Interview mit Balázs Fürjes, Ungarns neuem IOC-Mitglied
Wir sind eine Sportnation!
Sie haben einem Olympiasieger den Platz im IOC weggenommen. Sie wechseln mit kaum mehr als fünfzig Jahren in den Ruhestand. Sie haben Budapest im Stich gelassen. All diese Vorwürfe waren zu hören, nachdem Sie bei der Generalversammlung in Mumbai Mitte Oktober als neues IOC-Mitglied gewählt wurden.
Die Meinungen sind frei, aber ich möchte die Vorwürfe doch gerne einzeln entkräften. Als der Präsident des NOK, Zsolt Gyulay, Ungarns bisheriges IOC-Mitglied Pál Schmitt und Sportbotschafter Dániel Gyurta an mich herantraten, ich solle kandidieren, war ich zunächst sprachlos und hatte dann die gleiche Frage: Warum nicht ein Olympiasieger? Die gibt es in Ungarn ja nun wirklich im Überfluss.
Was konnte Sie überzeugen, dennoch zu kandidieren?
Dass zwei Drittel der IOC-Mitglieder überhaupt keine Sportvergangenheit haben und nur jedes fünfte Mitglied Olympiasieger ist. Zumal hier kein Sportwettkampf gewonnen werden muss. Pál Schmitt, der Ungarn seit 1983 im IOC vertrat, war der erste Olympiasieger, den das Land delegierte. So ließ ich mich überreden, dass man nicht wie ein Profi rudern, schwimmen oder fechten muss, um die ungarischen Interessen in der Sportdiplomatie angemessen zu vertreten. Meine Erfahrungen liegen neben der Stadtplanung und -entwicklung im Bau großer Sportanlagen und der Organisation von Weltwettkämpfen, meine Stärken darin, Sport, Diplomatie und Politik in Geschäftsfragen zusammenzubringen. Hinzu kommen gute Englischkenntnisse, ein Juraabschluss und eine gesunde Kooperationsgabe.
Schließlich lautete ein Argument, ein dem IOC bekannter und dort anerkannter Fachmann brauche nicht lange „vorgestellt“ zu werden. Es sollte ja nicht sein, dass Ungarn über Jahre ohne Mitglied in dem Gremium bleibt. (Schmitt schied 2022 mit dem 80. Geburtstag automatisch aus dem IOC aus/ Anm. d. Red.) Auch wenn mich überraschte, dass man mich auserkoren hatte, überwog doch der Stolz dieser großartigen Anerkennung, weshalb ich nicht wirklich nach Ausflüchten suchen wollte.
Das mag ja richtig sein, aber Ungarn hat gewissermaßen seit den Anfängen eine Art „Stammsitz“ im IOC…
Die Mitgliedschaft im IOC steht keiner einzigen Nation automatisch zu. Niemand delegiert Mitglieder und niemand schreibt den Mitgliedern vor, wen sie in ihre Reihen aufzunehmen hätten. Zur internationalen Olympischen Bewegung gehören 206 NOK, also mehr, als die UNO Mitgliedstaaten hat (193). Zwei Drittel der Mitglieder, genau 140 Länder, haben keinen Vertreter im IOC. Selbst in Europa ist nur die Hälfte der Länder vertreten. Mehr als einhundert Länder können heute von sich sagen, sie hatten noch nie ein eigenes IOC-Mitglied, also wäre es höchste Zeit für eine Kandidatur. Dass es den Ungarn gelang, in wenigen Monaten ein neues Mitglied erfolgreich für das IOC kandidieren zu lassen, ist ein unglaublicher Erfolg des ganzen Teams. Das mir ausgesprochene Vertrauen ist nicht mein Verdienst, es gilt der ungarischen Olympischen Bewegung.
Hatte IOC-Präsident Thomas Bach seine Hand im Spiel?
Das IOC stellt für alle Olympischen Spiele einen Koordinierungsausschuss auf, der eng mit dem örtlichen Organisationskomitee zusammenarbeitet, um den Erfolg der Spiele zu gewährleisten. Herr Bach bat mich noch im vergangenen Jahr, in dem Ausschuss für die Sommerspiele 2032 in Brisbane mitzuwirken. Er deutete dabei an, gerne auf meinen über Jahre angesammelten Wissensschatz zuzugreifen, der nützlich für das IOC sein könnte. Auch wenn er es nicht aussprach, deutete der IOC-Präsident doch an, dass er mich gerne an seiner Seite sehen würde, sofern die ungarische Olympische Bewegung der gleichen Ansicht wäre.
