Notenbank kontra Regierung
Auf Kritik wird prompt zurückgeschossen
„Ungarn hat die Bahn des nachhaltigen Wachstums verlassen, der Reformprozess ist ins Stocken geraten“, sagte György Matolcsy am Mittwoch bei einer Buchvorstellung. „Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik muss auf den wirklichen Stärken des Landes aufbauen, wie Gesundheitsindustrie, Know-how, Bildungsstand, Talentiertheit, Wasser, Heil- und Nahrungsmittelindustrie“, zitierte das Wirtschaftsportal novekedes.hu den Notenbankpräsidenten. Wie Gutenberg mit der Erfindung des Buchdrucks einen 500 Jahre währenden Zyklus von Renaissance und Reformation über die Wissenschafts- bis zur Industrierevolution auf den Weg brachte, könnten die heutigen Chips, Computer und KI den nächsten 500-Jahre-Zyklus einleiten.
Im Optimalfall bereits vor Italien?
„Das erfolgreichste Jahr nach der Wende war 2001; hätten wir das damalige Modernisierungstempo gehalten, würden wir heute vor Italien liegen“, meinte Matolcsy, um sogleich die Fehler einer „nebulösen“ Wirtschaftspolitik des Jahres 2021 anzuprangern. Da habe Ungarn gegenüber der EU wieder an Boden verloren, was auch kein Wunder sei, denn „ohne eine Vision“ sei die Modernisierung noch niemandem gelungen. Daraus folge, dass der Pfad immer schmaler wird, auf dem Ungarn noch bis 2030 den mittleren EU-Standard erreichen kann.

Mehr als zehn Punkte herangerückt
„Ungarn hat auch im vergangenen Jahr den Modernisierungsprozess fortgesetzt. Entgegen dem Gekrähe von Wirtschaftsexperten des linken Lagers und von Seiten der Notenbank stieg Ungarns BIP gemessen am EU-Standard von 75 auf 77%.“ Diese Zahl hielt Kanzleramtsminister Gergely Gulyás entgegen, der am Freitag – nur einen Tag nach der Regierungspressekonferenz – eine gesonderte Pressekonferenz zur neuesten Eurostat-Datenreihe für 2022 abhielt.
Ohne den Namen des Notenbankpräsidenten zu nennen, betonte der Minister, der 2010 eingeleitete Prozess finde seine Fortsetzung. „Binnen zehn Jahren sind wir mehr als zehn Punkte näher an den EU-Durchschnitt herangerückt“, was für ihn der Beleg für die Widerstandskraft der ungarischen Wirtschaft auch in Krisenzeiten sei. Unter weiteren Belegen führte Gulyás die robusten Arbeitsmarktdaten an und kommentierte: „In der Ökonomie entscheiden Zahlen die Debatte“, weshalb sich jene im Unrecht befänden, die andere Erwartungen als die Regierung hatten. „Ungarn hält Schritt mit der Region Mitteleuropas und verringert den Abstand zu jenen Ländern, die seit Jahrzehnten zur Gemeinschaft gehören. Unser Ziel lautet, Ungarn unter die fünf modernsten Staaten in der EU zu führen.“
Ein Kommentar der BZ
Dass die Regierung einen Juristen in die Debatte mit dem Notenbankpräsidenten schickt, ist mindestens ungeschickt. Die fachlichen Dispute zwischen György Matolcsy und dem heutigen Wirtschaftsminister Márton Nagy wirkten professioneller. Wobei zwischen den beiden eine persönliche Abneigung mitschwingt, seit Nagy als Vizepräsident der Ungarischen Nationalbank (MNB) von seinem Chef vor die Tür gesetzt und prompt vom Premierminister aufgefangen, ja gleich zum Chefberater in Wirtschaftsbelangen gekürt wurde. Galt Nagy einst als geistiger Kopf der MNB-Reformerkreise, findet er sich an der Spitze des Wirtschaftsressorts weniger zurecht und verirrt sich immer häufiger zurück in die Rolle eines Geldpolitikers. Insofern sind die gehäuften Kritiken von Seiten der MNB, insbesondere ihres Präsidenten, neben dem Premier gewöhnlich an den Wirtschaftsminister adressiert. Ob Nagy dieser Tage einfach nicht erreichbar war oder warum Gergely Gulyás in die Frontlinie des Konflikts mit der Notenbank vorgeschoben wurde, bleibt ein Rätsel.
Abgesehen davon, dass der Kanzleramtsminister nur gebetsmühlenartig die Fidesz-Propaganda von der ungarischen Erfolgsgeschichte wiederholte, ohne die Matolcsy-Kritik wirklich zu entkräften. Gulyás hat nur in einem Punkt Recht, der aber ist nebensächlich. Es stimmt, dass Ungarn gemessen an der Kaufkraftparität bei Eurostat mit 77% des EU-Durchschnitts 2022 wieder leicht, um zwei Punkte zulegte. Viel wichtiger ist jedoch die Aussage, wie sich das Land über einen längeren Zeitraum entwickeln konnte.
Das Wirtschaftsportal portfolio.hu trug die Daten, gestützt auf Eurostat, für die Jahre 2013-22 zusammen. Demnach konnte Ungarn binnen eines Jahrzehnts um neun Punkte konvergieren, Rumänien aber schloss zum Nachbarn auf, indem es mehr als 22 Punkte näher an den EU-Standard herankam. Lettland und Kroatien rückten näher, Polen überholte Ungarn, einzig die Slowakei fiel hoffnungslos zurück. Litauen und Estland haben Ungarn dramatisch abgehängt, Slowenien und Tschechien bleiben die Spitzenreiter in der Region, trotz einer ähnlich schwachen Konvergenz, wie sie Ungarn erlebte.
Unter älteren EU-Mitgliedern hat Ungarn einzig Griechenland hinter sich gelassen, die gleiche Meldung bezüglich Portugal erwies sich im Umfeld vermehrter Krisen als voreilig. Derweil haben die Balten Spanien überrundet und nähert sich Slowenien dem Niveau Italiens an. Um die gleiche Statistik für Ungarn freundlicher darzustellen, lässt sich anführen, dass der Entwicklungsrückstand zu Deutschland und Österreich um jeweils rund 17 Punkte abgebaut werden konnte. Dennoch liegt jenes Österreich, das sich die Orbán-Regierung für 2030 ins Visier genommen hatte, mit 125% des EU-Durchschnitts hinter Dänemark und den Niederlanden auf Platz 3 der Wohlstandsliste (die ohne Luxemburg und Irland erstellt wurde), Deutschland mit 117% auf dem 6. Rang. Ungarn teilt sich derweil mit Portugal und Rumänien einen Platz im hinteren Mittelfeld.
