Interview mit Finanzminister Mihály Varga
Der Ukraine-Krieg krempelt den Haushalt gehörig um
Dieser Artikel ist Teil unseres Bezahl-Angebots BZ+
Wenn Sie ein Abo von BZ+ abschließen, dann erhalten Sie innerhalb von 12 Stunden einen Benutzernamen und ein Passwort, mit denen Sie sich einmalig einloggen. Danach können Sie alle Artikel von BZ+ lesen. Außerdem erhalten Sie Zugang zu einigen speziellen, sich ständig erweiternden Angeboten für unsere Abonnenten.
Mihály Varga erinnert daran, dass die Orbán-Regierung ihr Defizitziel ehrgeizig um einen ganzen Prozentpunkt drückte und schon im vergangenen Jahr daran ging, das hohe Niveau der Staatsschulden infolge der Corona-Krise abzubauen. Der Krieg in der Ukraine erzwinge eine Neuordnung des Staatshaushalts, betonte der Finanzminister in dem Interview, das kurz vor den Wahlen entstand.
Welche Bilanz ziehen Sie nach einem knappen Jahrzehnt als Finanzminister?
Im letzten Jahrzehnt haben wir wirklich alles erlebt, von Hochkonjunktur bis zu heftigster Rezession, von globalem Rücken- bis zu stürmischem Gegenwind. Wir haben die ungarische Wirtschaft in dieser Zeit krisenfest gemacht, die in Friedenszeiten sowie bei einem Neuanlauf beträchtliches Wachstumspotenzial besitzt. Im letzten Jahr vor der Corona-Krise, 2019, wuchsen wir um 4,6 Prozent, im Jahr des Neustartes 2021 sogar um 7,1 Prozent. Damit gehören wir zur Spitze in der EU, als ein Land, das 2010 neben Argentinien und Griechenland noch zu den zehn Staaten der Welt gehörte, die für Geld- und Kapitalanlagen hochriskant waren. Als diese Regierung vor zwölf Jahren antrat, hing Ungarn am Tropf des Internationalen Währungsfonds, nahe am Staatsbankrott.

Wie gelang die Kehrtwende?
Wir definierten damals drei Hauptstoßrichtungen der Wirtschaftspolitik. Zuerst einmal ging es um eine Ausweitung der Beschäftigung. Konkret wollten wir eine Million Arbeitsplätze schaffen. Mit einem neu angelegten Arbeits- und Steuerrecht steigerten wir die Beschäftigtenzahl von 3,7 auf 4,7 Millionen Menschen. Und obgleich das Coronavirus die Wirtschaftsleistung drastisch zurückwarf, arbeiten heute nochmals mehr Menschen, als vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Die Beschäftigungsquote liegt über, die Erwerbslosenquote unter dem EU-Durchschnitt, mit dem Effekt, dass einzelne Branchen seit 2015 mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen haben.
Die zweite Stoßrichtung bestand darin, die Staatsschulden systematisch abzubauen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt lag diese Quote 2010 bei über 80 Prozent, die wir bis 2019 auf 65 Prozent drücken konnten. Ohne den durch das Coronavirus ausgelösten Schock mit der Notwendigkeit einer fiskalischen Stimulierung ließe sich eine spektakuläre Kurve der Schuldensenkung zeichnen. Wir werden den Faden aber wieder aufnehmen. Die am Jahresende getroffenen Weichenstellungen dienten bereits dem Ziel, zum Abbau des Budgetdefizits und der Staatsschulden zurückzukehren.
MIHÁLY VARGA wurde 1965 in Karcag geboren. Nach dem Abschluss der Wirtschaftsuniversität Budapest arbeitete er bei mehreren Unternehmen, bevor er – der ab 1988 den Fidesz im Komitat Jász-Nagykun-Szolnok aufbaute – in die Politik wechselte. Schon in der ersten Legislaturperiode des frei gewählten Parlaments saß Varga ab 1990 im Haushaltsausschuss, später leitete er den Wirtschaftsausschuss. In der ersten Orbán-Regierung 1998 bekleidete Varga zunächst das Amt des politischen Staatssekretärs im Finanzministerium, ehe er 2001 zum Finanzminister berufen wurde. Darauf folgten acht Jahre in der Opposition, die ihn erneut an der Spitze des Haushaltsausschusses sahen. Mit der Rückkehr der Orbán-Regierung wurde Varga 2010 zunächst Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt, ehe er 2012 zum Minister ohne Geschäftsbereich ernannt wurde, zuständig für die Kontakte zu internationalen Finanzorganisationen. Ab 2013 war er als Wirtschaftsminister tätig, für die vierte Orbán-Regierung ab 2018 als Finanzminister. Mihály Varga ist verheiratet und Vater von vier Kindern.