Werden Sie im IOC ein Ansehen ähnlich dem eines Pál Schmitt erwerben können?
Das ist ausgeschlossen! Pál Schmitt war vier Jahrzehnte lang Mitglied, er hat alles IOC-Wissen in sich aufgesogen, kennt alles und jeden und genießt unter den Mitgliedern größten Respekt. Ich werde mich bemühen, mit ausdauernder und effizienter Arbeit von Nutzen zu sein. Im Augenblick meiner Wahl übermannten mich Gefühle der Dankbarkeit und der Demut, der Freude und Verantwortung. In solchen Momenten ist es besonders wichtig zu realisieren, dass dieser Erfolg nicht von der Person selbst handelt, nicht ihr Verdienst ist. Wir können im besten Fall teilhaben an großen Dingen, um das Schicksal der Olympischen Bewegung zu prägen und ihre Geschichte weiterzuschreiben. Es gab Generationen vor uns, und es werden Generationen nach uns kommen – unsere Aufgabe ist es, hier und heute das Beste aus uns herauszuholen.
Wird es also nach der Schmitt-Ära keine Fürjes-Ära geben?
Nein, und das soll es auch gar nicht! Es soll eine Ungarn-Ära anbrechen, Ungarn soll innerhalb der internationalen Olympischen Bewegung erstarken. Dafür werde ich mich als ein Mitglied des großen Teams engagieren.
Es gibt Leute, die meinen, Sie hätten sich in eine gut bezahlte Pension geflüchtet.
Genau, ich bin ja bekannt dafür wegzulaufen… Und was die „gut bezahlte Pension“ anbelangt: Mitglieder des IOC erhalten keinen Cent für ihre Arbeit. Sie verrichten ihre Tätigkeit im Dienst der Gemeinschaft. Ich habe Zeit meines Lebens von den Früchten der eigenen Arbeit gelebt. Nun übernehme ich zusätzliche Aufgaben ohne zusätzliches Geld.
Seitdem Sie als Staatssekretär zurückgetreten sind, besitzen Sie doch gar kein geregeltes Einkommen mehr.
Als mich Ende März das Ungarische Olympische Komitee nominierte, als IOC-Mitglied zu kandidieren, trat ich von meinen Ämtern als Staatssekretär und Regierungsbeauftragter für strategische Großprojekte in der Hauptstadt zurück. Ich habe das damals ausführlich für die Öffentlichkeit begründet, wiederhole es hier aber gerne noch einmal in Kurzfassung. Ich werde mich neuen Herausforderungen in der Welt der Sportdiplomatie und im Privatsektor stellen. Letzteres braucht niemanden zu verwundern, denn ich habe die Hälfte meiner Karriere in der Wettbewerbssphäre verbracht, als Firmenchef sowie in einer internationalen Anwaltskanzlei. Die Tätigkeit als Regierungsbeauftragter und Staatssekretär ist schön und edel, aber dermaßen gebunden, dass sich diese nicht mit den Aufgaben in der Sportdiplomatie vereinbaren lässt. Anders sieht dies im privaten Sektor aus, wo ich vor allem beim Entwerfen größerer Projekte im Bereich der Immobilienentwicklung wirken möchte.
BALÁZS FÜRJES wurde 1971 in Budapest geboren, er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Bereits 1988 schloss er sich dem Fidesz an, wo er 1990-92 Führungspositionen innehatte, ebenso wie 1996-2001 in der von ihm mitbegründeten Jugendorganisation Fidelitas. Der studierte Jurist arbeitete 15 Jahre im privaten Sektor und war 15 Jahre als Regierungsbeauftragter für die Stadtentwicklung von Budapest und als Staatssekretär tätig.
Unter seiner Federführung wurden die László Papp-Sportarena Budapest (zur Zeit der ersten Orbán-Regierung), die Groupama-Arena, die Duna-Arena, die Puskás-Arena, der MVM Dome, das Zentralstadion der Leichtathletik-WM sowie die Campus-Projekte MOME und Ludovika in Budapest realisiert. Im Auftrag der Hauptstadt und des Nationalen Olympischen Komitees (MOK) betreute Fürjes zwischen 2015 und 2017 die Bewerbung der ungarischen Hauptstadt für die Olympischen Spiele 2024.
