Ungarns Wirtschaftskraft im Regionalvergleich
Das Erfolgs-Jahrzehnt unter der Lupe
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Ausgehend von der Kaufkraftparität erreichte Ungarn Mitte der 1990er Jahre ungefähr die Hälfte der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung der Europäischen Union. Unter den Ländern der Region Osteuropas befindet sich laut Eurostat heute Bulgarien auf diesem Entwicklungsniveau. Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts im Mai 2004 hatte Ungarn zum Vergleich schon etwa sechzig Prozent des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) der EU pro Kopf gemäß der Kaufkraftparität erreicht.
Nach überstandener Weltwirtschaftskrise waren es zwei Drittel, im vergangenen Jahr nahezu drei Viertel. Eine dynamischere Entwicklung gelang unter der Orbán-Regierung erst nach 2013. Seither kann die ungarische mit der polnischen Konvergenz Schritt halten. Die Slowakei wurde nach mehr als einem Jahrzehnt wieder eingeholt, Kroatien deutlicher abgehängt. Unter den alteingesessenen Mitgliedern der Gemeinschaft wurde Griechenland überrundet, Portugal befindet sich nunmehr in Sichtweite.
Tschechien steht wie Spanien und Japan
Unter den Osteuropäern sind traditionell Tschechien und Slowenien, aber auch die baltischen Staaten Estland und Litauen besser aufgestellt. Tschechien als regionaler Spitzenreiter hat mittlerweile das Entwicklungsniveau Spaniens und – kaum zu glauben, aber laut Eurostat wenigstens im Kaufkraftvergleich wahr – Japans erreicht. Die Statistikbehörde der Europäischen Union kann natürlich nur mit den Daten arbeiten, die ihr von den Statistischen Ämtern der Mitgliedstaaten übermittelt werden. Tiefer eingegraben in die Materie haben sich zwei ungarische Forscher.
Gábor Oblath und Éva Palócz fanden dabei heraus, dass die ungarische Wirtschaft nach 2010 ein auch im internationalen Maßstab kräftigeres Wachstum vorlegen konnte, als im vorangegangenen Jahrzehnt. Oblath ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Wirtschaftsinstituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) und Berater des Konjunkturforschungsinstituts Kopint-Tárki, das von Palócz geleitet wird. War die heutige Institutschefin einst Mitarbeiterin der Statistikabteilung der Ungarischen Nationalbank (MNB), gehörte Oblath fast ein Jahrzehnt lang als Mitglied dem Gremium des Währungsrates der MNB an.
Relativ besser ab 2010
Die beiden Forscher verglichen die ungarischen Konjunkturdaten im neuen Jahrtausend mit jenen der wichtigsten Bezugsländer in der Region. Das sind die drei anderen Visegrád-Staaten (V4) Tschechien, Polen und die Slowakei. Dann weiteten sie ihre Betrachtung auf sämtliche früheren Ostblockstaaten aus, die seit 2004 der Europäischen Union beigetreten sind. Neben den vier genannten sind dies bekanntlich die baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland sowie Slowenien, Rumänien, Bulgarien und Kroatien.
Ungarn erreichte in dem 2010 beginnenden Jahrzehnt ein jährliches Wachstum von im Durchschnitt drei Prozent. Damit kann sich das Land innerhalb der Region sehen lassen. Relativ gesehen sei diese Leistung sogar besser zu bewerten, als die im vorherigen Jahrzehnt vorgelegte, schreiben Oblath-Palócz. Denn ab 2000 wurde das Wachstum mit einer dramatisch steigenden externen Verschuldung bezahlt.
Nach 2010 gelang es jedoch ganz im Gegenteil, die Nettoauslandsschulden abzubauen. Das Autorenpaar merkt einschränkend an, letztere Leistung lasse sich nicht losgelöst von den gigantischen EU-Transfers interpretieren. Im Saldo erhielt Ungarn aus Brüssel nämlich im jährlichen Durchschnitt Beträge, die 3,7 Prozent des BIP erreichten. Bei der Wirtschaftsleistung des Landes, den Einkommen der privaten Haushalte und beim Privatverbrauch ist davon jedoch recht wenig zu sehen.
Musterschüler war die Slowakei
Den Vergleich der beiden Jahrzehnte verzerrt zudem die Weltwirtschaftskrise. Die Ökonomen wiesen Ungarn für das erste Jahrzehnt ein durchschnittliches Wachstum von 2,2 Prozent zu, das im zweiten Jahrzehnt auf 3,0 Prozent zunahm. Ohne die Krise waren es bis 2008 aber immerhin 3,4 Prozent im jährlichen Durchschnitt. Innerhalb der enger gefassten Region der Visegrád-Staaten wurde Ungarn im ersten Jahrzehnt in jedem Fall abgehängt: Die drei anderen Länder der V4-Gruppe brachten es im Schnitt auf 4,1 Prozent Wachstum im Jahr. Unter ihnen wuchs selbst Tschechien mit 3,3 Prozent noch anderthalb Mal so schnell wie Ungarn, die Slowakei setzte sich mit durchschnittlich 4,9 Prozent derweil beeindruckend ab.
Ohne die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verhielt es sich auch nicht sonderlich anders mit dem ungarischen Rückstand. Dieser belief sich im jährlichen Rhythmus bis 2008 auf knapp einen Prozentpunkt im Vergleich zu Tschechien und Polen, aber gar auf annähernd drei Punkte zur Slowakei. Diese legte im Vorfeld des großen Krachs ein atemberaubendes Tempo von jährlich 6,2 Prozent vor.
