„Wenn wir die Infrastruktur nicht kontrollieren, werden wir zum Spielball der Geschäftsinteressen anderer.“ Foto: Árpád Földházi

Interview mit Zsolt Hernádi, dem Vorstandsvorsitzenden des größten ungarischen Unternehmens

Das ist unsere Heimat, das Zuhause der MOL-Gruppe

Für diese Region interessiert sich niemand sonst, also müssen wir uns aus eigenem Antrieb organisieren. Das meint MOL-Chef Zsolt Hernádi, mit dem wir uns über die Zukunft seines Unternehmens, Ungarns und Mittelosteuropas unterhielten.

Wie hart trifft das Coronavirus die MOL-Gruppe?

Innerhalb der Industrie ist die Mineralölbranche am schwersten von den Beschränkungen des öffentlichen Lebens betroffen, die den Verkehr lahmgelegt haben. Im vorigen April und Mai verloren wir 95 Prozent unseres Kerosinabsatzes. Im ersten Monat der Notstandslage brachen die Tankstellenverkäufe um 40 Prozent ein, das Ergebnis des Konzerns um ein Sechstel.

Wie haben Sie reagiert?

Wir sind ein Unternehmen von strategischer Relevanz, mit Geschäftseinheiten, die rund um die Uhr laufen müssen. Um das sicherzustellen, mussten wir uns um die Gesundheit unserer Mitarbeiter kümmern. Dank außerordentlicher Sicherheitsvorkehrungen konnten wir verhindern, dass sich im Unternehmen Corona-Hotspots bilden.

Daneben drosselten wir die Investitionen und kürzten manche Budgets. Mitarbeiter mussten wir nicht entlassen, die oberste Managementetage verzichtete jedoch freiwillig auf vierzig Prozent der Bezüge. Dieser Initiative schlossen sich viele Führungskräfte auf der mittleren Leitungsebene an. In Arbeitsbereichen, die schwerer belastet wurden, zahlten wir Zuschläge, in anderen, die krisenbedingt weniger ausgelastet waren, gab es Lohneinbußen. Aber niemand wurde nach Hause geschickt.

Was sind die Lehren aus dieser extremen Zeit?

Wir mussten den Führungsstil laufend adaptieren. Am Anfang war es wie im Ausnahmezustand. Getroffene Entscheidungen waren schon am nächsten Tag hinfällig, immer wieder mussten wir uns selbst widersprechen. Etwa zwei Monate brauchte es, bis wir mit der neuen Lage umgehen konnten. Die Digitalisierung wurde vor allem dort vorangetrieben, wo persönliche Präsenz nicht notwendig ist. In den Führungsstrukturen setzte sich die Online-Kommunikation durch und verdrängte die früher als bequeme Lösungen erachteten Sitzungen und Konferenzen.

Was brachte das Coronavirus der Volkswirtschaft?

Wir hatten verlernt, Angst zu haben. Dabei ist es eine gesunde Angst zu wissen, dass uns Rohstoffe und Materialströme, die wir nicht kontrollieren, auch nicht gehören. In Krisen wird der Zugriff auf diese eingeschränkt. Deshalb sollten wir eine bestimmte Basisinfrastruktur im einheimischen Besitz – oder auf regionaler beziehungsweise EU-Ebene – halten, selbst wenn die Kosten für diese Art Bereithaltung höher ausfallen.

„Wir hatten verlernt, Angst zu haben. Dabei ist es eine gesunde Angst zu wissen, dass uns Rohstoffe und Materialströme, die wir nicht kontrollieren, auch nicht gehören.“ Foto: Árpád Földházi

Denken wir nur an die ersten Wochen der Corona-Pandemie, als Alkohol für die Herstellung von Desinfektionsmitteln auf einen Schlag zur Mangelware wurde, weil plötzlich alle Welt Desinfektionsmittel produzieren wollte. Unsere Antwort lautete, diesen Engpass aus eigenen Ressourcen zu beheben. Wir benötigten nur einige wenige Wochen, um unser Werk für die Herstellung von Scheibenwischwasser auf Desinfektionsmittel nach WHO-Standards umzustellen. Mit ungarischen Rohstoffen konnten wir ein ungarisches Produkt für den ungarischen Markt kreieren und auf diese Weise zur erfolgreichen Corona-Abwehr in unserem Land beitragen.

Wird die Wirtschaftspolitik nun protektionistischer?

Ganz sicher mehr als bisher. Früher wurde unterstellt, Protektionismus gehe Hand in Hand mit Nationalismus. Das ist nun vorbei. Als wir 2006-2009 auf einen Gasverbund in Mitteleuropa drängten, meinten viele, das sei überflüssig, es gebe ja Erdgas zur Genüge. Im Normalfall schon, aber nicht in der Krise. Die positiv eingesetzte Angst hilft uns, zu den Realitäten zurückzufinden.