Damit aber lassen Sie Budapest im Stich und kneifen vor der Aufgabe, Gergely Karácsony bei den 2024 anstehenden Kommunalwahlen als OB-Kandidat herauszufordern.
Alles hat seine Zeit, das Festhalten ebenso wie das Loslassen. Was keineswegs endgültig sein muss. Ich habe Budapest, dieser Stadt, nicht weniger als mein Leben zu verdanken – nie werde ich diese Schuld gegenüber der Hauptstadt der Nation abtragen können, um für mein Schicksal zu danken.
Budapest Ihr Leben zu verdanken, ist das nicht ein wenig übertrieben?
Die Kettenbrücke wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch englische Ingenieure erbaut. Einer der Ingenieure brachte seine Nichten mit, um ihnen etwas von der Welt zu zeigen. Als Baptisten schlossen sie sich der Reformierten Gemeinde in Pest an. Dort predigte ein talentierter junger Mann, ein gewisser Pál Török, der später bis zum Bischof aufstieg. Er verliebte sich in die junge englische Dame, Rachel Allnutt, und hielt bald um ihre Hand an. Rachel willigte ein und so wurden sie die Urgroßeltern des Großvaters mütterlicherseits meiner lieben Eltern. Ohne die Reformzeit in Budapest, die Bauwerke wie die Kettenbrücke mit sich brachte, wären die Engländer nicht nach Pest gekommen. Dann hätte Pál Török auch nicht der jungen englischen Dame seine Aufwartung machen können. Ohne diese Heirat und alles, was daraus folgte, wäre auch ich heute nicht auf dieser Welt. Ich bin also tief in der Schuld der Stadt Budapest.
Umso mehr überrascht es, dass Sie der Stadtentwicklung den Rücken kehren und sich auch nicht dem amtierenden Oberbürgermeister stellen, um über die Geschicke von Budapest als Stadtoberhaupt mitzubestimmen.
Die Aufgabenverteilung innerhalb einer Regierung ist kein Wunschkonzert. Ich habe mit dem vormaligen Oberbürgermeister István Tarlós und dem Verkehrsexperten Dávid Vitézy liebend gern meinen Beitrag eingebracht, um zur Blüte der Stadt Budapest beizutragen, wo und wann immer ich das konnte. Heute sind diese Möglichkeiten durch Krieg, Inflation und Energiekrise stark eingeengt. Es gibt einfach keinen Spielraum für umfassende Entwicklungsprojekte in Budapest. Das Geld wird anderswo benötigt. Aber es brechen auch wieder bessere Zeiten an.
Und was das Amt des Oberbürgermeisters betrifft, habe ich mich nie für den am besten geeigneten Kandidaten gehalten.
Warum das denn? Weil Sie verlieren würden? Haben Sie Angst vor Niederlagen?
Nach jetzigem Stand würde ich wohl verlieren, aber ich habe alles andere als Angst. Ich schloss mich im Jahre 1988 noch im Jahr seiner Gründung dem Fidesz an, damals war ich 16 Jahre alt und Gymnasiast. Später gründete ich mit Andris Gyürk die Jugendorganisation Fidelitas und erhielt seit 1998 in jeder einzelnen Orbán-Regierung Aufgaben. Ich halte mich für eine offene Person, die als Nationalliberaler den Dialog sucht. Ich denke jedoch, dass in Budapest ein Kandidat bessere Chancen hätte, der Erfahrungen in der Stadtführung mitbringt und weniger tief im Fidesz verwurzelt ist. Natürlich kann sich der politische Wind jederzeit drehen, aber ich habe mich jetzt dauerhaft anderen Aufgaben verpflichtet.
Pál Schmitt kandidierte 2002 für das Amt des Budapester Oberbürgermeisters, als er bekanntlich Mitglied des IOC war.
Das geschah nach zwei Jahrzehnten im IOC, also nicht am Anfang, als er diese Aufgabe erst noch erlernen musste. Ich vertrete grundsätzlich den Standpunkt: Ein Mann für eine Aufgabe.
