So eine Digitalisierungsreform, wie wir sie momentan erleben, hätte kein Bildungspolitiker je einführen können. Foto: EMMI/ Gyula Bartos

Interview mit Bildungsstaatssekretär Dr. Zoltán Maruzsa

„Die große Digitalisierungs­welle steht uns bevor“

Wie geht der ungarische Bildungssektor mit der Pandemie um, wie ist der Stand beim Thema Digitalisierung und warum schneiden Ungarn im internationalen Vergleich bei der Fremdsprachenkompetenz schlechter ab?

Zu diesen und weiteren Fragen äußerte sich Bildungsstaatssekretär Zoltán Maruzsa gegenüber der Budapester Zeitung.

Wie reagiert die Politik auf die anhaltenden Herausforderungen im Bildungssektor, die die Covid-19-Pandemie mit sich bringt?

Selbstverständlich konnte die Pandemie die Arbeit an den Bildungsinstitutionen nie gänzlich zum Erliegen bringen, aber es ging von Anfang an immer um ein Abwägen. Anders als im März 2020 gibt es nun die Möglichkeit zur Impfung, was die Situation erleichtert. Außerdem gibt es Ereignisse, mit denen wir heute deutlich besser umgehen können. Wenn es zum Beispiel in einer Schule zu einem Ausbruch kommt und eine Klasse im Home-Office lernen muss, funktioniert das jetzt ohne weiteres. Zu Beginn der Pandemie waren die sogenannten digitalen Arbeitsplätze außerhalb des Klassenzimmers dagegen noch eine absolute Neuheit. Wir waren nicht darauf vorbereitet.

Seit September 2020 schicken wir, wenn in den Kindergärten oder in Schulklassen von der ersten bis zur sechsten Klasse ein Fall von Covid-19 nachgewiesen wird, diese Gruppe oder Klasse für etwa eine Woche in den digitalen Unterricht beziehungsweise in die Sonderferien. Anfang Dezember hatte die vierte Welle ihren Höhepunkt erreicht, aktuell entspannt sich die Lage wieder. Heute sind es deshalb nur rund ein Prozent der Kindergartengruppen und 1,5 Prozent der Schulklassen, die von zuhause aus lernen müssen.

Das Thema Digitalisierung nimmt auch im Bildungssektor an Bedeutung zu. Ein Vorgänger von Ihnen, Bildungsstaatssekretär Prof. Dr. József Bódis, hat sich dazu in der Budapester Zeitung einmal wie folgt geäußert: „Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir nicht nur von der Digitalisierung sprechen, sondern diese durch ganz konkrete Schritte in der Praxis auch verwirklichen.“ Damals stand vor allem die Entwicklung digitaler Lehrbücher im Vordergrund. Wie kommen Sie hier voran?

Wir sind absolut zufrieden mit unseren Fortschritten. In Ungarn haben Schulbücher eine große Tradition, hier wurde schon immer viel Wert darauf gelegt. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten gibt es in Ungarn keinen von privaten Unternehmen bestimmten Lehrbuchmarkt, sondern der Staat organisiert die Zusammenstellung der Lehrbücher. Seit 2013 ist die Digitalisierung dieser Bücher im Gange. Sie sollten eigentlich bereits im letzten September im Zuge des neuen nationalen Curriculums eingeführt werden, aber als die Pandemie begann, haben wir schnell alle fertigen digitalisierten Bücher für die Schulen veröffentlicht. Insgesamt waren es 180. Diese sind alle auf dem nationalen Bildungsportal NKP (Nemzeti Köznevelési Portál) erreichbar. Noch in der Zeit des Lockdowns nutzten täglich 160.-180.000 Schüler diese digitalen Lehrbücher.

Hat die Pandemie zur größeren Akzeptanz beim Thema Digitalisierung beigetragen?

So eine Digitalisierungsreform, wie wir sie momentan erleben, hätte kein Bildungspolitiker je einführen können. Aber durch die Pandemie waren alle Lehrkräfte gezwungen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. 170.000 Lehrkräfte in ganz Ungarn mussten ihren Unterricht digital organisieren. Das hat natürlich enorme Folgen für die Zukunft: Diejenigen Lehrer und Schüler, die sich das in dieser Zeit beigebracht haben, sind jetzt natürlich viel offener dafür.

Gibt es Maßnahmen aus der Pandemie, die Sie auch in Zukunft fortsetzen wollen?

