Umwelt
„Wäre ich Präsident der Europäischen Kommission, dann würde ich natürlich von neuem Schwung sprechen. Aus der Perspektive eines Mitgliedstaates sehe ich hier aber Chaos.“ Foto: Grazmel Photography

Interview mit Attila Steiner, Staatssekretär für EU-Belange im Justizministerium

„Konservative setzen auf bedachtes Handeln“

Im Kampf gegen die Treibhausgase steht Ungarn ausgesprochen gut da, meint Attila Steiner. Der Staatssekretär erklärt im Gespräch die Kehrseite ehrgeiziger Zielstellungen, erzählt von einem Novum in der europäischen Klimapolitik und verrät, warum sich Ungarn mit der Atomkraft auf der richtigen Seite befindet.

Tschechien und Polen haben den neuen Klimaplan der Europäischen Kommission kritisiert. Wie beurteilt Ungarn diesen? Wollen wir mit Brüssel auch in der Klimapolitik unseren „Freiheitskampf“ ausfechten?

Das würde ich eher als einen Kampf des gesunden Menschenverstandes bezeichnen. Es ist nämlich so, dass momentan ausgerechnet jene Mitgliedstaaten die gesteckten Ziele immer noch weiter aufstocken wollen, die bisher nicht einmal die Klimaziele gemessen am Ausgangsjahr 1990 erreichen konnten.

Geht es nicht eher um die eigenen Wirtschaftsinteressen?

Polen verfügt über riesige Kohlevorräte, weshalb die dortige Schwerindustrie und speziell der Energiesektor natürlich im großen Maße auf der Steinkohle basieren. Diese Strukturen bis 2050 von hundert auf null herunterzufahren ist eine riesige Herausforderung. Verhältnismäßig betrachtet spielt die Kohle auch in Tschechien eine wichtige Rolle. Es geht jedoch nicht darum, ständig größere Zahlen anzukündigen. Entscheidend ist doch, wer in der Praxis besser bei der Reduzierung der Treibhausgase vorankommt.

Wie kommt denn Ungarn dabei voran?

Ungarn steht ausgesprochen gut da. Mit den Worten des Ministerpräsidenten gesprochen gehören wir zu den „Klima-Champions“. Die Europäische Kommission misst ihre Verpflichtungen am Referenzjahr 1990. Bis 2030 wollen wir in dieser Relation unsere Kohlendioxid­emissionen um 40 Prozent senken. Auf dem Weg zur Verwirklichung dieser Zielstellung befinden wir uns im Spitzenfeld, denn bislang haben wir die Emissionen bereits um 33 Prozent verringern können.

Wo stehen andere Länder in diesem Wettbewerb, zum Beispiel Österreich?

Es ist schon interessant zu sehen, dass so manche Länder, die sich gerne als „grün“ bezeichnen, beim EU-Klimaziel ausgesprochen schlecht dastehen. Einige von ihnen, zum Beispiel Österreich, Spanien und Portugal, haben ihre Emissionen gegenüber 1990 nicht gesenkt, sondern sogar noch erhöht. Und ausgerechnet solche Mitgliedstaaten wollen nun anstelle der ursprünglichen 40 Prozent gleich 55 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen.

„Brüssel erwartet, dass wir uns zu einem ehrgeizigeren Klimaziel verpflichten, ohne zu wissen, wie sich diese Zielstellung konkret auf unsere Länder auswirken wird.“   Foto: Grazmel Photography

Diese neue Zielstellung wurde von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen persönlich angekündigt.

Das ist richtig. Die EU-Kommission wünscht, das ursprüngliche Ziel von 40 auf 55 Prozent anzuheben. Das ist sehr ehrgeizig, denn die Mitgliedstaaten haben enorm viel Arbeit in die bisherigen Klimapläne gesteckt. Da geht es um konkrete Programme und deren Finanzierung. Man hat zwei Jahre für die Erstellung der einzelnen, auf die Mitgliedsländer bezogenen Pläne gebraucht, die noch die ursprüngliche Zielsetzung von 40 Prozent enthalten. Und nun liegt dieser neue Vorschlag auf dem Tisch. In einem ersten Schritt wird die Kommission nun eine Wirkungsstudie erstellen müssen, wie sich dieses Ziel erreichen lässt. Diese Studie wird aber nur aggre­gierte Daten auf Gemeinschaftsebene enthalten, ohne diese auf die Ebene der Mitgliedstaaten herunterzubrechen. Mit anderen Worten erwartet Brüssel, dass wir uns zu einem ehrgeizigeren Klimaziel verpflichten, ohne zu wissen, wie sich diese Zielstellung konkret auf unsere Länder auswirken wird. Ich nehme einmal an, dies hat die Proteste Polens und Tschechiens beim Europäischen Rat im Oktober ausgelöst.

Ist das nun dem Organisationschaos geschuldet oder als neuer Schwung zu verstehen?

Wäre ich Präsident der Europäischen Kommission, dann würde ich natürlich von neuem Schwung sprechen. Aus der Perspektive eines Mitgliedstaates sehe ich hier aber Chaos.

Sie erwähnten die Pläne auf nationaler Ebene. Worum geht es dabei?