Mit anderen Worten: Sie kehren der Hauptstadt nun doch den Rücken zu.
Budapest ist zweifellos der Motor des Landes, ohne ein erfolgreiches Budapest wird es kein erfolgreiches Ungarn geben. Aber es gibt auch andere Thesen, die zutreffend sind. So ist Budapest ein echtes nationales Symbol. Es waren die nationalen Triebkräfte, die diese Stadt als politisches Programm im Reformzeitalter aus der Taufe hoben, als Teil der zu verwirklichenden Ideale von nationaler Freiheit und Souveränität. Daraus entstand vor einhundertfünfzig Jahren auch formell eine vereinte Hauptstadt. (Siehe dazu auch unseren Artikel auf den Seiten 20 bis 24 dieses Magazins. / Anm. d. Red.) Budapest hat immer dann die größten Fortschritte erlebt, wenn dahinter eine nationale Attitüde stand, eine politische Motivation, die eine ganze Nation in Bewegung bringen konnte. Denn nur so konnte diese Stadt genügend Aufmerksamkeit erlangen, um die Ressourcen für ihre Entwicklung vom Lande abzuzweigen.
Und das gilt auch heute noch?
Das gilt immer! Ohne eine nationale Story im Hintergrund, ohne ein nationales Projekt von Durchschlagskraft, das als Rechtfertigung und Motivation für die Entwicklung von Budapest herhalten kann, geschehen hier keine großen Dinge. Und da verbreite ich keine Theorien, das sind die Erfahrungen aus einhundertfünfzig Jahren Stadtgeschichte. Heute sehe ich diese Antriebskräfte nicht, sehe ich keine Unternehmung in nationaler Übereinkunft.
Welche Beispiele aus der Geschichte würden Sie denn bemühen?
Angefangen von der Gründung der Hauptstadt 1873 über ihre Entwicklung während der Zeit des Dualismus als Zwillingsschwester von Wien, die zu einer Weltstadt von gleichem Rang wachsen sollte, bis zu den würdigen Tausendjahrfeierlichkeiten der Landnahme. Aber auch der Geist der kulturellen Überlegenheit nach Schmach und Trauma von Trianon, der notgedrungene Wiederaufbau der in einer endlos zermürbenden Belagerung zerstörten Stadt nach 1945, und schließlich ebenso das Groß-Budapest als zentrales Projekt der kommunistischen Staatsmacht. Die Erfahrungen belegen eindeutig, dass Budapest an sich kein ausreichend starkes Argument hergibt, um als die ohnehin modernste Region dem ländlichen Raum immer noch mehr Ressourcen wegzunehmen.
„Ohne eine nationale Story im Hintergrund, ohne ein nationales Projekt von Durchschlagskraft, das als Rechtfertigung und Motivation für die Entwicklung von Budapest herhalten kann, geschehen hier keine großen Dinge.“
Warum lassen wir die Hauptstadt sich nicht einfach in Eigenregie weiterentwickeln?
Weil Budapest im Verlauf dieser einhundertfünfzig Jahre nie ausreichend Geld zur Verfügung hatte, um aus eigener Kraft zu verwirklichen, was die Bewohner der Stadt und die Nation für die Ansprüche ihrer Hauptstadt benötigen. Das Geld reichte wirklich nie dafür aus. Wer sich heute ein Bild davon macht, wie Budapest als Stadt angelegt ist, wer seine Verkehrsadern, Brücken, bedeutenden öffentlichen Gebäude und Plätze betrachtet, kommt nicht umhin einzusehen, dass der tonangebende Bauherr dieser Stadt die jeweilige Landesregierung war. Das ist nicht erst heute so. Zu Lasten der weniger entwickelten Regionen des Landes wird die jeweilige Regierung aber nur dann bedeutende Entwicklungsgelder in die Hauptstadt lenken, wenn das betreffende Projekt einem ganzen Land legitim und wünschenswert, also akzeptabel erscheint. Wenn es ein nationales Apropos gibt, eine Geschichte, die über die Entwicklung der Hauptstadt eine ganze Nation in Wallung bringen kann. Heute sehe ich nichts dergleichen. Initiativen der letzten dreißig Jahre, die das Zeug dazu hatten, wurden leider von der politischen Linken torpediert.