Die dritte Strategie war darauf ausgerichtet, die der ungarischen Volkswirtschaft innewohnenden Risiken zu reduzieren. Dabei konzentrierten wir uns zum Beispiel darauf, die Zusammensetzung und Struktur der Staatsschulden zu korrigieren. Der Anteil der von Ausländern kontrollierten Staatsschulden wurde auf 30 Prozent halbiert, während die ungarischen Familien heute nicht mehr nur drei Prozent, sondern 25 Prozent der Schulden halten. Parallel verdreifachten sich die Spareinlagen der Haushalte gegenüber 2010 auf 60.000 Mrd. Forint. Neben dem Schuldenabbau hat dieser Strukturwandel die Finanzierung der Staatsschulden erheblich stabiler gemacht. Die verbesserte Bonität bei den drei großen Ratingagenturen widerspiegelt diese Entwicklung. Ungeachtet aller Herausforderungen von der Rotschlammkatastrophe über die Vogelgrippe bis zum Coronavirus wurde das Land stärker und stabiler.
Worin unterscheidet sich die konservative Wirtschaftspolitik der Orbán-Regierung von der linksliberalen Wirtschaftspolitik der Jahre vor 2010?
Kurz gesagt: in allem! Die Wirtschaftspolitik der Linken musste das Land zwischen 2002 und 2010 über sich ergehen lassen, mit dem Resultat der Zahlungsunfähigkeit. Schon vor der globalen Finanzkrise von 2008, als alle Welt eine Hochkonjunktur erlebte, trat Ungarn auf der Stelle und verschuldete sich so schwer, dass in der Krise der IWF rettend eingreifen musste. Dabei galten wir 2002 als reif für den Euro und wollten gemeinsam mit Slowenien der Eurozone beitreten. Slowenien führte die Gemeinschaftswährung in der Tat 2007 ein – bis dahin hatte Ungarn aber längst vollständig die Orientierung verloren. Das Haushaltsdefizit bewegte sich in jenen Jahren trotz Konjunktur um durchschnittlich 6,6 Prozent. Nach 2004 wurden die Familien in die Falle der Fremdwährungskredite gelockt, was in der Krise riesige materielle Verluste und Tragödien verursachte. Obwohl der Staat laufend die Steuern und Abgaben erhöhte, waren bis 2008 alle Finanzen und Ideen erschöpft.
Was können wir seit 2010 vorweisen? Damals übernahmen wir eine Erwerbslosenquote von zwölf Prozent, die wir unter vier Prozent drückten. Die Bruttodurchschnittslöhne kletterten von 200.000 auf 440.000 Forint monatlich. Es ist bezeichnend, dass heute der Mindestlohn jenes Niveau erreicht, das unter den Linken den Durchschnittslohn ausmachte. An die Stelle der progressiven Einkommensteuer setzten wir eine Pauschalsteuer von derzeit 15 Prozent, die noch um Vergünstigungen für Familien gesenkt werden kann. Unser Grundprinzip in der Steuerpolitik lautet, Arbeit und Einkommenserwerb nicht zu bestrafen, sondern zu stimulieren. Das hat sich bewährt, wie das dynamische Wachstum der letzten Jahre zeigt.
Ein modischer Slogan handelt vom „Überholen in der Kurve“. Hat das geklappt?
Auch wenn das nach Selbstlob klingt, muss ich dies ausgesprochen bejahen! Wir sind im Vergleich mit den meisten EU-Mitgliedstaaten eindeutig besser durch die Corona-Krise gekommen. Dann kam jedoch der Ukraine-Krieg, der alles umwirft. Ohne diesen bewaffneten Konflikt in unserer Nachbarschaft könnte man unsere Wirtschaft als fit bezeichnen. Die Sanktionen aber sorgen für eine vollkommen neuartige Situation, für ganz Europa und mittendrin für Ungarn. Tiefgreifende Veränderungen brechen sich Bahn, wir erleben den Beginn eines neuen Kalten Krieges. Alles, was wir über Aufrüstung, Energieversorgung und Diversifizierung dachten, muss neu bewertet werden.