Das war wohl auch so, als Sie die MOL-Gruppe gegen feindliche Übernahmeversuche verteidigten.

Dabei gab es damals Politiker, die meinten, die Oligarchen wollen nur ihren eigenen Einfluss bewahren. Meine Argumentation lautete: Wenn wir die Infrastruktur nicht kontrollieren, werden wir zum Spielball der Geschäftsinteressen anderer. Eine vorübergehend stillgelegte Raffinerie zum Beispiel ist wie ein Einfamilienhaus, das auf Jahre unbewohnt ist. Der Zerfall und Wertverlust steigt exponentiell. Man kann eine Raffinerie nicht mal abschalten und dann wieder hochfahren, ganz zu schweigen von den dort beschäftigten Fachleuten, die es in alle Welt verstreut.

Die protektionistische Wirtschaftspolitik hat durchaus ihren Platz verdient. Ein Land muss sich um seine Bürger kümmern. Auch ich war lange in dem Denkschema von den freien Waren- und Kapitalströmen verfangen.

Dieser „Zeitgeist“ wurde im Westen gerne zur Schau gestellt, während man sehr wohl die eigenen Interessen wahrte.

Leider sind wir hier in Mittelosteuropa gewöhnt daran, dass „was Jupiter darf, dem Ochsen noch lange nicht erlaubt ist“. Wir sind mit dem Handicap aufgewachsen, dass wir zweimal so hart für die gleiche Leistung, die gleiche Anerkennung arbeiten müssen. In Westeuropa gewinnt kein Ausländer einen öffentlichen Bauauftrag, passiert das bei uns, sind wir gleich Nationalisten.

Korruption gibt’s ja auch nur im Osten…

Was sollen sie denn sonst sagen? (Er lacht.) Korruption versteht jeder. Zwei Sachen dürfen jedoch nicht vermengt werden: Protektionismus und Effizienz. Ein Protektionismus, der nicht mit Effizienz einhergeht, macht bequem und bremst Innovationen aus. Wo die Leistung nicht gefragt ist, bleibt die Wettbewerbsfähigkeit auf der Strecke.

Welcher Vision wird die MOL-Gruppe folgen? Wird sie ein Champion der Kreislaufwirtschaft?

Genau. Wie wir das anstellen wollen? In den nächsten neun Jahren geben wir eine Milliarde Dollar für solche Projekte aus, daneben fließt jeder zweite Dollar in Investitionen, mit denen die Nachhaltigkeit gestärkt wird. Nur einige Beispiele: Schon heute verarbeiten wir Unmengen an Müll, wir öffnen uns für alternative Kraftstoffe, und wir haben bereits Erfahrungen darin, Kohlendioxid in der Erde zu speichern. Da es sich um eine langfristige Strategie handelt, werden sich die Technologien unterwegs enorm entwickeln.

Geht es Ihnen um mehr Wertschöpfung oder um mehr Krisenresistenz?

Um beides. Wir erzeugen selbst jährlich 100.-120.000 Tonnen Abfälle, die wir zum Teil bereits recyceln oder energetisch verwenden können. Gleichzeitig erwarten unsere Auftraggeber und unsere Kunden einen steigenden Recyclinganteil von uns. Wir müssen den EU-Klimazielen gerecht werden und unseren ökologischen Fußabdruck verkleinern.

Ist es also nicht nur eine Imagefrage, dass MOL grüner wird?

Das ist eine knallharte Geschäftsangelegenheit. Weil unsere Grundtätigkeit im Zuge steigender Preise für Emissionsrechte teurer wird, müssen wir gegensteuern, indem wir die Nettoemissionen bis 2030 um dreißig Prozent und bis 2050 auf null senken, also klimaneutral werden. Den Restausstoß neutralisieren wir mit Filtern auf den Abscheidern, beziehungsweise indem wir das Kohlendioxid in den Boden verpressen.

Wird Abfall das Erdöl der Zukunft?

Das glaube ich zwar nicht, aber wir prüfen, ob wir in der Abfallwirtschaft aktiver werden können. Heute verarbeiten wir schon 500.000 Fahrzeugreifen im Jahr, die wir Gummibitumen untermischen. Außerdem haben wir im letzten Jahrzehnt 65.000 Tonnen Altöl aufgearbeitet. Doch das alles reicht nicht. Wir prüfen deshalb, ob wir Rohstoffe für die Aufbereitung von Kunststoffen beisteuern können. Bisher werden bei uns Kunststoffabfälle in erschreckenden Mengen einfach in der Erde vergraben. In Ungarn werden gerade einmal 15 Prozent des Haushaltsmülls selektiv erfasst, und das nicht einmal in der für das Recycling benötigten Qualität.

Könnten Daten Ihr Erfolgsgeheimnis für die Zukunft werden?

In der Corona-Krise konnten wir zwar kein Benzin mehr verkaufen, unsere Sparte Dienstleistungen für Privatkunden ist derweil profitabler denn je. Wir haben seit Jahren auf Daten und Digitalisierung gesetzt, das zahlt sich jetzt aus. In jeder einzelnen Sekunde verkaufen wir zwei Tassen Kaffee – eine unglaublich anmutende Zahl –, also sind wir im Bild über unsere Kunden. In Kroatien haben wir ein individuell zugeschnittenes Treueprogramm aufgelegt. Die Angebote an die Kunden variieren nach ihren Präferenzen. Dahinter stecken KI, Algorithmen und Roboter. Die Mineralölkonzerne waren nie Profis im Verkauf, sie waren Profis in Förderung und Raffineriegeschäft. Als Statoil das große Tankstellennetz aufgab, gaben sie damit zugleich ihre Kunden und deren Daten auf.

„Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, gewürzt mit Patriotismus.“ Foto: Árpád Földházi

Auch andere Unternehmen haben sich umorientiert. Samsung handelte anfänglich mit Trockenfisch.

… und Nokia mit Gummistiefeln. Man darf keine Angst vor großen Veränderungen haben, wenn die Zeit dafür reif ist. Auch in dreißig Jahren werden wir noch Kraftstoffe für Verbrennungsmotoren verkaufen, in naher Zukunft wird die Nachfrage in unserer Region sogar noch weiter wachsen, aber das ist schon halb Geschichte. Nokia hat das erste Touchscreen-Mobiltelefon entwickelt. Doch man glaubte nicht daran, verwarf es mit dem Blick von Ingenieuren. Man muss das Gespür für den richtigen Zeitpunkt haben. Ich denke, wir sind als Marktführer in drei Ländern und TOP3-Anbieter in vier weiteren Ländern gut dafür aufgestellt.

Kommt Ungarn besser durch die Corona-Krise, als andere Länder?

Gemessen an unseren Möglichkeiten schon, aber das reicht nur fürs Mittelfeld in der EU, Kopf an Kopf mit der Slowakei und Tschechien. Jene Länder kommen besser durch die Krise, die in der Digitalisierung weiter voraus sind, so wie Estland. Wir haben nicht den Mut für wirklich große Schritte. Ständig hören wir, wie wichtig die Digitalisierung sei, aber dann fordern acht von zehn Ämtern Dokumente in Papierform an. Die Steuer- und Finanzbehörde NAV ist ein gutes Beispiel für den grundlegenden Wandel. Es darf keine Alternative zur elektronischen Kontakthaltung mehr geben. Ich glaube daran, dass in der jetzigen Lage Entwicklungssprünge möglich werden. Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, gewürzt mit Patriotismus.

Stimmen Sie einer Wirtschaftspolitik zu, die auf Arbeit statt Beihilfen setzt?

Unbedingt! Helikoptergeld kann die gesellschaftliche Moral böse untergraben. Geld ohne echte Arbeitsleistung ist ein wenig, wie die Arbeitslosigkeit hinter den Fabriktoren im Sozialismus. Das ist die falsche Richtung. Man gewöhnt sich leicht an Beihilfen und kommt schwer wieder davon los. Das widerspricht dem Wettbewerbsgeist. Dabei hat die jetzige Krise sogar bei der Kirche zu Wettbewerb geführt.

Wie meinen Sie das?

Nun, da die Gläubigen wegen der Pandemie nicht unbedingt in die Kirche zur Predigt gehen müssen, kam ans Tageslicht, dass manche Priester ohne Gemeinde geblieben sind. Andere aber locken mit ihren Online-Predigten Tausende Zuschauer an, so viele, wie sie nie in einer Kirche hätten. Das Geheimnis ist simpel: Sie sprechen vom Leben der Gläubigen. Die meisten Menschen wenden sich nicht in spirituellen Fragen an ihren Hirten, sie wünschen Rat, wie sie ihr Leben führen sollen.

Kann der Glauben ein Unternehmen oder ein Land in einer Krise stärken?

Seit zwanzig Jahren stehe ich dem MOL-Konzern nun vor, in einem zunehmend multikulturellen Umfeld. Meine Erfahrung ist die, dass Gläubige über eine stabilere Werteordnung verfügen. Ein Unternehmen mit sechsundzwanzigtausend Mitarbeitern braucht eine Werteordnung. Aber natürlich gibt es auch Atheisten mit felsenfesten Prinzipien, und Gläubige mit verschrobenen Wertevorstellungen.

Foto: Árpád Földházi

ZSOLT TAMÁS HERNÁDI wurde 1960 in Tarján geboren, wuchs aber in Esztergom auf. Er absolvierte die Wirtschaftsuniversität „Karl Marx“ (heute: Corvinus-Universität) und begann seine berufliche Laufbahn im Bankensektor, als Praktikant der Deutschen Bank. Bei der K&H Bank stieg er schon 1992 ins Topmanagement auf. Ab 1994 war er Generaldirektor der Takarékbank, von wo er 1999 in den Vorstand des Mineralölkonzerns MOL wechselte. Im Sommer 2001 wurde er zum Vorstandsvorsitzenden der MOL Nyrt. ernannt. Im vergangenen Jahr wurde er in der Topliste der reichsten und einflussreichsten Ungarn auf den Plätzen 69 bzw. 13 geführt.

Wie steht es um den Anschluss an den Westen? Der Median-Lohn hat sich hierzulande seit 2010 verdoppelt. Das ist doch ein beachtliches Tempo.

Auf jeden Fall. Wir müssen aus der mittleren Einkommensfalle herausfinden, das ist noch nicht geglückt. Es ist gut, dass die Einkommen steigen, aber die Produktivität müsste da mitziehen.

Sorgen Lohnerhöhungen nicht für mehr Effizienz?

Nur wenn Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit hochgehalten werden.

Trauen Sie der Wirtschaftspolitik zu, das Gleichgewicht zu halten, also die heimischen Unternehmen zu schützen, ohne sie in Watte zu packen?

Bisher gelang das. Aber heute verbreitet sich in der EU die Praxis, dass die Regierungen ungezügelt Geld in den Kreislauf pumpen. Die Haushaltsdisziplin ist aufgeweicht. Weder Politiker noch Bürger dürfen sich an das leichte Geld gewöhnen, denn das gibt ein böses Erwachen.

Schon lange wird keine Inflation mehr gemessen.

Die Inflation ist in Deutschland zurück und bewegt sich bei uns längst um drei Prozent. Wir müssen bei der Produktivität gegensteuern, auf ein gesundes Maß an Protektionismus setzen und in der wissensbasierten Wirtschaft ankommen.

Ist denn eine ungarische Arbeitskraft weniger produktiv, als eine deutsche?

Ja.

Liegt das am Umfeld?

Davon bin ich überzeugt.

… und an der Arbeitsorganisation?

… an den Leitern. Ein Schweißer schweißt, aber wie systematisch seine Tätigkeit organisiert ist, welchen Wert das von ihm geschaffene Produkt hat, das liegt am Leiter. Hierzulande sind Generationen ohne diesen Anspruch aufgewachsen.

Das ungarische Hochschulwesen ist nicht offen genug, lieber deckt man sich wie in einer Zunft gegenseitig den Rücken. Die Lehrkräfte meinen, für das wenige Geld, das sie verdienen, könne man keine Qualität erwarten. Nur die Menge zählt, so viele eingeschriebene Studenten wie möglich, auch wenn das allgemeine Niveau damit sinkt. In den Shared Services Center werden heute Studenten vollzeitbeschäftigt, die eigentlich tagsüber Vorlesungen und Seminare besuchen sollten.

Wir sprechen viel von der Wiedervereinigung des Karpatenbeckens. Kann die MOL-Gruppe ihren Beitrag dazu leisten?

Ich würde das nicht so krass formulieren, um nicht am Ende als Revisionist hingestellt zu werden. Sagen wir doch besser: Die MOL-Gruppe hält zusammen, was zusammengehört. Damit ist nicht Ungarn gemeint, sondern Mittelosteuropa. Gott sei Dank sind in der Europäischen Union Ländergrenzen immer weniger wichtig. In der Region unterhalb der Karpaten sind wir ein tonangebendes Unternehmen. Wir streben auch in den benachbarten Ländern wirtschaftlichen Wohlstand an, denn der kommt uns allen zugute. Mittelosteuropa sollte in allen Belangen an einem Strang ziehen – an uns ist sonst niemand interessiert, also müssen wir lernen, unsere Werte selbst zu verteidigen. Unser Ziel muss lauten, einander zu lehren und die Augen zu öffnen. Ich verstehe es zugleich als meine persönliche Mission, dass wir wieder lernen, einander zu lieben.

Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.

Das hier gekürzt wiedergegebene Interview von Dániel Oláh erschien ursprünglich Anfang März im konservativen Wochenmagazin Mandiner.

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