Technologie- und Industrieminister Dr. László Palkovics: „In aller Bescheidenheit kann ich sagen, dass eine der bedeutendsten Errungenschaften der letzten dreißig Jahre die Reform des Hochschulsystems und die Schaffung des heutigen Ökosystems für Innovationen war.“ Foto: DUIHK/ Csanád Kis

Interview mit Technologie- und Industrieminister Dr. László Palkovics

Kernenergie ist für uns unverzichtbar

Das Aufgabenspektrum von Dr. László Palkovics ist mit der Umstrukturierung der Regierung noch breiter geworden.

So dreht sich unser Gespräch nicht nur um den Themenbereich Technologie und Innovationen, sondern auch ums Energiewesen, die Automobil- und Rüstungsindustrie, ja sogar um neue Antriebsarten und die Arbeitskräfteversorgung sowie weitere Aspekte der Wirtschaft.

Vor vier Wochen waren Sie Gast auf der Mitgliederversammlung der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer. War es symbolisch, dass Sie Ihren ersten öffentlichen Auftritt noch vor Ihrer Ernennung zum Minister bei der DUIHK hatten?

Absolut, denn zum einen sind die deutsche Wirtschaft, die deutsche Industrie und ihre Tochterunternehmen in Ungarn ganz eindeutig von größter Bedeutung für die ungarische Wirtschaft. Zum anderen prädestiniert mich aber auch mein Werdegang dafür, immerhin habe ich zwanzig Jahre lang bei Knorr-Bremse für ein deutsches Unternehmen gearbeitet.

Heute gibt es 2.700 deutsche Unternehmen in Ungarn, sie beschäftigen 220.000 Menschen, der Außenhandel erreichte im vergangenen Jahr ein Rekordhoch. Können diese Beziehungen überhaupt noch ausgebaut werden?

Ich denke, dass die ungarische Wirtschaft und die ungarisch-deutschen Beziehungen in Wirtschaft und Industrie in ausgezeichneter Verfassung sind, auch wenn das in den Medien nicht immer so zum Ausdruck kommt. Das frühere Modell der „verlängerten Werkbank“ verschwindet mehr und mehr, die Töchter deutscher Unternehmen in Ungarn sind nicht mehr nur der verlängerte Arm der Muttergesellschaft.

Als nächste große Aufgabe wollen wir solche Aktivitäten nach Ungarn holen, die weit über die – qualitativ übrigens hochwertige – Produktion hinausgehen. So können beispielsweise Unternehmensfunktionen wie Forschung und Entwicklung oder konzernweite Funktionen im Bereich Personal oder Finanzen angesiedelt werden, die mit einer höheren Wertschöpfung einhergehen.

Wir haben schon 2009 ein Interview geführt. Darin forderten Sie: „Auf das eigene Know-how setzen, Innovation stärken, Zulieferer wettbewerbsfähig machen“. Inwieweit sind diese Ziele heute erreicht?

Zu jener Zeit hatte ich nichts mit Politik zu tun, ich war Leiter des Forschungs- und Entwicklungszentrums bei Knorr-Bremse. Damals habe ich diese Erwartungen aus der Sicht der Industrie formuliert. Heute sitze ich auf der anderen Seite, aber genau aus dieser Haltung und diesem Anspruch heraus haben wir später ein Innovations- und Hochschulsystem geschaffen, das genau diesen Zielen dient. In aller Bescheidenheit kann ich sagen, dass eine der bedeutendsten Errungenschaften der letzten dreißig Jahre die Reform des Hochschulsystems und die Schaffung des heutigen Ökosystems für Innovationen war.

Woran messen Sie den Fortschritt in diesem Bereich?

Länder werden meist anhand verschiedener Zahlen und Indikatoren bewertet. Für mich ist der wichtigste Indikator, dass die Firma Bosch, die in Ungarn viertausend Entwicklungsingenieure beschäftigt, auch die nächsten 400 hier einstellen will. Oder wenn mein Freund Marc Eckstein von ThyssenKrupp, der seine 1.200 Entwicklungsingenieure um 200 aufstocken will, das in Ungarn tun würde und nicht anderswo. Kürzlich wurde ich zur Erweiterung des Forschungszentrums für künstliche Intelligenz von Continental eingeladen, das wir nach Ungarn holen konnten. Meiner Ansicht nach sind dies jene Entscheidungen, die sowohl die deutsch-ungarischen Beziehungen, als auch die ungarische Wirtschaft und unser Hochschulsystem voranbringen.