Absolut. Eine Sache, die wir definitiv übernehmen wollen, betrifft die Abi-Klassen. Hier hat es sich als sehr erfolgreich erwiesen, zwei bis drei Wochen vor dem Abitur digitalen Unterricht anzubieten. Sowohl in diesem Jahr als auch im letzten Jahr hatten die Abiturienten die Möglichkeit, sich digital vorzubereiten. Wir hatten zunächst Bedenken, dass sich der Online-Unterricht negativ auf die Ergebnisse bei den Prüfungen auswirken könnte. Doch die Durchschnittsnoten sind dieselben geblieben, wie in den Jahren vor der Pandemie.

Wie kommt die Einführung von Tablet-Computern voran, die ebenfalls Teil der Digitalisierungsstrategie im Bildungssektor ist?

Wir haben 2018 und 2019 von europäischen Geldern rund 100.000 Geräte gekauft. Das hat uns in der Pandemie natürlich einen deutlichen Vorteil verschafft. Im Schuljahr 2020/2021 haben wir zusätzlich etwa 30.000 Laptops angeschafft, die von Schülern ohne Zugang zu eigenen Geräten genutzt werden konnten. In den Schulen waren darüber hinaus 350.000 PCs vorhanden. Wir baten die Schulen, diese, so lange die Pandemie anhält, ebenfalls den Schülern zur Verfügung zu stellen.

Gerade starten wir ein Programm, welches die Situation noch weiter verbessern soll. Unser Ziel ist es, allen Schülern die Möglichkeit zu geben, über einen Laptop zu verfügen. Das soll vor­aussichtlich für die fünften bis zwölften Klassen gelten. Im nächsten Frühjahr werden daher 120.000 neue Laptops ankommen. Eine große Digitalisierungswelle steht uns also noch bevor.

Seit Jahren steht in Ungarn der Fremdsprachenunterricht beziehungsweise der Bedarf an selbigem in der Kritik. Wie sieht es hier momentan aus?

An ungarischen Schulen ist es zwar Pflicht, eine Fremdsprache zu erlernen, trotzdem sind wir laut EU-Statistik auf diesem Gebiet nicht gerade die Stärksten. Aller fünf Jahre gibt es eine Umfrage unter EU-Bürgern, in der sie gefragt werden, ob sie eine Fremdsprache beherrschen. In Ungarn bejahten diese Frage 2006 nur circa 25 Prozent, 2016 waren es aber schon 42 Prozent.

Die Gründe für das offensichtliche Defizit liegen meiner Ansicht nach darin, dass es in Ungarn lange die Tradition gab, tote Sprachen zu unterrichten. Jahrhundertelang waren Lateinisch und Altgriechisch hier obligatorisch. Einzig in der Zwischenkriegszeit versuchte man, auch Deutsch und Französisch zu unterrichten. Nach dem Krieg war es die russische Sprache – auch eine wenig alltagstaugliche Sprache, da die ungarischen Staatsbürger kaum in die Sowjetunion reisen konnten. Dazu kam, dass der Schwerpunkt des Unterrichts weniger bei der Kommunikation, sondern eher beim Einpauken von Grammatik und Vokabeln lag. Deswegen kommunizieren wir Ungarn auch nicht so perfekt. Andererseits ist Ungarisch eine so einzigartige Sprache, dass es kaum verwandte Sprachen gibt, die ohne viel Aufwand gelernt werden könnten, anders als das in vielen Staaten Osteuropas der Fall ist.

Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Schule Budapest ist exzellent. Foto: EMMI/ Gyula Bartos

Um die Fremdsprachenkompetenz der Ungarn jedoch weiter auszubauen, muss natürlich etwas unternommen werden. Die Regierung versucht deswegen, zweiwöchige Sommerkurse zu finanzieren, bei denen wir Schüler der neunten bis elften Klassen ins Ausland schicken, um die jeweilige Fremdsprache praktizieren zu können. Zusätzlich haben wir eine Software entwickelt, die bereits aktiv in den Schulen genutzt wird. Diese arbeitet sogar mit Künstlicher Intelligenz, sodass man mit ihr sprechen kann. Ich verbinde damit große Hoffnungen: Ein Lehrer wird schließlich nie genug Zeit für alle Schüler gleichzeitig haben, unsere Software schon.

Ein aktueller Kritikpunkt ist auch die Praxiskompatibilität und Umsetzung des neuen nationalen Lehrplans: Wie sieht es damit momentan aus? Wie bedarfsgerecht ist die Ausbildung an ungarischen Schulen?