Wir wissen nicht, wie lange der Krieg andauert und welche Auswirkungen die Sanktionen haben werden, aber wir wagen zu behaupten, dass die ungarische Wirtschaft auf der starken Basis des Rekordwachstums von 2021 auch in diesem Jahr weiter wachsen wird. Ohne Frage müssen wir unsere Prognosen überarbeiten, denn die Inflation steigt dynamischer als erhofft und die Flüchtlingswelle mit schon bisher weit über einer halben Million Ukrainern verlangt außerordentliche Maßnahmen. Global werden die Wachstumsprognosen zurückgeschraubt. Das mag voreilig sein, aber so tickt der Markt. Die Abhängigkeit Mitteleuropas in Energiebelangen bringt jedenfalls bedeutende Risiken mit sich. Die hohe Sparrate gepaart mit einem niedrigen Kreditbestand gibt uns immerhin die Hoffnung, dass die Firmen weitere Kapazitäten schaffen und die Haushalte wie gehabt konsumieren.
Das Oppositionsbündnis unterstellte Ihnen, schon 2021 einen Haushalt mit Blick auf die Wahlen zusammengestellt zu haben, erst recht dann 2022. Es handle sich um Steuergeschenke an die Familien, die ohne jede Deckung sind. Sparmaßnahmen seien unvermeidlich.
Auf Wahlen abgestimmte Haushaltspläne und Sparmaßnahmen haben Tradition bei den Linken. Nach dieser Logik könnte man jeden Haushalt der sozialistisch-liberalen Regierungen zwischen 2002 und 2010 als „Wahl-Haushalt“ bezeichnen, denn im Durchschnitt wurden Neuschulden von 6,6 Prozent pro Jahr gemacht, in 2006 sogar 9,3 Prozent. Dabei gab es damals weder Kriege noch ein Coronavirus auszugleichen! Wir konnten sowohl 2014 als auch 2018 beweisen, dass die Höhe des Defizits nicht von anstehenden Wahlen abhängig ist. Uns nun genau mit diesem Vorwurf zu kommen, nachdem wir bestrebt sind, im Anschluss an eine schwere Rezession der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, ist hinterhältig und von diesen Leuten obendrein unglaubwürdig.
Defizit und Schuldenstand wurden durch die Auswirkungen des Coronavirus geprägt. Die von uns aufgelegten unzähligen Programme zur Belebung der Investitionen, die Lohnzuschüsse und Steuererleichterungen dienten einzig dem Zweck, die pandemiebedingten Verluste der ungarischen Volkswirtschaft zu minimieren und die Arbeitsplätze zu bewahren. Im vergangenen Jahr sprang der Motor der Wirtschaft wieder an. Daraufhin gaben wir den Familien die 2021 eingezahlte Einkommensteuer zurück, um den Menschen beim persönlichen Neuanfang zu helfen. Der gleiche Ansatz findet sich hinter der 13. Monatsrente oder der Steuerbefreiung für Berufsanfänger. Wenngleich es nicht unsere Absicht war, helfen diese Maßnahmen der Gesellschaft zugleich, sich auf die negativen Auswirkungen von Inflation und Krieg vorzubereiten. Höhere Einkommen und eine hohe Sparrate sind ein gutes Polster, wenn unsichere Zeiten anbrechen.
Bei all dem lassen wir nicht zu, dass die Gleichgewichte im Budget abhandenkommen. Noch vor dem Jahresende 2021 führten wir ein Ausgabenlimit bei den Ministerien ein – allein damit hielten wir 350 Mrd. Forint zurück. Investitionen im Gesamtwert von 755 Mrd. Forint wurden aufgeschoben, während wir das Defizitziel für 2022 von 5,9 auf 4,9 Prozent absenkten. Damit haben wir gezeigt, dass wir nicht im Wahlkampf stehen, sondern den Staatshaushalt dem veränderten wirtschaftlichen Umfeld anpassen.
Wer kommt für die Mehrkosten infolge des Ukraine-Krieges auf?
Die Finanzierung der Flüchtlingsversorgung ist zentral gedeckelt. Wir können nicht von den Städten und Gemeinden im grenznahen Raum erwarten, dass sie für die zusätzlichen Lasten materiell aufkommen. Selbstverständlich ist kein Land der Welt darauf vorbereitet, von heute auf morgen Hunderttausende Menschen aufzunehmen. Wir kümmern uns um alle, unabhängig von den Kosten. Die Kinder bringen wir in Kindergärten und Schulen unter, wir bieten allen Flüchtlingen Unterkunft und Essen, den Arbeitswilligen Jobs, die wir mit staatlichen Zuschüssen an die Arbeitgeber unterstützen.