Bekanntlich war es Polen, das die Weltwirtschaftskrise am besten meisterte. Innerhalb der V4 übernahm nun dieses Land die Rolle als Wachstumsmotor. Ungarn konnte das zweite Jahrzehnt im Ländervergleich aber auch deutlich besser bewältigen. Während Polen seine durchschnittliche Wachstumsdynamik mit 3,6 Prozent weitgehend auf dem Vorkrisenniveau halten konnte, markierte Ungarn mit den besagten drei Prozent immerhin einen Wert knapp über dem V4-Durchschnitt. Das lag daran, dass die Slowakei heftig abbremste. Die Konjunktur bei Ungarns Nachbarn und Musterschüler des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend hatte sich unter drei Prozent halbiert. Nicht viel besser erging es den Tschechen, deren Wachstumsschwung unter zweieinhalb Prozent fiel. Doch wie gesagt: Tschechien gilt nicht nur in der V4-Gruppe, sondern im gesamten früheren Ostblock als das modernste Land. Da wiegt ein Prozent Wachstum weitaus schwerer, als bei „Leichtgewichten“ wie Ungarn.
Fehler über Fehler
Nicht von ungefähr steht die Konvergenz im Mittelpunkt strategischer Betrachtungen der hiesigen Wirtschaftspolitik. Vor der Weltwirtschaftskrise holten die V4-Staaten Jahr für Jahr ungefähr dreieinhalb Prozentpunkte Rückstand innerhalb der Europäischen Union auf. Natürlich verfälscht die herausragende Leistung der Slowakei dieses Bild, die für sich betrachtet mehr als vier Prozentpunkte jährlich abarbeitete. Nach der Krise verringerte sich die Konvergenz auf weniger als anderthalb Prozentpunkte im Jahr – nun lag Ungarn genau im Mittel, Polen klar darüber und Tschechien darunter. Oblath und Palócz kritisieren jedoch diesen relativen Erfolg Ungarns im Wettstreit der Visegrád-Staaten.
Es geschah nämlich, dass die Regierung der global erstarkenden Forderung nach Schuldenabbau mit einem schlecht gemanagten und obendrein zum falschen Zeitpunkt verwirklichten Umbau des Steuersystems gerecht werden wollte. Als sich infolge der Einheitsteuer Löcher im Staatshaushalt auftaten, mussten diese mit Sparmaßnahmen gestopft werden. Das führte 2012 zu einer Mini-Rezession, während sich die Region weiter entwickelte.
Für das Ende des Jahrzehnts war dann ein Wachstum weit über dem Potenzial der ungarischen Wirtschaft charakteristisch. Eine prozyklische fiskalische Politik wurde von einer beispiellos gelockerten Geldpolitik begleitet, Lohnerhöhungen und Investitionen wurden über Gebühr forciert. Die Wirtschaft wurde bewusst überhitzt, auch wenn dadurch die Inflation angefacht wurde.
Transfers senkten Nettoschulden
Diese Wirtschaftspolitik setzten die Autoren nun in den Kontext der EU-Transfers. Die Zahlungsbilanzdaten der MNB geben die Nettotransfers im Zeitraum 2010-2019 mit insgesamt 40,5 Milliarden Euro an. Das kommt einem durchschnittlichen BIP-Anteil von 3,6 Prozent im Jahr gleich. Die Regressionsanalyse lässt erwarten, dass höhere Transfers allgemein ein höheres Wachstum generieren. Im früheren Ostblock ließ sich dies überzeugend aber nur für Rumänien, Polen und Estland nachweisen.
Insbesondere Rumänien ragt bei dieser Analyse heraus: Die Nettotransfers von Brüssel an Bukarest lagen kaum über zwei Prozent am BIP, woraus Ungarns östlicher Nachbar im soeben abgelaufenen Jahrzehnt jährliche Wachstumsraten von knapp vier Prozent erzielen konnte. Hinsichtlich des Wachstums hielten in der Region am ehesten Estland und Litauen mit dieser Leistung der Rumänen mit. Beide Länder konnten aber auch gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung markant mehr Transfers einsetzen.
Ungarn erhielt relativ nochmals etwas mehr Transfers als Litauen und war in dieser Hinsicht absoluter Spitzenreiter in Osteuropa. Mit Blick auf die Wachstumsdynamik blieb es derweil hinter dem Baltikum, hinter Rumänien und Polen mit einem bis zu anderthalb Prozentpunkten pro Jahr zurück. Das „Unentschieden“ mit dem vormaligen Wachstums-Champion Slowakei kann in dieser Betrachtung kaum als Erfolg gefeiert werden. Schließlich erhielt Budapest gemessen an seiner Wirtschaftsleistung anderthalb Mal mehr Ressourcen als Bratislava, um den Konvergenzprozess voranzutreiben.
Oblath und Palócz merken an, dass sich der einheimische Wachstumsboom weiter relativiert, wenn man den Nettozustrom an ausländischen Direktinvestitionen hinzunimmt. Zusammen mit den EU-Transfers erreichten diese nämlich fünfeinhalb Prozent am BIP. Eines haben die Transferzahlungen aus Brüssel aber dennoch vermocht: Ungarn konnte seine Nettoschulden im Ausland gegen null fahren.