Die Automobilindustrie spielt sowohl für die ungarische als auch für die deutsche Wirtschaft eine herausragende Rolle. Wie werden die globalen Entwicklungen die Zusammenarbeit beeinflussen?

Die globale Automobilindustrie befindet sich in einem grundlegenden Umbruch. Dabei geht es um zwei wichtige Fragen, die die Branche für die nächsten hundert Jahre prägen werden.

Die eine ist die Fahrzeugsteuerung, also das autonome Fahren. Wir arbeiten in diesem Bereich schon sehr lange mit deutschen Unternehmen zusammen. 2016 hat die Regierung beschlossen, eine Testeinrichtung zu schaffen, in der autonomes Fahren getestet werden kann, das wurde die Teststrecke ZalaZONE. Die Teststrecke ist fertig, und die Unternehmen nutzen sie augenscheinlich gern und bauen sogar eigene Forschungsaktivitäten in Zalaegerszeg auf. Das Entwicklungszentrum des österreichischen Unternehmens AVL wird demnächst übergeben, Bosch hat mit dem Bau seines Forschungsinstituts begonnen, eine Forschungsbasis des TÜV Rheinland wird demnächst eingerichtet. Ich kann also sagen, dass wir auf dem Gebiet des autonomen Fahrens sehr gut dastehen.

Heute scheint es Konsens zu sein, Verbrennungsmotoren möglichst bald zu verbieten, weil sie umweltschädlich sind, und stattdessen Autos mit Elektromotoren und Batterien anzutreiben. Ist das die Zukunft des Automobils?

Man muss zwei Dinge trennen, die in der Presse vermengt werden. Zum einen war der Elektroantrieb, das heißt der Antrieb der Räder mit Elektromotoren, eine der besten Entscheidungen der Automobilindustrie. Als Ingenieur für Fahrzeugentwicklung muss ich sagen, dass diese Entscheidung auch dann hätte getroffen werden müssen, wenn es keinen Dieselskandal gegeben hätte, denn sie vereinfacht die Konstruktion erheblich und verbessert die Effizienz.

DR. LÁSZLÓ PALKOVICS, Jahrgang 1965, stammt aus Zalaegerszeg und studierte an der TU Budapest Maschinenbau mit Schwerpunkt Fahrzeugbau, 1988 promovierte er in dieser Fachrichtung. Ab 1995 arbeitete er fast 20 Jahre lang bei Knorr-Bremse, zuerst bei der ungarischen Tochtergesellschaft als Direktor für die Entwicklung elektronischer Systeme, ab 2001 in Deutschland als Leiter der europäische Elektronikentwicklung, später als Direktor der europäischen Forschung und Systementwicklung. 2014 trat er als Staatssekretär für das Hochschulwesen in die Regierung ein, 2018 wurde er Minister für Innovation und Technologie, seit Mai 2022 ist er Minister für Technologie und Industrie.

Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, wie man diesen Elektromotor mit Energie versorgt. Und dafür gibt es mehrere Lösungen. Die eine, die seit einigen Jahren favorisiert wird, ist die Batterie. Dies kann eine gute Richtung sein, denn sie verursacht keine lokalen Emissionen. Eine andere Frage ist natürlich, wie die Energie zum Laden der Batterien erzeugt wird, oder wieviel Energie und Rohstoffe bei der Herstellung der Batterien verbraucht werden. Eine Batteriefabrik – drei sind in Ungarn bereits im Bau, eine vierte wird demnächst die Produktion aufnehmen – benötigt zwischen 500 und 700 Megawatt Energie. Das sind insgesamt zweitausend Megawatt – das entspricht der kompletten Stromerzeugung des AKW in Paks!

Was bedeutet das für Ungarn, wo die Produktion von Verbrennungsmotoren eine enorme Rolle spielt?

Das Ziel ist es, die CO2-Emissionen von Autos beziehungsweise des Verkehrs insgesamt zu reduzieren, die zwanzig Prozent der weltweiten Emissionen ausmachen. Dafür sind Batterien jedoch nicht die einzige gute Lösung.