Wir baten die EU, in dieser außerordentlichen Lage Gelder aus dem Wiederaufbaufonds freizugeben. Ungarn hat einen Anspruch auf diese Gelder, um eine humanitäre Katastrophe abzuwehren und den Grenzschutz zu stärken. Ungarn und Polen wurden diese Gelder bislang vorenthalten, womit man uns gegenüber anderen EU-Staaten diskriminiert.
Brüssel hat die Gelder bewusst zurückgehalten, um Einfluss auf den Ausgang der Parlamentswahlen zu nehmen. Die Linke machte daraus gar kein Geheimnis, denn beinahe täglich hieß es auf Pressekonferenzen: Nur im Falle einer neuen Regierung wird Geld fließen. Dabei weiß die Europäische Kommission sehr genau, dass ihr Standpunkt weder rechtlich noch politisch oder moralisch zu verteidigen ist. Die Nachbarländer der Ukraine haben mehrere Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Wenn Brüssel ihnen nicht hilft, gerät die in der Frage des Ukraine-Krieges gewonnene europäische Geschlossenheit ins Wanken.
Warum meldet Ungarn neuerdings neben den Zuschüssen auch Anspruch auf die Kreditgelder des Wiederaufbaufonds an?
Der Ukraine-Krieg hat seit Jahrzehnten in Stein gemeißelte Routinen über den Haufen geworfen. Hätte jemand gedacht, dass Deutschland hundert Milliarden Euro in die Rüstung stecken wird? Wir brauchen eine beschleunigte Finanzierung, mit einem Tempo, das an den Devisenmärkten und mit Begebungen von Staatsanleihen nicht erreicht werden kann. Der Krieg wirkt wie ein Katalysator, um die extrem kostspielige Unabhängigkeit und Diversifizierung in Energiebelangen zu erreichen.
Mit welchen makroökonomischen Eckdaten rechnen Sie in dieser neuen Situation?
Das Finanzministerium ging mit einer Prognose von 5,9 Prozent Wachstum und 4,9 Prozent Haushaltsdefizit in dieses Jahr. Der Krieg und die hohen Energiepreise bremsen das Wachstum aus, während gleichzeitig die Inflation angeheizt wird. Die Auswirkungen der Sanktionen lassen sich nur schwer abschätzen. Nicht umsonst hat auch die Notenbank das Prognoseintervall weiter gefasst. Im Februar stand die Inflationsrate bei 8,3 Prozent, ohne die vielen Gegenmaßnahmen von Preisdeckelungen bis hin zum Zinsstopp würden wir aber ähnlich wie das Baltikum wohl längst im zweistelligen Bereich angelangt sein. Nichtsdestotrotz rechnen wir selbst in dieser prekären Lage immer noch mit einem Wachstum von 3-4 Prozent. Das Defizit wollten wir weiter drücken, doch der Krieg erzwingt eine Neuaufstellung des Staatshaushalts.
Die Opposition würde den Euro binnen fünf Jahren einführen. Welche Chancen geben Sie dem ungarischen Euro?
Diese Regierung verharrt auf ihrem Standpunkt: Wir bekennen uns zur Gemeinschaftswährung, doch die ungarische Wirtschaft muss vorbereitet sein. Die ersten zwei Jahrzehnte des Euro haben nämlich gezeigt, nur weil ein Land die Beitrittskriterien erfüllt, hat es nicht automatisch seine Wettbewerbsfähigkeit gestärkt. Die wirtschaftliche Leistung der Mitgliedstaaten der Eurozone hängt weniger von ihrer Zugehörigkeit ab, als von der Qualität der von ihnen verfolgten Wirtschaftspolitik. Ein Beitritt zur Eurozone muss den Interessen Ungarns dienen.

Jenen, die uns drängen wollen, rate ich, die Entwicklung Tschechiens und der Slowakei zu vergleichen. Und noch ein Tipp: 2006 zogen die Slowaken an uns vorbei, 2018 überholten wir sie wieder.
Mit dem siebenprozentigen Rekordwachstum haben wir das Entwicklungsniveau Portugals erreicht. Geben wir uns damit zufrieden oder wird Österreich angepeilt?
Wir haben Griechenland und die Slowakei überholt und zu Portugal aufgeschlossen. Es geht jedoch nicht darum, in makroökonomischen Zahlen zu schwelgen, sondern einfach ausgedrückt um das allzu menschliche Ziel, immer ein wenig besser zu leben. Dafür aber muss die heimische Wirtschaft effizient und konkurrenzfähig sein.
Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.
Das hier leicht gekürzt wiedergegebene Interview erschien ursprünglich Ende März im konservativen Wochenblatt Figyelő.