Damit schließt sich der Kreis, denn nicht wenige meinen, Ihre IOC-Mitgliedschaft handelt nicht von Ihrer Vergangenheit, sondern von der Zukunft: Sie sollen die Olympischen Spiele nach Budapest holen! Stimmt das?
Das wäre eine wahrhaft edle Mission, aber ich fürchte, es wird eher eine „Mission impossible“. In der Tat hätte es in den letzten drei Jahrzehnten zwei große Angelegenheiten gegeben, die einer ganzen Nation Auftrieb und damit Budapest eine sprunghafte Entwicklung versprachen: Die Weltausstellung und eine Budapester Bewerbung für die Olympischen Spiele. Es ist ein Fakt und keine Wertung, dass die Linken beide Großprojekte verhinderten. Aber vielleicht finden wir ja einst gemeinsam eine neue großartige Geschichte.
Nach zwei Jahren Krieg in der Nachbarschaft, inmitten von Rezession und Inflation wären wir mit Olympischen Spielen 2024 doch eher in Not geraten, meinen Sie nicht?
Das ist richtig, aber wir hätten die Spiele 2024 ja auch gar nicht gewonnen. Ganz sicher aber hätten wir die Olympischen Spiele 2032 ausrichten dürfen, und heute könnten wir uns darauf so gründlich und langfristig vorbereiten, wie es niemand anderem gegeben ist. Mit einer systematischen Verteilung der Bauprojekte, ohne große Schocks. Da würde sich nicht die Frage stellen, ob wir die eine oder andere neue Donaubrücke in der Hauptstadt bauen können, ob die Erneuerung des S-Bahnnetzes, der komplette Austausch der Fahrzeugflotte im Nahverkehr und vieles andere mehr bis dahin zum Abschluss gebracht werden kann. All diese Vorhaben könnten wir ohne jede Hektik, in einem soliden Rhythmus bis 2030 bewältigen. Und damit enorme Fortschritte bei der Lebensqualität der Budapester und der Menschen in der Agglomeration erzielen. Mit der Absage der genannten Großprojekte haben am meisten Budapest und die zentrale Region des Landes verloren.
Wären wir 2017 angetreten, hätte das IOC nicht zwei, sondern gleich drei Ausrichtungen Olympischer Spiele vergeben, und Budapest hätte die Spiele 2032 erhalten. Die NOlympia-Bewegung der Opposition beraubte Ungarn der sicheren Gelegenheit, endlich einmal Gastgeber der Olympischen Spiele zu sein.
Woher nehmen Sie diese Gewissheit?
Budapest lag gut im Rennen, alle Bewerbungsdossiers waren eingereicht und mit ausgezeichneten Bewertungen versehen. Niemand verkörperte die IOC-Reform „Agenda 2020“ eindrucksvoller als wir. Eine Reform, die darauf abzielte, die Abwicklung der Olympischen Spiele zu vereinfachen, das Budget zu straffen, um auch kleineren Ausrichtern eine Chance zu bieten. Mitteleuropa und Budapest hätten sich als idealer Schauplatz anbieten können, dort, wo noch nie zuvor Olympische Spiele stattgefunden hatten.
Gibt es noch Chancen in der Zukunft?
Das bezweifle ich stark, darauf sollte niemand sein Vermögen verwetten! Dieser Zug ist abgefahren und wird vielleicht nie mehr zurückkehren.
Erst recht, da sich aktuell Indien für den nächsten offenen Zeitpunkt, 2036, bewirbt.
Der Wettbewerb zwischen den Ländern um die Ausrichtung der Olympischen Spiele nimmt ständig zu. Indien und ein Land in Afrika werden historische Olympische Spiele im 21. Jahrhundert erleben. Istanbul, Katar und Seoul gelten als Favoriten, und auch Lateinamerika wird seine Ansprüche anmelden. Europa, das durch dumme Debatten belastet und hinuntergezogen wird, verliert auch im Sport an Gewicht. So nahe wie 2017 waren wir dem hundertjährigen ungarischen Traum von der Ausrichtung der Olympischen Spiele noch nie. Und werden es wohl auch nie mehr sein.