Ich bin überzeugt – und viele in der ungarischen Automobilindustrie werden das bestätigen –, dass der Verbrennungsmotor eine der ausgefeiltesten Konstruktionen ist. Er ist immerhin seit 150 Jahren weiterentwickelt worden. Eine weitere Steigerung des Wirkungsgrades ist nicht trivial, aber er kann mit einer Vielzahl von Kraftstoffen betrieben werden: mit dem mittels Solarenergie gewonnenen Wasserstoff, oder mit synthetischen Kraftstoffen, deren CO2-Fußabdruck schon neutralisiert ist. Auch so kann das Ziel von null CO2-Emissionen im Verkehr erreicht werden. Deshalb sind wir für technologische Neutralität. Vor kurzem habe ich darüber auch mit dem deutschen Verkehrsminister Volker Wissing gesprochen, der erklärte, dass auch die FDP technologische Offenheit für den richtigen Weg hält. Das bedeutet, dass wir uns das gewünschte Ziel anschauen und dann die Technologie auswählen, die sich am besten dafür eignet. Das kann eine Batterie sein, aber auch ein Verbrennungsmotor mit geringen Emissionen und Lärm, oder eine Brennstoffzelle. Die Entscheidung sollten wir der Industrie und denjenigen überlassen, die die Technologie später nutzen werden.

Relativ neu ist die Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie. Was erhoffen Sie sich davon?

Die Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung muss insbesondere aus technologischer Sicht hervorgehoben werden. Im Jahr 2016 hat Ungarn beschlossen, seinen Verteidigungshaushalt deutlich zu erhöhen, neue Ausrüstung anzuschaffen und die Streitkräfte zu modernisieren. Das alles aber möchten wir so umsetzen, dass wir die modernen Ausrüstungen nicht nur nutzen, sondern dafür auch eine eigene Produktion aufbauen. Deshalb wurde diese deutsch-ungarische Kooperation ins Leben gerufen, die seither hervorragend funktioniert und expandiert.

Wie fügt sich dieser sehr spezielle Sektor in andere Wirtschaftszweige ein?

Für mich als Ingenieur ist die Verteidigungsindustrie – abgesehen von strategischen Fragen – eine High-Tech-Industrie. Sie kann sehr gut mit anderen Tätigkeiten in Ungarn verknüpft werden. Die Automobilindustrie ist ein solcher Industriezweig, Anknüpfungspunkte gibt es aber auch beispielsweise zum Maschinenbau, zur Elektronikindustrie und einer Reihe anderer Branchen.

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„Für mich als Ingenieur ist die Verteidigungsindustrie – abgesehen von strategischen Fragen – eine High-Tech-Industrie.“ Foto: DUIHK/ Csanád Kis

Ein wichtiges Thema ist die Zulieferindustrie. Wie können einheimische Unternehmen noch besser mit internationalen Unternehmen verzahnt werden?

Hier gibt es noch einiges zu tun. Die Lieferantenentwicklung liegt aber nicht nur im Interesse des Staates, sondern der Lieferanten selbst. Noch wichtiger ist es aber, das Interesse der Großunternehmen zu fördern. Alle müssen sich deshalb an den Aufgaben beteiligen. Etwa die Hälfte der gesamten ungarischen Wertschöpfung wird von internationalen Firmen erwirtschaftet, obwohl sie weniger als ein Prozent der Unternehmen ausmachen. Am Anteil der ungarischen Unternehmen kann also noch gearbeitet werden.

In der Automobilbranche ist dieser Anteil mit 95 Prozent sogar noch höher, fast zwei Drittel davon entfallen auf deutsche Investoren. Bedeutet das nicht auch eine Art von Abhängigkeit?

Es ist in der Tat eine Abhängigkeit. Zum Glück haben deutsche Unternehmer – im Vergleich zu ihren Kollegen aus anderen Ländern – eine andere Mentalität. Ein deutsches Unternehmen lässt sich nicht provisorisch in einem Land nieder, errichtet eine Leichtbauhalle, und macht später – sagen wir, weil die Arbeitskosten gestiegen sind – einfach dicht und zieht weiter. Die deutsche Industriekultur ist anders. Wenn sie sich entscheidet, eine Fabrik in Győr zu bauen, wird sie alles tun, um auch dort zu bleiben. Dabei mag auch die Sympathie für die Ungarn eine Rolle spielen, aber das ist nicht entscheidend. Das Ökosystem, das mit einer solchen Fabrik entsteht, ist ein wertvolles Gut, das nicht einfach mitgenommen werden kann. Und wenn auch noch Forschung und Entwicklung dazukommen, dann ist die Bindung noch stärker.

Zu Ihrem Ministerium gehört auch die Energiewirtschaft. Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage?

