Der neue Europaplan von Bundeskanzlerin Angela Merkel dürfte bei Ministerpräsident Viktor Orbán für gemischte Gefühle gesorgt haben. (Foto: Ministerpräsidentenamt/ Zoltán Fischer)

Europäische Krisenplanung

Der Osten ist nicht länger das Sorgenkind

Werden Ungarn und die Visegrád-Staaten schon bald mit in die Pflicht genommen, die angeschlagenen Südeuropäer zu retten? Eine Utopie rückt näher.

Während sich Ungarn für die erfolgreiche Abwehr der Corona-Krise feiert und in der Wirtschaftspolitik schnellstmöglich neue Prioritäten setzen will, um die Notstandslage vergessen zu machen, wird sich die Europäische Union vollkommen neu definieren (müssen). Das dürfte Ministerpräsident Viktor Orbán bei der Videokonferenz der Visegrád-Staaten (V4) am Dienstag mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel realisiert haben. Nur einen Tag vorher hatten Deutschland und Frankreich einen ehrgeizigen Plan vorgelegt, wie die Gemeinschaft den Weg aus der Krise finden könnte.

Das Wiederaufbauprogramm, mit dem in erster Linie angeschlagenen Mitgliedstaaten wie Italien oder Spanien unter die Arme gegriffen werden soll, würde demnach auf dem Wege einer (einmaligen) Erweiterung des EU-Haushalts finanziert. Gemeinsam mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron veranschlagte Merkel den Finanzrahmen auf 500 Mrd. Euro. Damit sind wohl die von Spanien (und von George Soros) ins Spiel gebrachten Eurobonds vom Tisch, die eine Vergemeinschaftung der Schulden mit sich gebracht hätten. Der neue Europaplan sieht die Begebung von Anleihen durch die Europäische Kommission mit einer Laufzeit von voraussichtlich maximal zehn Jahren vor – demnach können die zusätzlichen Gelder dank Bestnoten-Ratings praktisch zum Nullzins fließen, während die Garantien erst nach Ablauf des aktuell zur Verhandlung stehenden Finanzrahmens für 2021-2027 fällig würden.

Reifeprüfung früher abverlangt

Ungarn müsste sich im gewohnten Verhältnis seiner Einzahlungen in den Haushalt der Gemeinschaft mit Zahlungsgarantien beteiligen. Da Budapest weniger als ein Prozent zum gemeinsamen Budget beisteuert, wird sich diese Garantie im Rahmen von 5 Mrd. Euro bewegen. Allerdings wird Mittelosteuropa, das die Corona-Krise relativ unbeschadet überstanden hat, nicht als Zielgebiet für die Wiederaufbaugelder betrachtet. Damit rückt die Region erstmals in die Position des Nettogeldgebers. Ministerpräsident Viktor Orbán hatte diese Zielstellung schon einmal für das Jahr 2030 ausgegeben. Nach seinen damaligen Kalkulationen bräuchte das Land ein weiteres Jahrzehnt, um in seinen Modernisierungsbestrebungen so weit voranzukommen, dass man die Gelder der Kohäsionsfonds nicht länger nötig hätte. Merkel und Macron verlangen den Osteuropäern diese Reifeprüfung nun eindeutig früher ab.

Bei den in ihre Endphase tretenden Verhandlungen um den aktuellen EU-Finanzrahmen ab 2021 könnte es Nehmerländer wie Ungarn noch härter treffen, als schon bislang befürchtet. Die Experten des Wirtschaftsportals portfolio.hu kalkulierten mit einer Ausgangslage, wonach Budapest dank seiner Integrationserfolge, wegen des Brexit und durch das Setzen neuer Prioritäten in Brüssel (Stichwort: Klimawandel und Migrationspolitik) bis zu einem Viertel weniger Geld erhalten könnte. Das Coronavirus verschärft die Lage weiter, denn das als Ausgangswert dienende Bruttonationaleinkommen (BNE) wird dramatisch schrumpfen. Doch damit nicht genug, könnte Merkel Macron einen Kompromiss abgerungen haben: Wiederaufbau gut und schön, aber im Gegenzug wird die Anhebung der BNE-Eigenmittel vom Tisch gewischt. Wollten die „Freunde der Kohäsion“ den Weggang der Briten mit einem Aufstocken dieser Gelder auf 1,16 Prozent kompensieren, woraufhin die Kommission mit einem Vorschlag über 1,07 Prozent einzulenken versuchte, könnten sich nun die Geberländer mit ihrem Beharren auf einem runden Prozent des Nationaleinkommens durchsetzen. Anders wird Merkel beispielsweise Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz ganz gewiss nicht umstimmen können, der sich unverzüglich mit den Niederlanden, Dänemark und Schweden über den neuen Europaplan austauschte. Die Aussage der vier kleineren Geberländer lautet scheinbar unerschütterlich: Es darf keine Zuschüsse geben, nur Kredite, die halt zurückgezahlt werden müssen.