Es gibt eigentlich keine großen Probleme und auch nur kleine Veränderungen: Die Schüler haben weniger Unterrichtsstunden. Beim früheren Curriculum gab es keine Höchstgrenze. An vielen Schulen wurden 41 bis 42 Stunden pro Woche unterrichtet, jetzt haben wir die Höchstgrenze auf 35 Unterrichtsstunden herabgesetzt. Einige Inhalte haben sich darüber hinaus verändert: Im Fach Informatik beziehungsweise Digitale Kultur wird inzwischen viel praxisnaher unterrichtet.

Wie sieht momentan die Situation bei den Lehrkräften aus? Herrscht hier noch immer ein Mangel?

Grundsätzlich ist das eine schwierige Situation. Ich denke, frühere Generationen haben die Sicherheit, die damit verbunden war, eine feste Lehrerstelle innezuhaben, noch mehr geschätzt. Die Berufseinsteiger von heute wünschen sich mehr Flexibilität, sie möchten sich ausprobieren. Die Vorstellung, 40 Jahre lang an der selben Schule oder am selben Arbeitsplatz zu verbringen, ist einfach nicht mehr so populär. Noch immer stehen aber in Ungarn die pädagogischen Fächer an den Unis von der Popularität her an dritter Stelle. Derzeit absolvieren 15 Prozent aller Studenten ein Lehrerstudium.

Wie viele von ihnen werden schätzungsweise später wirklich als Lehrer arbeiten?

Etwa die Hälfte. Das ist im europäischen Vergleich nicht einmal schlecht. Generell arbeiten innerhalb der EU durchschnittlich 30 Prozent der Absolventen in einem anderen Beruf, als jenem, den sie erlernt haben. Das war vor zehn oder zwanzig Jahren übrigens ganz ähnlich. Die Ausbildung zum Lehrer war schon immer sehr beliebt. Dank der Kommunikationsfähigkeiten, die man bei der Lehrerausbildung erwirbt, stehen den Absolventen später auf dem Arbeitsmarkt viele Optionen offen.

Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, damit sich möglichst viele Pädagogikabsolventen für eine Karriere als Lehrer entscheiden?

Man muss vor allem versuchen, die Schule als Arbeitsort attraktiver zu machen. Natürlich ist es auch eine Lohnfrage, aber wenn es ausschließlich ums Geld gehen würde, dann hätte man in Deutschland überhaupt keinen Lehrermangel.

Im deutschen Bildungssystem gibt es das Fach Sozialkunde beziehungsweise Politik. Wie kommt es, dass es im ungarischen System nichts Vergleichbares gibt?

Das hat historische Gründe. Unter der kommunistischen Diktatur wurde Marxismus oder Leninismus als Lehrfach unterrichtet. Davon wollte man sich nach der Wende lösen. Doch auch wenn wir deshalb Politik nicht als Schulfach haben, gibt es doch zumindest Staatsbürgerkunde. Das Fach wird im ungarischen Bildungssystem in der achten und zwölften Klasse unterrichtet. Die Schüler lernen darin unter anderem die Verfassung und das Regierungssystem kennen.

Wie ist die Zusammenarbeit mit der Deutschen Schule Budapest (DSB)?

Die Zusammenarbeit ist exzellent. Es ist ein historisches Glück, dass wir diese speziellen Schulen haben. Pädagogisch gesehen sind Auslandsschulen wie die DSB natürlich eine andere Welt. Aber auch deswegen sind sie bei uns sehr präsent. Wir hoffen, von ihnen neue Impulse zu bekommen.

Momentan gibt es 25 Auslandsschulen, in denen nicht nach dem ungarischen Lehrplan unterrichtet wird. In den letzten zehn Jahren haben wir neun neue Auslandsschulen zugelassen. Gerade verhandeln wir unter anderem mit Südkorea über die Eröffnung eines Campus, der nach koreanischem Lernplan arbeiten soll. Mittlerweile gibt es auch eine chinesische Auslandsschule. Das sind alles interessante Neuerungen, von denen wir viel lernen können.

Wie sieht es mit ungarischen Schulen im Ausland aus?

Wir überlegen, ob wir in Zukunft in Österreich und in Deutschland ungarische Schulen aufbauen sollen. So könnten wir eine Art Parallelität herstellen. Denn bisher gibt es zwar eine österreichische Schule in Budapest, aber keine ungarische Schule in Wien. Momentan ist das erst mal nur eine Überlegung, aber in Wien leben über 20.000 ungarische Staatsbürger, da ist die Gründung einer ungarischen Schule keine so abwegige Idee.

Die Interviewerin Paula Hefele, 15, ist Schülerin im 10. Jahrgang am Budapester Milestone Institut. Das bereits im Dezember geführte Interview entstand im Rahmen des sogenannten Sophomore Projectes.

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel