Neuanlauf der Wirtschaft
Auswege aus der Vertrauenskrise
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Im Vergleich zum Durchschnitt der Europäischen Union (EU) dürfte Ungarn in Hinsicht auf Rezession, Haushaltsdefizit und Staatsschulden besser durch die Corona-Krise kommen. Warum die Aussichten weitaus besser sind, als zur Zeit der Finanzkrise von 2008, veranschaulicht beispielsweise eine Erwerbslosenquote, die lediglich in drei EU-Ländern noch günstiger ausfällt. Der Staatssekretär sieht diese relativ vorteilhafte Lage als Ergebnis der in den vergangenen zehn Jahren konsequent verfolgten Wirtschaftspolitik, der in der Notstandslage getroffenen Entscheidungen, aber vor allem der von Arbeitnehmern und Unternehmern in Krisenzeiten bewiesenen Solidarität.
Gleichgewicht nicht gefährden
Der Aktionsplan zum Schutz der Wirtschaft formulierte mehrere Prämissen, unter denen noch jene herausragte, so viele Arbeitsplätze wie nur möglich zu retten, ohne deshalb einer verantwortungsbewussten Haushaltspolitik den Rücken zu kehren. György zufolge erübrigten sich Ideen wie das Streuen von „Helikoptergeld“, weil man damit das in zehn Jahren erreichte, immer noch brüchige Gleichgewicht gefährden würde, das im Haushaltsplan für 2020 die Bildung einer Sicherheitsreserve von 500 Mrd. Forint erlaubte. Jede Maßnahme zum Schutz von Arbeitsplätzen muss schließlich aus Steuergeldern finanziert werden; eine übertriebene Einmischung treibt den Schuldenstand in die Höhe und zwingt später zu Steuererhöhungen. Eine zielgerichtete Verteilung der Beihilfen belässt mehr Munition, um strategische Segmente zu stärken und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Attraktive Investitionen zu fördern steigert letztlich die Wettbewerbsfähigkeit des Landes.
Auch wenn es noch verfrüht erscheint, vergleichende Schlüsse aus dem Krisenmanagement ziehen zu wollen, bringt der Staatssekretär doch das Beispiel der USA an, die bei weitem mehr Geld ausgegeben haben, ohne das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Dort könnten die Staatsschulden um 20 Prozentpunkte in die Höhe schießen, während sich die Erwerbslosenquote mehr als verdreifachte. Weniger weit hergeholt ist der Vergleich mit Deutschland, wo die Staatsschulden voraussichtlich um 17 Prozentpunkte auf 77 Prozent zulegen werden, die Erwerbslosenquote aber dennoch vom Tiefpunkt mit 3 Prozent um nahezu die Hälfte auf 4,4 Prozent zunahm. Ungarns Staatsschulden werden laut Analyse der generell sehr kritisch eingestellten Experten von der Ratingagentur Moody´s um 8 Prozentpunkte auf knapp 75 Prozent am Bruttoinlandsprodukt zulegen, ausgehend von einer rekordniedrigen Arbeitslosigkeit bewegte sich der maximale Anstieg der Erwerbslosenquote infolge der Krise innerhalb eines Prozentpunktes.
Arbeit statt Beihilfen war der Kompass für die ungarische Wirtschaftspolitik in der Corona-Krise, weshalb die Regierung neben dem neuartigen Kurzarbeitergeld Investitionen fördert, die Arbeitsplätze sichern beziehungsweise neue schaffen, Studenten ein Nullzinsdarlehen gewährt und kostenlose Informatikkurse ausschrieb. Das dritte Leitprinzip lautet – ebenfalls ganz im Gegensatz zu früheren Krisen –, nicht das Potenzial des Landes in einem Ausverkauf zu verschleudern. Dem dient das verschärfte Gesetz zum Schutz der Unternehmen vor feindlichen Übernahmen. Diesem Ziel dient aber auch das ungarnspezifische Kurzarbeitergeld für Forscher und Entwickler, um die innovativen, kreativen Köpfe nicht zu verlieren.
Was für den Standort spricht
Welche Chancen und welche Risiken sieht das Innovationsministerium in der gegenwärtigen, außergewöhnlichen Lage? Es handelt sich, schreibt György, dieses Mal um keine strukturelle, sondern um eine Vertrauenskrise. Die im Zuge des längsten Konjunkturzyklus natürlich erscheinenden Krisenanzeichen ließen sich leichter korrigieren, als das 2008 mit den Systemfehlern der Geldmärkte der Fall war. Auf Ungarns relevanten Exportmärkten sind die Sparraten der Bevölkerung in die Höhe geschossen. Normale Lebensinstinkte werden die Zurückhaltung im Konsumverhalten jedoch früher oder später wieder in den Hintergrund drängen. (Die rasant wachsenden Staatsschulden dürften das konsumgestützte Wachstum eher mittelfristig abwürgen.)
Ein Gutteil der hierzulande angesiedelten internationalen Großunternehmen hat hochproduktive Kapazitäten geschaffen, die von den Konzernzentralen auch und gerade im Umfeld einer sinkenden globalen Nachfrage favorisiert werden. Dementsprechend wurde die Produktion in den großen Automobilwerken von Mercedes-Benz, Audi und Opel seit Anfang Mai systematisch hochgefahren. Die Wertschöpfungsketten werden kürzer und näher an den Markt herangeführt. Die Nähe zu kaufkräftigen Absatzmärkten und der Faktor Zuverlässigkeit erfahren eine Aufwertung gegenüber der billigen Massenfertigung. Ungarn als Teil eines Binnenmarktes mit außerordentlich hoher Kaufkraft besitzt deshalb eine hervorragende Ausgangsposition.
Selbst der Vergleich mit der Spanischen Grippe vor rund einem Jahrhundert kann zuversichtlich stimmen. Spätere Untersuchungen in vielen Großstädten der USA zeigten einen klaren Zusammenhang zwischen der erfolgreichen Abwehr und einer solideren Arbeitsmarktlage in den darauffolgenden Jahren. Nun hat die Deep Knowledge Group Ungarn die beste Corona-Krisenabwehr in der Region Mittelosteuropas bescheinigt; in ganz Europa erhielten nur die Schweiz, Deutschland und Skandinavien ein noch besseres Zeugnis ausgestellt. Um diese Position zu bewahren, geht Ungarn bei der Rückkehr zur Alltagsnormalität sehr behutsam vor. Derweil wird die Wirtschaft mit Förderprogrammen für Investitionen zur Schaffung von Kapazitäten und Arbeitsplätzen sowie für Produktivitätssteigerungen überhäuft.
Ob Europa der V-Kurve Chinas folgen kann, hängt natürlich davon ab, inwieweit sich weitere Infektionswellen eindämmen lassen. In der neuen Normalität werden strengere Kontaktprotokolle ganz sicher Bestandteil des Alltags werden, schreibt der Staatssekretär. Und er fasst zusammen: „Wir sind weder naiv noch Hurra-Optimisten. Während wir auf das Schlimmste gefasst sind, arbeiten wir daran, die hier skizzierten Prozesse zum Vorteil Ungarns zu gestalten. Wer an seine Zukunft glaubt, hat es in der Hand, sein Schicksal selbst zu formen.“