Interview mit Tamás Freund, dem neuen Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
Unsere Mission bleibt unverändert
Wann reifte in Ihnen der Entschluss, sich um den Vorsitz der Akademie zu bewerben?
Ich muss ehrlich zugeben, dass ich meinte, einmal vom Institut für Experimentelle Medizin (KOKI) der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) in Ruhestand zu gehen. Es ist mir über die Jahrzehnte ans Herz gewachsen; mein Team aus teils eigenen Schülern erzielt laufend internationale Erfolge. Seit 2014 war ich aber auch Vizepräsident der Akademie, und in jüngster Zeit traten viele Kollegen wegen der anstehenden Neuwahl des Präsidenten an mich heran.
Einst rief Sie der damalige KOKI-Direktor und spätere Akademiepräsident Szilveszter E. Vizi aus Oxford zurück, seit 2002 leiten Sie nun dieses Institut von Weltniveau. Von welcher Motivation ließen Sie sich auf Ihrer Laufbahn antreiben?
Ich denke, das Schlüsselmoment sind für alle die Schulen, durch die sie gehen. Ich hatte das außerordentliche Glück, ein Schüler von János Szentágothai zu sein, wahrscheinlich einer seiner letzten. Er war eine fantastische, charismatische Persönlichkeit, die konzeptionelles Wissen und weite Horizonte vermittelte. Das Handwerk der praxisbezogenen Forschungsarbeit erlernte ich wiederum bei Péter Somogyi, der mir aus erster Hand seine eigenen Techniken vermittelte, für die ihn Forscher von Amerika bis Australien aufsuchten. Ihm habe ich auch meinen ersten Studienaufenthalt in Oxford zu verdanken. Dort konnte ich meine Forschungen zum Nervengewebe der Hirnrinde vertiefen, das eine grundsätzliche Rolle für das Lernen und das Gedächtnis spielt. Eine solche Studienreise kann Motivation für ein ganzes Leben spenden.
Als Sie das KOKI leiteten, lockten auch Sie viele junge, talentierte Forscher aus dem Ausland in die Heimat zurück und formten ein großartiges Team. Was ist das Geheimnis, das Ihr Institut und die kompletten ungarischen Neurowissenschaften in die Weltspitze hob?
Ein Verdienst von Szilveszter E. Vizi ist, dass er das fachliche Profil bereinigte. Mir gelang es, bei der Regierung Mittel für ein Nationales Programm der Hirnforschung zu gewinnen. Mit der Finanzierung immer neuer Laboratorien konnten wir Forscher nach Ungarn zurückholen, die im Ausland längst Rang und Namen hatten. Um diese ausgezeichneten Fachleute zu halten, benötigen wir ein wissenschaftsfreundliches Umfeld. Durch die Entwicklungen der letzten ein, zwei Jahre sehe ich aber genau das gefährdet.
In dem Konflikt zwischen Regierung und Akademie haben Sie sich mit einem Brief an den Ministerpräsidenten positioniert.
Ich bat den Ministerpräsidenten wegen der geplanten Umstrukturierung des Forschungsnetzwerks der MTA im Sommer 2018 um ein Treffen. Das sah ich als notwendig an, nachdem ich Innovationsminister László Palkovics nicht davon überzeugen konnte, die wirklich notwendigen Veränderungen im Rahmen der Akademiestrukturen vorzunehmen. Persönlich argumentierte ich gegenüber Viktor Orbán, wie wichtig die Grundlagenforschung sei und dass sich die MTA durchaus als Aufsichtsorgan der Forschungsinstitute eignen würde. Der Ministerpräsident sagte mir, er könne meinem Standpunkt zwar folgen, vertraue jedoch auf die Strategie seines Ministers. So ging die Herauslösung des Forschungsnetzwerks unaufhaltsam weiter, was ich als großen Fehler betrachte. Weil mich Orbán jedoch nicht noch einmal empfing, formulierte ich jenen Brief.
Darin stimmen Sie zu, dass die Betreibung der Forschungsinstitute reformiert werden müsse. Welche Probleme sehen Sie und was hätten Sie anders gemacht?
Die Regierung hatte darin Recht, dass die Akademie das Netzwerk nicht in jedem Fall ordentlich verwaltete. So wurden die Gelder nicht unbedingt leistungsgerecht verteilt. An Stelle des nun installierten, externen Gremiums Forschungsnetzwerk „Loránd Eötvös“ (ELKH) hätten die neuen Leitungsstrukturen aber auch akademieintern ausgestaltet werden können. Ich sprach mich für eine Hybridlösung aus, bei der es dem Präsidenten der MTA vorbehalten geblieben wäre, mindestens die Hälfte der Positionen im ELKH zu besetzen, ohne jedoch in dessen Budget reinzureden. Wir hätten die gleichen Reformen durchsetzen können, nur weitaus friedlicher, ohne politisches Erdbeben. Ohne den endlosen Streit, wem was gehört, wer was zu bezahlen hat.
Die Regierung sieht Ungarn bei Forschung und Entwicklung im Rückstand und will deshalb Institutionen und Finanzierung stärken. Mehr Geld für mehr Forschungen, lautet die Devise, und dass die staatlichen Gelder der Gesellschaft zum Nutzen gereichen sollen. All das sei heute nicht der Fall.