Energie ist eine unserer größten Herausforderungen, gleich aus zwei Gründen. Erstens basiert das ungarische Energiesystem im Wesentlichen auf fossilen Brennstoffen. Das wiederum bedeutet, dass auch die Denkweise prinzipiell auf Gas und fossile Brennstoffe ausgerichtet ist. Fragen der Elektrizität wurden immer von der Gasseite bestimmt. Während unser Erdgas-Leitungssystem sehr gründlich ausgebaut ist, kann man das von unserem Stromsystem nicht sagen.

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„Inzwischen geht es nicht mehr darum, für wie viel wir Energie einkaufen, oder ob sie grün, gelb, blau oder schwarz ist, sondern darum, ob es Energie gibt oder nicht.“ Foto: DUIHK/ Csanád Kis

Das andere Problem ist ein neues Phänomen: Es fehlt Energie. Das begann mit der Energiepreisexplosion und setzte sich mit dem russisch-ukrainischen Konflikt fort. Inzwischen geht es nicht mehr darum, für wie viel wir Energie einkaufen, oder ob sie grün, gelb, blau oder schwarz ist, sondern darum, ob es Energie gibt oder nicht.

Was planen Sie bei der Energieversorgung in den kommenden Jahren?

Im Grunde haben wir drei Aufgaben. Was das Stromnetz angeht, ist ein vollständiger Umbau erforderlich. In Deutschland ist das Stromnetz regulierbar, hat Speicherkapazitäten und ist gut ausgebaut. So etwas müssen wir auch in Ungarn schaffen.

Die zweite Aufgabe betrifft die Energieerzeugung. Heute kaufen wir 30 Prozent unseres Stroms für teures Geld aus dem Ausland. Wenn man an den erwähnten Strombedarf der Batteriefabriken denkt, kann dies nicht die Lösung sein – wir müssen die notwendige Energie selbst produzieren. Keine Frage: Wir brauchen die Kernenergie auf kurze und auch auf lange Sicht. Ungarn ist auf einem guten Weg, neben dem Bau von Paks II liegt die Verlängerung der Betriebsdauer von Paks I auf dem Verhandlungstisch, die Chancen dafür sind gut. Und inzwischen hat auch die EU die Daseinsberechtigung der Kernenergie mit ihrer Taxonomie-Regelung anerkannt.

Auf Gas können und wollen wir nicht ganz verzichten, denn es braucht weiterhin schnell hochfahrbare Kraftwerke. Ein erheblicher Teil davon sind Gaskraftwerke. Es kommt allerdings darauf an, was für Gas man einsetzt. Es kann 100 Prozent Wasserstoff sein, aber auch eine Mischung aus Wasserstoff und Erdgas ist möglich.

Wo steht Ungarn beim Ausbau erneuerbarer Energien?

Im Aktionsplan Klima- und Umweltschutz haben wir uns zum Ziel gesetzt, bis 2030 eine Solarkapazität von sechs Gigawatt zu schaffen. Das werden wir schon nächstes Jahr erreichen, und bis 2030 kann die Kapazität sogar auf zwölf Gigawatt anwachsen. Im vergangenen Jahr haben bei uns Solarkraftwerke den höchsten Anteil an der Gesamtproduktion von Energie unter den europäischen Ländern erreicht.

Was die Windenergie betrifft, sind die Bedingungen in Ungarn nicht optimal für den Bau von Windkraftanlagen, weil wir geographisch in einer Art Becken liegen. Es gibt zwar Forscher, die sagen, dass der Wind nicht nur im Mór-Graben weht und auch anderswo Windparks errichtet werden könnten. Als Politiker sehe ich das aber auch aus der Perspektive der Investoren: Sie müssen sich entscheiden, ob sie in Solaranlagen oder in Windkraft investieren. Man kann über alles Mögliche diskutieren und Artikel schreiben. Aber wenn jemand einen Windpark errichtet und sich dann herausstellt, dass die Modelle nicht korrekt waren und der Wind nicht weht, und sich somit die Investition nicht rentiert, dann wird die Verantwortung auf die Regierung geschoben. Das möchte ich gerne vermeiden.

Wie werden diese gewaltigen Projekte finanziert?

Die genannten Pläne kosten rund 15 Milliarden Euro. Aber am Ende werden wir ein System haben, das unabhängig – zumindest weitgehend unabhängig – von externer Energie ist.