Die Mitgliedstaaten haben Aktionspläne erstellt, in denen niedergelegt ist, wer welche Maßnahmen ergreifen will, um die Klimaziele bis 2030 zu erreichen. Diese Dokumente zeigen zudem die Auswirkungen auf die betreffende Volkswirtschaft, auf deren Energiepreise und die Versorgungssicherheit. Es ist nämlich wichtig, dass wir die Klimaziele nicht losgelöst von der Energiesicherheit und den Preiseffekten betrachten. Würden wir beispielsweise von heute auf morgen alle Atomkraftwerke vom Netz nehmen und ausschließlich auf erneuerbare Energien setzen, dann ginge das mit enormen Risiken für die Versorgungssicherheit einher. Aber auch die Energiepreise werden stärker schwanken, wenn etwa der Wind nicht weht und der Strom teuer importiert werden muss.

Die Regierung versprach in ihrem im Februar verabschiedeten Aktionsplan für Klima- und Naturschutz bedeutende und schnelle Maßnahmen. Bislang hören wir aber kaum von Ergebnissen. Behindert die Corona-Krise die Umsetzung des Plans?

Einen großen Fortschritt haben wir mit dem im Sommer verabschiedeten Klimagesetz erreicht, das bindenden Charakter besitzt. Es ist ein Novum in Europa, dass wir die Zielstellung der Klimaneu­tralität bis 2050 in einem Gesetz festgeschrieben haben.

In der Tat wirkt sich das Coronavirus auf die Umsetzung der geplanten Maßnahmen aus. Andersherum sorgt es für sinkende Emissionen, weil der internationale Verkehr weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Die Frage ist nur, was von diesem positiven Effekt in der Europäischen Union bewahrt werden kann, wenn wir zur Normalität zurückkehren.

Geraten also Termine des Klimaplans in Verzug?

Das hängt vom jeweiligen Teilgebiet ab. Heute muss sich die Regierung auf die Stabilisierung der Wirtschaft konzentrieren, wofür enorme Ressourcen notwendig werden. In Brüssel ebenso wie in Budapest glaubt man grundsätzlich, dass Investitionen in die Umweltpolitik einen Ausweg bedeuten können.

Wie würden Sie den Unterschied zwischen einer liberalen und einer konservativen „grünen Politik“ definieren?

Wir alle tragen Verantwortung für die Umwelt. Den Unterschied zwischen den beiden Ausrichtungen würde ich vielleicht daran festmachen, dass sich die Linke auf globale Lösungen konzentriert, aus heiterem Himmel ehrgeizige Zielstellungen formuliert, ohne sich mit den Nebenwirkungen – wie zu hohe Energiepreise oder Probleme mit der Energieversorgung – zu beschäftigen. Wir hingegen sehen die Bewahrung unseres unmittelbaren Umfeldes als grundlegenden konservativen Wert an. Für uns lautet die Frage, wie wir uns optimal im Dreieck von Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und bezahlbaren Preisen bewegen können. Dieses überlegte, auf Ausgleich bedachte Handeln würde ich als den konservativen Ansatz bezeichnen.

Was ist wichtiger, die Migrations- oder die Umweltpolitik?

Beide Themen beschäftigen heute die breite Öffentlichkeit. Dabei ist die Migration politisch und ideologisch nach meinem Dafürhalten eher kontrovers und genießt daher mehr Aufmerksamkeit. In der Umweltpolitik verlaufen die Debatten bei weitem pragmatischer. Wir dürfen aber auch nicht aus den Augen verlieren, dass der Kampf gegen den Klimawandel gleichzeitig dem Ringen mit Migrationsströmen dient. Wenn das Klima das Leben in immer mehr Ländern unerträglich erscheinen lässt, werden sich Menschenmassen auf den Weg machen.

„Deutschland begibt sich mit seinem Atomausstieg in Abhängigkeit von der französischen Atom­energie.“ Foto: Grazmel Photography

Ungarn ist der einzige EU-Staat ohne eigenständiges Umweltministerium. Warum?

Der Fragenkomplex des Klimaschutzes ist außerordentlich vielschichtig. Da zählt vor allem die Herangehensweise der Regierung, und nicht die Zahl der Hauptabteilungen und Ministerien, die sich ein grünes Schild anheften. Ich denke, in der Orbán-Regierung wird die Aufgabenbewältigung auf diesen Gebieten gut koordiniert. Möglicherweise erzielen Mitgliedstaaten, die nach außen als sehr umweltbewusst wirken, gar nicht die gleichen Fortschritte in Umweltbelangen, wie wir.

Nennen Sie doch mal eine Technologie bei uns, die gleichzeitig wettbewerbsfähig und umweltfreundlich ist?

Im Laserzentrum ELI in Szeged laufen Forschungen, die einen technologischen Durchbruch versprechen. Es geht um markant verkürzte Halbwertszeiten, um neue Impulse für die Atomindustrie. Bei der Energieerzeugung in Atomkraftwerken fallen keine Schadstoffemissionen an. Die neuen Forschungen lassen auf eine weitaus effizientere Behandlung der Nuklearabfälle hoffen.