Die Visegrád-Staaten haben sich noch nicht offiziell zu dem Plan positioniert. Angeblich konzentrierte sich ihr Gespräch mit Merkel auf die Corona-Krise. Freilich kann man aus dem Wortgebrauch, man habe sich „abgestimmt, wie die wirtschaftlichen Schäden des Coronavirus überbrückt werden können“, durchaus herauslesen, dass Merkel versucht haben dürfte, die V4 auf die neue Lage einzustimmen, besser noch: auf ihren Plan einzuschwören.

Affront gegen ungarische Präferenzen

Weitere unangenehme „Nebenwirkungen“ des deutsch-französischen Plans stellen derweil regelrecht einen Affront gegen die Wirtschaftspolitik der Orbán-Regierung dar. So geht es den großen Ländern mal wieder um die Harmonisierung des Steuerrechts auf europäischer Ebene. Das würde das von Ungarn präferierte System an Steuervergünstigungen untergraben, die eine wichtige Komponente des attraktiven Standortes für Investoren darstellen. Wenn es nach Merkel und Macron geht, werden die Nationalstaaten mehr und mehr das Primat der Gemeinschaft erdulden müssen. Erneut rücken die Bemühungen um eine vertiefte Integration in den Fokus.

Keine Frage, dass der ungarischen Führung solche Bestrebungen Bauchschmerzen bereiten. Gerade am Montag konstatierte Finanzminister Mihály Varga im Anschluss an Ecofin-Beratungen per Videokonferenz, die neuen europäischen Kreditfonds könnten den Osten „erfahrungsgemäß“ benachteiligen. Ungarn würde es deshalb begrüßen, wenn die Garantien im nationalen Rahmen blieben, also die Mitgliedstaaten die Oberhoheit über die Kreditvergabe behalten würden. Ähnlich sträubt sich Ungarn seit langem gegen die Einführung der Gemeinschaftswährung. Die Ablehnung des Euro hat sich in der aktuellen Krise eher noch verstärkt, denn unverändert wird Wettbewerbsfähigkeit über einen schwachen Forint „erkauft“.

Das Vorbild Polen

Das Land möchte lieber weiter einen eigenen Weg verfolgen, wie auch der Grundsatz im Krisenmanagement verdeutlicht, nicht Schulden um jeden Preis zu machen. Weil die Corona-Krise mit den größten Weltwirtschaftskrisen in einem Atemzug genannt wird, haben die meisten Länder gigantische Rettungspakete geschnürt. Auf dem Papier schien das auch hierzulande der Fall zu sein, redete die Orbán-Regierung doch von 18-20 Prozent am Bruttoinlandsprodukt, die ihr Corona-Paket „bewege“. Tatsächlich wird ein Großteil der Gelder über die Ungarische Nationalbank in die Wirtschaft gepumpt, und dabei handelt es sich wenig verwunderlich um Kreditfinanzierungen. Selbst das Kreditmoratorium als eine der entscheidenden Maßnahmen der ersten Stunde entlastet die Unternehmen und privaten Haushalte nur in der Krise, bevor sie ab 2021 den gestundeten Zahlungsverpflichtungen sehr wohl gerecht werden müssen – siehe dazu auch unser Oberbank-Interview auf den Seiten 16 bis 19. Daneben wurden den Unternehmen staatlich garantierte Kreditprogramme aufgelegt, mit denen sie die schwierigsten Monate überleben sollen, in denen ihre Umsätze gegen null tendieren. Außerdem wartet der Fiskus geduldig auf die Einzahlung eigentlich fälliger Steuern und beschleunigt selbst die Prozesse bei der Rückerstattung der Mehrwertsteuer.

Ungarn darf berechtigt darauf hoffen, dank seiner gestärkten Fundamente besser durch diese Krise zu kommen und letztlich gestärkt daraus hervorzugehen. So ist die offizielle Arbeitslosenzahl Ende April zwar wieder bei 330.000 Personen angelangt; exakt so viele waren es 2008 aber schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, während im Lande heute 650.000 Beschäftigte mehr gezählt werden. Ausgehend von der Entwicklung des Arbeitsmarktes im benachbarten Österreich, das Ungarn in der Corona-Krise jeweils „um einige Wochen voraus ist“, könnte auch hier das Tief bald durchschritten sein. Dazu tragen Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld bei, das mittlerweile einhunderttausend Arbeitsplätze sichert, ohne eine zügellose Neuverschuldung des Fiskus zuzulassen.

Den verhaltenen Optimismus der Orbán-Regierung speisen nicht zuletzt die Konjunkturzahlen des ersten Quartals: Während die Wirtschaft in Ländern wie Frankreich, Italien und Spanien bereits hoffnungslos abstürzte und neben Deutschland oder Österreich auch die V4-Länder Slowakei und Tschechien in eine Rezession eintauchten, wuchs die Wirtschaftsleistung in Ungarn noch immer. So robust standen in Europa eingangs der Corona-Krise einzig die Skandinavier, Rumänien, Bulgarien und jenes Polen da, das bereits 2008 eindrucksvoll zeigte, wie man derartige Herausforderungen auf die solide Art meistern kann. Zwölf Jahre später schickt sich Ungarn nun an, den polnischen Freunden nachzueifern.

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