt Ungarn geformt wird, nutzt die OTP ihre angehäufte Kapitalkraft zu regionalen Akquisitionen im Jahrestakt und ist im Osten Europas durchaus klassischen Bankhäusern aus Österreich, wie Erste und Raiffeisen, oder aus Italien, wie UniCredit und Intesa, ebenbürtig.
Während hierzulande ein Einlagenbestand jenseits von eintausend Milliarden Forint zum Status einer Großbank „berechtigt“, hat die OTP im Gesamtkonzern im vergangenen Jahr allein aus Zinsen und Provisionen mehr als 1.000 Mrd. Forint erzielt. Der Krösus bedient seine Kunden global in 1.750 Filialen oder alternativ über mehr als 5.000 Bankautomaten, während er weit über 40.000 Mitarbeiter beschäftigt. Die OTP ist allein mit den daheim erzielten Gewinnen der mit Abstand profitabelste Akteur im ungarischen Bankensektor, und dabei entspringt mittlerweile ungefähr die Hälfte des Profits dem Auslandsgeschäft. Die Eigenkapitalrendite ist wieder über 20 Prozent geklettert und nähert sich dem Rekordniveau aus der Zeit vor der großen Finanzkrise. Die in den Jahren 2007/08 erreichten 25 Prozent sind deshalb als weniger spektakulär anzusehen, weil den Banken seither erheblich strengere Auflagen gemacht werden. Außerdem darf man das Zinsumfeld nicht außer Acht lassen, denn die Nettozinsmarge hat sich seit der vorigen Krise um ein Drittel auf aktuell noch vier Prozent verringert.
Nicht nur ein Rennpferd im Stall
Ist demnach die OTP das einzige Rennpferd im heimischen Stall? Der neu gewählte Präsident des Ungarischen Bankenverbandes, Radován Jelasity, sieht das entspannter. „Die jetzige Lage ist ungeachtet der Corona-Krise weitaus stabiler, als das 2008 der Fall war. Der Bankensektor steht auf stärkeren Beinen, die Bevölkerung belasten keine Fremdwährungskredite, hinter den Projektkrediten stehen deutlich höhere Deckungen“, sagte der Chef der Erste Bank Hungary unlängst dem Nachrichtenportal index.hu. Gehörte Ungarn in diesen Belangen 2008 zu den Schlusslichtern in Europa, tummelt es sich heute eher im Spitzenfeld. Seinen Optimismus speist nicht zuletzt der Umstand, dass diese Krise nicht von Finanzprodukten und falschen Anlageentscheidungen ausging, selbst wenn diese „Zivilisationskrise“ natürlich auch auf die Geldinstitute durchschlagen wird.

Hinsichtlich einer nun viel leichter denkbaren Konsolidierung des Marktes versteht Jelasity die Krise sogar als Chance. In der EU nahm das Teilnehmerfeld auf dem Bankenmarkt bereits in den letzten fünf Jahren, also gewissermaßen zu Friedenszeiten, um ein Fünftel ab. Wenngleich sich diesbezüglich hierzulande abgesehen von staatlichen Intentionen weniger tut, zeigt sich der Sektor durchaus innovativ. Das von der MNB mit verbindlichem Charakter für sämtliche Akteure durchgedrückte Sofortzahlungssystem ist beispielsweise dermaßen erfolgreich, dass die ungarischen Erfahrungen selbst in Frankfurt und Brüssel aufmerksam studiert werden.
Neuer Stresstest statt eitel Sonnenschein
Dessen ungeachtet haben sich seit der Mitte März verkündeten Notstandslage die Gewitterwolken verdichtet. Die wegen der Corona-Krise verhängten radikalsten Maßnahmen, mit denen die Wirtschaft ohne Rücksicht auf Verluste heruntergefahren wurde, um die Infektionswelle schnellstmöglich einzudämmen, sind mittlerweile wieder aufgehoben. Noch bis zum Jahresende bleibt jedoch die Stundung von Krediten in Kraft. Regierung und Notenbank wollten private Haushalte und Unternehmen in der Krise von der Zahlung der auflaufenden Tilgungsraten befreien – rund 3.600 Mrd. Forint standen auf dem Spiel. Weil die weiterhin liquiden Steuerzahler und Wirtschaftsakteure die Aufschiebung ihrer Zahlungsverpflichtungen in eine ungewisse Zukunft ablehnten, sank dieser Betrag letztlich auf eine Größenordnung von 2.000 Mrd. Forint. Für diese Beträge müssen die Banken nun allerdings mit einem erhöhten Ausfallrisiko rechnen. Erstaunlicherweise nahmen die Risikokosten bei den meisten Geldinstituten bereits im Vorjahr wieder zu; dieser Prozess wird durch das Coronavirus und seine wirtschaftlichen Folgen beträchtlich an Fahrt aufnehmen.
Von eitel Sonnenschein kann heute somit keine Rede mehr sein, die Banken gehen spätestens 2021 auf einen neuen „Stresstest“ zu. Da das Virus entgegen ersten Hoffnungen auch im Sommer nicht verschwindet, gibt es keine echte Verschnaufpause – immer mehr Geschäftsmodelle werden dauerhaft in Frage gestellt und demzufolge Existenzen gefährdet. Wenn man vom Anlagevermögen ausgeht, ist der ungarische Eigentumsanteil im Bankensektor dank intensiver Bemühungen der Regierung auf knapp sechzig Prozent gestiegen. Im Umkehrschluss sank der Anteil ausländischer Bankenhäuser. Sobald es also wieder an das Zahlen der „Zeche“ geht, kann Orbán im Bankensektor ausländische Eigentümer nur noch bedingt zur Kasse bitten. Den größten Teil der Rechnung müssten die, auch mit Rückenwind der Regierung großgewordenen ungarischen Banken begleichen.