Umweltbewusstsein bedroht zahlreiche geschäftliche und politische Interessen. Wie kann man mit diesen Interessengegensätzen umgehen?

Wenn ich mir die aktuellen Pläne der EU-Kommission anschaue, mit denen auf europäischer Ebene enorme Mittel für grüne Investitionen bereitgestellt werden, dann sehe ich darin eindeutig geschäftliche Anreize. Ein Viertel des siebenjährigen Billionen-Budgets der EU muss Umweltinvestitionen dienen, beim Wiederaufbaufonds mit seinem Volumen von 750 Mrd. Euro sind es sogar 37 Prozent. Selbstverständlich geht es dabei nicht nur um das Geschäft, sondern eine neue Betrachtungsweise. Es ist überaus wichtig, wie sich die Bevölkerung verhält. Denken wir nur an das Selektieren von Abfällen – ein früher eher fremder Gedanke hat sich längst durchgesetzt. Das Denken der Menschen generiert eine neuartige Nachfrage und somit Geschäftspotenzial.

Es geht um beträchtliche Summen, wo aber viel Geld im Spiel ist, besteht immer die Gefahr von Korruption. Warum stemmt sich Ungarn gegen die Europäische Staatsanwaltschaft und dagegen, die Verteilung der Fördermittel an Rechtsstaatskriterien zu knüpfen?

Die entsprechenden Mechanismen sind auch heute gegeben, denn die EU-Kommission kann die vernünftige Verwendung der Gelder längst kontrollieren. Die schon existierenden Kontrollinstrumente eignen sich auch für ein Monitoring der neuen finanziellen Mittel. Geldanweisungen können jederzeit gestoppt werden, wenn es Verdachtsmomente eines Missbrauchs gibt.

„Die entsprechenden Mechanismen sind auch heute gegeben, denn die EU-Kommission kann die vernünftige Verwendung der Gelder längst kontrollieren.“   Foto: Grazmel Photography

Welches Potenzial sehen Sie für die Atomenergie in der EU?

Die Atomenergie gehörte im vergangenen Jahrhundert zu den besonders innovativen Feldern der europäischen Gemeinschaft. Die EURATOM war eine der ersten Institutionen der heutigen Europäischen Union. Der EURATOM-Vertrag (der Vertrag der Europäischen Atomgemeinschaft) regelt als einer der Gründungsverträge bis heute den Gebrauch der Atomenergie.

Und doch gibt es heute keine Einigkeit, sondern große Debatten um die Atomenergie.

Ich möchte auf ein wichtiges Gerichtsurteil verweisen, das in Verbindung mit dem Bau des AKW Hinkley Point in Großbritannien gefällt wurde und Präzedenzcharakter für die Beurteilung der Atomenergie in der EU hat. Österreich hatte geklagt, nachdem die EU-Kommission staatliche Beihilfen für das Projekt genehmigte. Das EuGH-Urteil stellt fest, dass Subventionen rechtens sind. Die Botschaft lautet klar und deutlich: Selbst wenn ein Mitgliedstaat die Atomkraft ablehnt, kann dieser nicht gleich Projekte in anderen Ländern der Gemeinschaft verhindern, die auf eine Nutzung der Nuklearenergie setzen.

Deutschland beispielsweise begibt sich mit seinem Atomausstieg in Abhängigkeit von der französischen Atom­energie. Denn ohne Wind und Sonne wird der deutsche Energieverbund, um einen Zusammenbruch zu vermeiden, immer wieder auf Importe vom Nachbarn angewiesen sein.

Das Ministerium für Innovationen und Technologien (ITM) versprach bis Ende 2020 eine Nationale Strategie für „saubere Entwicklungen“, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen.

Wir haben unsere Nationalen Energie- und Klimapläne an die EU eingereicht, in denen wir den Fahrplan für die bis 2030 erwartete Senkung der Emissionen um 40 Prozent darlegen. Als nächstes folgt ein Ausblick bis 2050. In Hinsicht auf die langfristige Planung bin ich eher skeptisch, denn wir wissen heute einfach nicht, welche Technologien uns in Zukunft zur Verfügung stehen werden. Dessen ungeachtet arbeitet das ITM an den Plänen.

Im Januar sorgte ein Fragebogen der Regierung zum Klimaschutz für allerhand Wirbel.

Das Regierungsportal kormany.hu veröffentlichte den Fragebogen, der von mehr als 200.000 Bürgern ausgefüllt wurde. Diese von der Opposition bagatellisierte Konsultation hat einmal mehr gezeigt, dass die Ungarn hinter der Klimapolitik ihrer Regierung stehen. Gleich 92 Prozent unterstützen die Zielstellung, bis 2050 klimaneutral zu werden. Da es sich um eine entscheidende Frage für die Zukunft der EU handelt, rechne ich damit, dass eine noch breitere Konsultation folgen wird.

Aus dem Ungarischen von Rainer Ackermann.

Das Interview entstand als ein Gemeinschaftsprojekt von mehreren Studenten der Fakultät für Journalismus des Mathias Corvinus Collegium, Budapest, unter der Leitung von Boris Kálnoky.

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