Gleichzeitig bieten diese Investitionen die Chance für eine Art doppelte Entwicklungsstrategie. Wenn wir einen bedeutenden Teil der für die Energiewirtschaft benötigten Ausrüstungen in Ungarn herstellen, lässt sich darauf eine neue Industrie aufbauen. Die ist heute noch furchtbar klein. Aber wenn wir das industrielle Rückgrat für die erwähnten 15 Milliarden an Investitionen schaffen, bedeutet dies auch eine höhere ungarische Wertschöpfung.

Die Preisstopps der Regierung im Energiesektor sind nicht gerade investitionsfördernd. Wie lange werden sie bleiben?

Wir haben uns für die Preisstopps und die Strom- und Gaskosten-Deckelung entschieden, um die ungarischen Familien und stärker betroffenen Unternehmen nicht den jeweiligen Ansprüchen der Energieversorger auszusetzen. Vor der Energiepreisexplosion hat uns die Opposition dafür kritisiert, dass Gas doch auf dem freien Markt zu einem niedrigeren Preis bezogen werden kann, als wir es im Rahmen der Grundversorgung weitergeben. Und wir haben gesagt: Ja, wir haben ein vertretbares Preisniveau festgelegt, und jetzt, wo die Beschaffung billiger ist, legen wir die Differenz zwischen dem Einkaufspreis und dem Abgabepreis an die Bevölkerung in einen Topf, aus dem wir im umgekehrten Fall die höheren Beschaffungskosten decken – zumindest bis zur aktuellen Preisexplosion.

Was kostet das die öffentlichen Haushalte?

Die Energiepreisdeckelung betrifft viereinhalb Millionen Menschen und mehr als 90.000 kleine Unternehmen. Sie werden von einem einzigen Unternehmen, MVM Next, mit Strom und Gas versorgt. Diesen viereinhalb Millionen Menschen kann man jedoch außer ermäßigten Tarifen auch viele andere Dienstleistungen anbieten. Das sehe ich als Vorteil, weil man damit auch Themen wie Energieeffizienz angehen kann. Wenn ein Versorger beim Kunden einen alten FÉG-Heizkessel mit einem Wirkungsgrad von 40 Prozent gegen einen mit einem Wirkungsgrad von 85 Prozent austauscht, dann zahlt der Kunde immer noch den reduzierten Tarif, verbraucht aber weniger Gas. Das verbessert das Geschäftsmodell des Anbieters und kostet den ungarischen Staat letztlich weniger Geld.

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„Die Energiepreisdeckelung betrifft viereinhalb Millionen Menschen und mehr als 90.000 kleine Unternehmen.“ Foto: DUIHK/ Csanád Kis

Das ist wichtig, weil wir bis 2050 mehrere Aufgaben lösen müssen, so etwa die Beheizung von Wohnungen, was mit am schwierigsten sein wird. Meiner Meinung nach müssen wir so schnell wie möglich auf Wasserstoff oder auf Wärmepumpen umsteigen, ansonsten werden wir später ernste Probleme bekommen.

Bei DUIHK-Umfragen wird der Fachkräftemangel immer wieder als großes Risiko für Unternehmen genannt. Wie ernst ist dieses Problem?

Der Arbeitskräftemangel ist in der Tat ein ernstes Risiko, und neue Investitionen werden natürlich dort getätigt, wo das Risiko am geringsten ist. Aber wäre der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften wirklich ein Hindernis für Investitionen in der Industrie, dann wäre in Deutschland seit 15 Jahren keine einzige Fabrik mehr gebaut worden – sie wurden aber gebaut.

Wie kann die Wirtschaftspolitik den Unternehmen helfen?

Ein Ausweg ist mehr Automatisierung. Aber Automatisierung würde es auch ohne Arbeitskräftemangel geben. Wenn Unternehmen automatisieren und robotisieren, dann verbessern sie Qualität und Effizienz und können Kosten senken.

Die andere Seite ist die Beschäftigungssituation. Die Deutschen haben Vollbeschäftigung erreicht. Davon sind auch wir nicht weit entfernt – wir haben jetzt eine Beschäftigungsquote von 74 Prozent, Vollbeschäftigung hätten wir bei 80 bis 85 Prozent. Im Jahr 2010 sind wir von 56 Prozent aus gestartet. Ich denke, jetzt von 74 auf 80 Prozent zu kommen, ist keine unlösbare Aufgabe. Dazu müssen wir aber atypische Beschäftigungsformen nutzen, die in Deutschland seit langem funktionieren. Home Office gab es schon vor 15 Jahren. Zum anderen ist bei uns Teilzeitarbeit, das heißt Verträge mit zwei, vier oder sechs Stunden pro Tag nicht sehr verbreitet. Die rechtlichen Möglichkeiten sind vorhanden, nun liegt es am Staat, die Unternehmen zu motivieren und sie zu einem Umdenken zu bewegen.

