Interview mit MBMH-CEO Christian Wolff
„Glänzende strategische Zukunft“
Wieviele Fahrzeuge liefen 2020 in Ihrem Werk vom Band?
Deutlich über 160.000. Im Jahr zuvor waren es rund 190.000. Ursprünglich geplant war für 2020 zwar ein weiteres Rekordjahr, die letztlich produzierte Stückzahl hat sich dann aber trotz Corona-Pandemie auch ganz gut entwickelt.
Wie lag Ihre Fabrik 2020 bei der Produktionszeit gegenüber 2019?
Wir sind bestimmt 20 Prozent weniger Arbeitstage gefahren. Ab August hatte die Nachfrage jedoch wieder so stark angezogen, dass wir sogar regelmäßig Extra-Schichten einlegen mussten. Beim Nettoumsatz war die Differenz gegenüber 2019 wesentlich geringer: 3,4 Milliarden Euro gegenüber 3,7.
Und sonst?
2020 war trotz der Corona-Pandemie ein gutes Jahr für uns gewesen. Wir haben alle Qualitätsziele erreicht. Im Juli war der Produktionsanlauf für unsere ersten Plug-in-Hybrid-Fahrzeuge: CLA 250e Coupé und CLA 250 e Shooting Brake. Uns war klar, dass wir den Anlauf unter keinen Umständen verschieben dürfen. Letztlich haben wir damit erneut bewiesen: auf Kecskemét kann man sich verlassen.
Die größte Nachricht von 2020 war aber zweifellos, dass wir den Auftrag für die Produktion des vollelektrischen SUV EQB gewonnen haben. Produktionsstart ist bereits das IV. Quartal 2021. Das wird das Highlight dieses Jahres. Wobei wir aber nicht den A-Klasse Hybrid-Anlauf im II. Quartal aus den Augen verlieren dürfen. Außerdem wird dieses Jahr unser zweites Presswerk hochgezogen.
Wie ist die MBMH bezüglich der Mitarbeiter durch das letzte Jahr gekommen?
Wir haben niemanden im Zusammenhang mit der Pandemie entlassen. Im Gegenteil: Ab sofort beginnt die Personalsuche für den EQB und das neue Presswerk. Wir suchen eine deutlich dreistellige Zahl von Leuten, die wir innerhalb der nächsten neun Monate einstellen werden. Es geht um Arbeitsplätze in der Produktion und der Verwaltung. Für alle, die je daran gedacht haben, für Mercedes-Benz in Kecskemét zu arbeiten, ist jetzt ein idealer Zeitpunkt!
Was spricht für das Mercedes-Werk?
Bei uns gibt es ein sehr attraktives Gesamt- und Vergütungspaket. Wir bieten – wie auch das letzte Jahr bewiesen hat – krisensichere Jobs. Unser Werk hat strategisch eine glänzende Zukunft. Hier kann man Teil der Mercedes-Familie werden.
Wie kam Ihr Werk an den EQB-Auftrag?
Innerhalb unseres Konzerns verfügen wir inzwischen über eine ausgezeichnete Reputation. Der Vorstand weiß, was er an unserem Werk hat. Dass er mit Kecskemét bezüglich Termintreue oder Qualität keinerlei Risiko eingeht. Schon länger habe ich dafür gekämpft, ein zusätzliches Produkt nach Kecskemét zu holen. Es geht dabei nicht zuletzt darum, unseren Standort und damit auch die hiesigen Arbeitsplätze strategisch abzusichern. Außerdem kann unser alter Rohbau einen neuen Verwendungszweck bekommen. Aufgrund all dieser Gegebenheiten konnten wir uns letztlich im Wettbewerb durchsetzen.
Was sind die weiteren Schritte hin zum EQB-Produktionsanlauf?
Wir haben bereits Weihnachten begonnen, den Rohbau aufzubauen. Bis zum Anlauf ist nicht mehr viel Zeit. Wir bekommen das aber hin. Das ist nicht zuletzt auch eine Mentalitätsfrage. Wir denken hier in Lösungen und nicht in Problemen.
Ich habe das Projekt ausgiebig im Management-Team diskutiert. Dann habe ich gesagt, wenn wir den EQB nach Kecskemét holen, dann müssen wir auch zuverlässig liefern. Ich habe in die Runde geschaut und in lauter glänzende Augen geblickt. In dem Moment war mir klar, meine Mannschaft will das Projekt und bekommt es hin. Da war er wieder, unser Kecskeméter Spirit!
Wo wird der EQB noch gefertigt?
Nur noch in unserem chinesischen Werk in Peking, von wo exklusiv der chinesische Markt abgedeckt wird. Alle anderen Länder der Welt werden von uns beliefert.
Wird sich durch die Investitionen für die EQB-Produktion die Fahrzeugkapazität des Werkes erhöhen?
Ja, unsere Gesamtkapazität wird dadurch um einige Prozent nach oben gehen. 2022 könnte ein Rekordjahr für unsere Fabrik werden. Natürlich müssen wir abwarten, was die Zukunft bringt.
Wie sieht der weitere Countdown bis zum Produktionsstart aus?
Zunächst einmal wird unser Karosserierohbau vorbereitet. Es ist schon alles leergeräumt. Derzeit bauen wir dort mit unseren Lieferanten einen neuen, hochmodernen Rohbau auf. Bei der Lackierung wird die EQB-Produktion in die bestehenden Kapazitäten integriert. Parallel dazu bereiten wir unsere Montage auf die neue Linie vor. Schließlich muss auch unsere Logistik die notwendigen Vorbereitungen treffen. Wir müssen eine Reihe von neuen Lieferanten einbinden. Schließlich hat der EQB viele Teile, die unsere bisher hier produzierten Autos nicht haben. Außerdem müssen wir unsere Mitarbeiter entsprechend schulen, sie bekommen beispielsweise eine Elektro-Grundschulung.
Viel zusätzliche Arbeit, die Sie sich aufgeladen haben!
Klar hätten wir auch die Finger vom EQB lassen können. Bei aller Konzentration aufs Tagesgeschäft müssen wir aber auch immer die Zukunft des Werkes im Auge haben. Wir müssen das Werk strategisch absichern. Dazu zählt auch, dass wir eine Produktpalette haben, die flexibel auf die Kundenbedürfnisse reagieren kann. Neben Autos mit Verbrennungsmotor und Plug-in-Hybriden gehören auf jeden Fall E-Fahrzeuge dazu. E-Mobilität ist die Zukunft. Je eher ein Fahrzeugwerk dabei ist, umso besser.
Es ist von grundlegender Wichtigkeit, dass wir in Kecskemét in der Lage sind, Elektroautos zu produzieren. Ich bin mir sicher, dass wir das können. Und dann spielen wir ab Q4 in der Liga der E-Fahrzeughersteller mit. Das ist für das Werk die Zukunft.
Außerdem kommt beim Zukunftsthema E-Mobility natürlich auch der Ingenieur in mir durch. Da geht es meinen Kollegen ähnlich. Das ist einfach eine absolut faszinierende neue Technologie!
Natürlich schwingt bei uns auch Stolz mit. In Kecskemét werden bald die ersten in Ungarn in Serie produzierten vollelektrischen Fahrzeuge vom Band rollen. Was das für den Automobilstandort Ungarn bedeutet! Neben Batterien und E-Motoren werden im Land zukünftig auch komplette E-Fahrzeuge produziert.
Gibt es bezüglich des EQB eine Zusammenarbeit mit dem MercedesWerk in Peking?
Wir tauschen uns mit unseren Kollegen in Peking intensiv aus und versuchen, Synergien zu nutzen, doppelte Tätigkeiten zu vermeiden. Zu diesem Zweck gibt es auch einen Mitarbeiteraustausch.
Welche Rolle spielt die Corona-Krise inzwischen im Alltag Ihres Werkes?
Es war und ist eine riesige Herausforderung für uns alle. Wir mussten ja alles neu lernen. Inzwischen haben wir uns soweit an die neuen Gegebenheiten angepasst, dass wir uns wieder voll auf unsere eigentlichen Aufgaben konzentrieren können. Jeder, der die Zeitung liest, weiß aber, dass das Land noch mitten in der dritten Welle steckt. Auf diese Entwicklung mussten wir auch im Werk mit noch strengeren Schutzmaßnahmen reagieren.
Konnten Sie in Sachen Corona-Management von anderen Werken lernen?