Hier irrt die Regierung. Unsere Kollegen aus dem Ausland wundern sich immer wieder, wie wir mit so wenig Geld derartige Ergebnisse erzielen können. Auf zahlreichen Gebieten der Wissenschaften gehören wir zur Weltspitze, da gibt es keine Probleme mit der fehlenden Effizienz. Was in der Kette fehlt, ist die Verknüpfung des Forschungsnetzwerks mit der Sphäre der Industrie- und angewandten Forschung. Der Fehler im Konzept des Innovationsministeriums besteht darin, dass man in der Grundlagenforschung nicht mit Ausschreibungen operieren kann, bei denen sich die Forscher um die benötigten Gelder bewerben sollen.
Sie haben aber auch markante Kritik an jenen schwächeren Forschern geübt, die „im Ausland niemand braucht“.
Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die Reformen eine Situation herbeiführten, in der gerade die besten Forscher das Weite suchen. Ein Klima der Unsicherheit vertragen diese überall in der Welt gefragten Kapazitäten nicht. Wer wiederum im internationalen Wettbewerb nicht mithalten kann, der bleibt und versteckt sich allenfalls hinter Regierungskritiken. Gerade auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften bringt man es auf diese Weise noch in die Spalten internationaler Fachpublikationen.
Es hat mich über Maßen enttäuscht, dass wir keine Gemeinsame Erklärung zum Schutz der Akademie verabschieden konnten. Noch nie war die MTA politisch so polarisiert wie heute. Dazu hat leider die Regierung beigetragen, deren Medien ein Kreuzfeuer entfachten, mit dem sie Stimmungen gegen die Akademie schürten. Diese aufgeheizte Stimmung in der Gesellschaft muss ein Ende finden, damit wir uns wieder auf die fachlichen Debatten konzentrieren können. Niemand ist nur darum ein schlechterer Wissenschaftler, weil er die Welt anders betrachtet. Vielfalt ist der Motor der Entwicklung und Unterpfand für die Widerstandsfähigkeit.
ELKH-Präsident Miklós Maróth hat die MTA aufgefordert, ihre Aufgaben und Strategie zu durchdenken, um sich neu zu positionieren.
Die Mission der Akademie und der Wissenschaften ändert sich auch im Zeitenlauf nicht, denn es ist immer der Dienst am Menschen, für Wohlfahrt und Fortbestand der Menschheit, das Kennenlernen der uns umgebenden Welt. Darüber hinaus muss die Ungarische Akademie der Wissenschaften insbesondere den Interessen der ungarischen Nation dienen – dazu wurde sie von István Széchenyi gegründet und darum unterhält sie der Staat aus Steuergeldern. Dieses nationale Interesse ist jene höhere Ebene, von der wir uns nicht entfernen dürfen.
Welche Veränderungen schweben Ihnen als MTA-Präsident vor?
Die Akademie verfügt über eine riesige Wissensbasis, von der wir weniger reden: Neben den 365 Mitgliedern der MTA umfasst dies alle 18.000 Träger von PhD-Titeln. Dank all dieser Wissenschaftler, Forscher und Dozenten besitzen wir ein geistiges Kapital, das der Gesellschaft für die Zukunft der Nation offeriert werden muss. Ohne Forschungsnetzwerk würde ich bei der Erneuerung der Akademie hier ansetzen. Brennend ist die Frage des Forschungsnachwuchses, wofür die MTA bestimmte Mittelschulen an sich binden und Alumni-Klubs gründen sollte. Entschieden auftreten müssen wir gegen die Scheinwissenschaften, denn gerade in den Sozialmedien ist es zunehmend schwieriger, objektive Informationen von subjektiven Meinungsäußerungen und Falschnachrichten zu unterscheiden.
Sie spielen seit Ihrer Kindheit Klarinette und singen im klassischen Chor „Ars Nova Sacra“. Werden Sie die Künste stärker in das Akademieleben einbinden?
Eine Grundvoraussetzung für das Bearbeiten der Wissenschaftsfelder ist die Fähigkeit zum kreativen Denken. Meine Forschungen haben belegt, dass dafür unsere durch die Künste inspirierte und bereicherte Gedankenwelt, unsere Gefühle und Motivationen sowie das viele tausend Jahre alte kulturelle Erbe der Menschheit unabdinglich sind. So verhilft auch die Musik zu einer Katharsis, während sie den Lernprozess anregt.
TAMÁS FREUND wurde 1959 in Zirc geboren. Er ist Neurobiologe, Universitätsdozent sowie ordentliches Mitglied der MTA, und er hat einen internationalen Ruf als Erforscher der Funktionsweise der Hirnrinde erlangt. Mit einem Diplom der ELTE in der Tasche ging er für vier Jahre zu Forschungszwecken nach Oxford. Zurück in Ungarn gelangte er an das Akademieinstitut KOKI, dessen Direktor er seit 2002 ist. Freund ist Gastprofessor zahlreicher europäischer Universitäten und Mitglied mehrerer Akademien. Seit 2014 war er Vizepräsident der MTA, zu deren Präsidenten er am 7. Juli gewählt wurde. Freund ist Träger des Komturkreuzes des Ungarischen Verdienstordens und wurde mit dem Széchenyi-Preis, der höchsten staatlichen Auszeichnung für Wissenschaftler in Ungarn, geehrt. Neben vielen weiteren Anerkennungen ist er Ehrenbürger von Budapest.
Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.
Das hier gekürzt wiedergegebene Interview von Krisztina Őry erschien ursprünglich Anfang Juli im konservativen Wochenblatt Mandiner.