Aber diese Frage besitzt im Moment auch gar keine Aktualität. Das IOC bereitet sich auf Paris vor, ein Jahr später kommt es zur Wahl des Präsidenten, 2026 folgen die Olympischen Winterspiele in Italien. Zwischen 2027 und 2029 wird sich das IOC der Frage zuwenden, wer die Sommerspiele 2036 ausrichten darf.
Der wichtigste Gedanke sollte aber lauten, die Dinge jenen zu überlassen, die dafür zuständig sind! Um die Austragung der Olympischen Spiele bewirbt sich grundsätzlich eine Stadt gemeinsam mit dem Nationalen Olympischen Komitee. Sollten endlich einmal das MOK und der frei gewählte Oberbürgermeister von Budapest sowie dessen Bürgerschaft Einigkeit erlangen und auch eine Mehrheit der Ungarn den Gedanken sympathisch finden, dann könnte das Land seine Entscheidung treffen. Es ist aber gut denkbar, dass diese Frage nicht mehr meiner Generation gestellt wird.
Sie klingen nicht sehr optimistisch…
Ich bin Realist. Olympia ist kein Kinderspiel. Es reicht nicht, zur Ausrichtung der Spiele in der Lage zu sein. Es braucht Zustimmung, eine Einheit und echte Unterstützung von Seiten der Gesellschaft. Einen wahren Schulterschluss. Das IOC verfolgt eine einfache Philosophie: Wir gehen dorthin, wo man die Spiele gerne sehen möchte und wo für Sicherheit in jeder Hinsicht gesorgt ist. Jeder Aspirant muss sich im Klaren darüber sein, dass dies eine große Unternehmung ist. Man muss es wirklich wollen, um den harten, beschwerlichen Weg der Organisation erfolgreich beschreiten zu können.
Sie werden in Ihrem neuen Aufgabenfeld Herausforderungen zur Genüge haben. Welche würden Sie hervorheben wollen?
Die richtige Balance zu finden. Thomas Bach hat die Olympische Familie grundsätzlich gewarnt: „Change or be changed!“ Sei bereit und imstande, dich zu verändern, deine Denkweise aufzufrischen. Andernfalls werden die Welt und die externen Umstände dich selbst gegen deinen Willen verändern. Auch wir als ungarische Sportführung müssen ein gesundes Gleichgewicht zwischen Tradition und Erneuerung, zwischen Bewahren und Verändern finden. Wir müssen hart daran arbeiten, damit die traditionellen ungarischen Erfolgssportarten ihre Effizienz und ihr Gewicht in der olympischen Bewegung beibehalten. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die weltweit nach oben strebenden Sportarten, die heute noch in Kinderschuhen stecken, auch hierzulande erstarken können. Ich denke da an Badminton, Squash, Sportklettern, Rugby, BMX etc.
Gestatten Sie mir als letzte Frage: In Mumbai wählte das IOC acht neue Mitglieder, aber als Einziger fügten Sie Ihrem Eid auf Englisch hinzu: „So wahr mir Gott helfe!“ Warum empfanden Sie dies als wichtig?
Wie ich schon sagte, ist diese Mitgliedschaft eine große Ehre für mich, aber nicht mein Verdienst. Diese Ehre wurde mir nicht zuteil, weil ich bin, wer ich bin, sondern genau umgekehrt. Wenn das nicht die Gnade Gottes ist, was dann? Dieser Meilenstein in meinem Leben war gut, um innezuhalten und zu erkennen: Große Dinge kann ich nicht alleine vollbringen, häufig nicht einmal die kleinen. Aus eigener Kraft wäre ich zu nichts imstande. Das Geschenk des Glaubens erleichtert mir zu verstehen, was der Apostel Paulus sagt: „Ist nicht alles, was Du hast, ein Geschenk Gottes? Wenn es dir aber geschenkt wurde, warum prahlst du dann damit, als hättest du es dir selbst zu verdanken?“ Ich bin ein unvollkommener Mann, voller Selbstzweifel, der strauchelt und Schwäche zeigt. Gerade weil ich weiß, dass Ehre allein Gott gebührt. Warum also sollte ich nicht um seine Hilfe bitten, mein Gelübde einzuhalten?! Ich konnte gar nicht anders…
Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.
Das hier nahezu ungekürzt wiedergegebene Interview erschien ursprünglich Ende Oktober im konservativen Wochenmagazin Mandiner.