Ja, beispielsweise von unseren Kollegen in China. Die waren ja die ersten, die von der Corona-Krise betroffen waren, und sind zugleich die ersten, die wieder angefangen haben zu produzieren. Der Restart-Katalog aus China war die Blaupause für den gesamten Konzern. Viele Dinge wurden inzwischen auf Konzernebene standardisiert. Bei der konkreten Umsetzung vor Ort muss natürlich die jeweilige nationale Gesetzgebung berücksichtigt werden.
Wie werden die Corona-Maßnahmen von den Kollegen mitgetragen?
Die Disziplin bei uns ist recht hoch. Ich habe noch niemanden schimpfen oder gegen unsere Maßnahmen protestieren gehört. Die Akzeptanz gegenüber den vom Management verfügten Schutzmaßnahmen ist hoch. Wir haben vom ersten Tag der Neueröffnung eine Maskentragepflicht im Werk.
Wie hat sich das Klima bei Ihnen verändert?
Die Leute haben im gesamten letzten Jahr mehr zu schätzen gelernt, bei Mercedes-Benz zu arbeiten. Alle haben Bekannte, die woanders ihren Job verloren haben oder derzeit um ihren Arbeitsplatz bangen müssen. Unsere Mitarbeiter konnten hingegen hautnah erleben, dass dem Management bei uns sowohl die Arbeitsplätze als auch die Gesundheit der Mitarbeiter wichtig sind. Bei uns stehen die Mitarbeiter tatsächlich im Mittelpunkt. Es kommt auf eine gesunde Mischung zwischen viel verlangen, aber auch etwas geben an. Und nicht nur in Form von Geld, sondern auch von Wertschätzung. Ich glaube, nur dann funktioniert ein Werk bestmöglich. Paradox, aber wahr: Wir haben im Werk momentan die beste Stimmung aller Zeiten. Unsere Mitarbeiter fühlen sich sicher und freuen sich auf den EQB. Das merkt man auch daran, dass wir fast keine Fluktuation mehr haben.
Was sind Ihre bisherigen Lehren aus der Krise?
Wir werden sicherlich nicht wieder so viele Reisekosten bei Mercedes haben. Vieles kann man auch so erledigen, wie wir es gerade machen. (Das Interview erfolgte via FaceTime.) Sicher nicht alles. Bei einigen Dingen ist der persönliche, direkte Kontakt nach wie vor unabdinglich.
Außerdem haben wir festgestellt, dass wir das Thema Homeoffice ruhig ausweiten und teilweise auch nach der Krise beibehalten können. Am Anfang war ich hier etwas skeptisch und kein großer Befürworter dessen. Aber es hat sich herausgestellt, dass es ganz ordentlich funktioniert.
Wie sieht es im weiteren Umfeld Ihrer Fabrik aus?
Wir haben unser soziales Engagement in Kecskemét verstärkt. So etwa in Form von Geld- und Sachspenden. Perfekt funktionierende Tablets, Laptops und Computer, die wir nicht mehr brauchen, haben wir der Stadt für das Home Schooling der Schulen zur Verfügung gestellt. Auch das hiesige Krankenhaus unterstützen wir, beispielsweise mit Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten und Testapparaturen.
Wir sind hier super aufgenommen worden. Ich persönlich fühle mich in Kecskemét vom ersten Tag an sehr wohl. Das Verhältnis der Kommune zum Werk ist absolut positiv und konstruktiv. Jetzt haben wir eine prima Möglichkeit, unserer „Heimatstadt“ zusätzlich etwas zurückzugeben.
Haben Sie staatliche Hilfen für Kurzarbeit in Anspruch genommen?
Nein, effizienter erschien es dem Management, mit unseren Gewerkschaften ein nachhaltiges Paket auszuhandeln.
Wie zufrieden sind Sie mit der Zusammenarbeit mit dem Staat?
Die ungarische Regierung war immer ein Befürworter eines möglichst reibungslosen Warenverkehrs. Diesbezüglich bekommen wir viel Unterstützung. Das gilt auch beim Thema Geschäftsreisen. Diese Dinge laufen inzwischen problemlos. Traditionell haben wir eine sehr gute Zusammenarbeit, die unter anderem auch beim EQB-Projekt eine Grundvoraussetzung war. Am meisten kann uns der Staat derzeit dadurch helfen, indem er alles daransetzt, die Pandemie möglichst schnell zu besiegen.