Die Corona-Pandemie und nun der Ukrainekrieg haben zu schwerwiegenden Störungen der globalen Lieferketten geführt. Können Ungarn und die Region Mittel- und Osteuropa Gewinner eines möglichen Nearshoring- oder Re-Shoring-Prozesses sein?

Die Pandemie hat uns die Verletzbarkeit von Lieferketten drastisch vor Augen geführt. Es gab anfangs viel Enthusiasmus hinsichtlich Nearshoring, auch ich habe damit gerechnet. Wir haben mehrere Konferenzen in Österreich und Deutschland organisiert, wie man einen solchen Prozess unterstützen kann. Doch es stellte sich heraus, dass nur sehr wenige Unternehmen Kapazitäten nach Europa zurückholten. Für neue Investitionen hingegen erfuhr Mittel- und Osteuropa eine Aufwertung, sie erfolgen zunehmend näher am Heimatmarkt. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass der neue Seat Cupra in Győr und nicht in einer spanischen Fabrik gebaut wird. Und auch die Ankündigung, dass Komponenten für den elektrischen Antriebsstrang in Győr produziert werden, ist kein Zufall. Es geht also weniger um Standortverlagerungen, sondern um Standorte für neue Investitionen. Die Favorisierung mittel- und osteuropäischer Länder ist aber nicht ohne Vorgeschichte, sondern eine Folge der deutschen und ungarischen Industriekultur und der bisherigen industriellen Zusammenarbeit. Ein deutsches Unternehmen hat mehr Vertrauen in seine Niederlassung in Ungarn als in die an anderen Standorten. Das ist das Wesen von Nearshoring.

Die Regierung will die Einnahmenseite des Haushalts mit neuen Sondersteuern stärken. Das belastet die Unternehmen stark. Wann werden sie wieder abgeschafft?

Die Fidesz-Regierung ist ganz entschieden marktorientiert. Auch wir mögen keine Sondersteuern, wir wollen sie so schnell wie möglich auslaufen lassen. Zugleich muss man aber auch sehen, dass die Regierung, parallel zu diesem Schritt, ihre Politik der Wirtschaftsförderung fortsetzt. Unsere Investitionsquote beträgt 29 Prozent, das ist die höchste in Europa. Wenn Unternehmen einen Investitionszuschuss von 10 oder 15 Prozent für eine neue Investition erhalten, dann kommt das Geld aus dem ungarischen Haushalt. Wenn eine Straße zur Fabrik gebaut oder die Energieversorgung gesichert werden muss, wenn 700 Megawatt Energie für eine koreanische, eine deutsche oder eine chinesische Fabrik gebraucht werden, dann wird das vom Staat finanziert. Wir unterstützen die Wirtschaft also weiterhin in erheblichem Maße, sonst hätten wir wohl kaum jene Investitionsquote von 29 Prozent. Und vergessen wir nicht: Die Körperschaftsteuer beträgt neun Prozent – in Deutschland sind es mehr als 30 Prozent – und die Sozialabgaben der Arbeitgeber sind auf 11,5 Prozent gesenkt worden. Das alles muss zusammen betrachtet werden, und dann sind die paar Prozent, von denen wir jetzt sprechen, recht ausbalanciert. Und im Übrigen wollen wir Produktionsfirmen auch jetzt nicht besteuern.

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„Wir unterstützen die Wirtschaft weiterhin in erheblichem Maße, sonst hätten wir wohl kaum jene Investitionsquote von 29 Prozent.“ Foto: DUIHK/ Csanád Kis

Sind es aber am Ende nicht die Privathaushalte, die diese Belastungen zahlen?

Ich möchte nicht die Menschen dafür bezahlen lassen, aber das liegt in der Natur der Sache. Aber wir versuchen zu vermeiden, dass die Kosten komplett auf die Bevölkerung abgewälzt werden.

Das Gespräch führte Dirk Wölfer, DUIHK-Bereichsleiter Kommunikation, für die Budapester Zeitung.

Wir bedanken uns für die kollegiale Unterstützung durch die DUIHK.

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