Interview mit Fidesz-Vizechefin Katalin Novák
„Ungarn will niemanden erpressen, es vertritt seine Interessen“
Frau Novák, Ungarns Parlament hat am Dienstag über Rechtsstaatlichkeit abgestimmt – genauer gesagt darüber, dass die Regierung jegliche Bindung des europäischen Wiederaufbau-Fonds zur Bewältigung der Covid-19-Krise an rechtsstaatliche Kriterien ablehnen soll. Was ist Ihr Problem mit der Rechtsstaatlichkeit?
Keins. Ungarn ist und bleibt ein Rechtsstaat. Der Beschluss steckt den Spielraum der Regierung bei den Verhandlungen über das Hilfspaket ab. Es geht ja um etwas ganz Neues in der Geschichte der EU – dieser „Next Generation Fund“ ist ein Kredit, den die EU aufnehmen soll und den die Mitgliedsländer garantieren müssen. Das Parlament hat dafür Grundbedingungen abgesteckt: Es muss gerecht zugehen, ärmere Länder sollten nicht proportional weniger bekommen als reichere Länder, und es darf keine Politisierung bei der Vergabe der Mittel geben. Dazu gehört auch, dass man nicht über den leicht politisierbaren Begriff der Rechtsstaatlichkeit die Mitgliedsländer unter Druck setzt. Deswegen muss auch das Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn eingestellt werden, auch das steht im Beschluss des ungarischen Parlaments. Zur bisherigen, beträchtlichen Verzögerung des Artikel 7-Verfahrens kam es übrigens nicht wegen uns.
Sie werden dem Hilfspaket also nur zustimmen, wenn das Artikel 7-Verfahren eingestellt wird?
So steht es im Beschluss. Der „Next Generation Fund“ ist kein ungarischer Vorschlag. Wir sind bislang relativ gut durch die Krise gekommen. Und es ist ein Schritt, mit dem sich die Union erstmals gemeinsam verschuldet. Obwohl wir das eher vermeiden möchten, verschließen wir uns dem nicht. Wir verstehen, dass manche EU-Länder in einer schweren Krise stecken, und wenn das eine Lösung ist, dann sind wir dazu bereit. Wir können aber nicht akzeptieren, dass es dabei unverhältnismäßig oder ungerecht zugeht. Oder dass man im Nachhinein dann, unter dem Vorwand diffuser Rechtsstaatlichkeits-Vorwürfe, Ungarn bei der Verteilung und Verwendung dieser Gelder einzuschränken versucht. Wenn wir uns schon gemeinsam verschulden, dann nur als gleichwertige, ebenbürtige Partner.
Damit drohen Sie den notleidenden Mitgliedsländern mit einer Verzögerung der Entscheidung, und somit auch der Gelder, wenn Ihre Bedingungen nicht erfüllt werden. Erpressung?
Nein, das ist Interessenvertretung. Die Verhandlungen im Europäischen Rat am Freitag und Samstag werden sicher hart sein. Es geht um viel Geld, und um viele Sorgen. Auch um die Sorge mancher Länder, dass sie am Ende die Schulden anderer Mitglieder bezahlen müssen, wenn diese sich dazu unfähig erklären. Aber wir wollen zu einer rechtzeitigen Einigung kommen, das ist der klare Standpunkt der Regierung.
Deutschland hat die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft inne, und im deutschen Programm steht die Forderung, die Sie ablehnen: Die Kopplung der Mittel an rechtsstaatliche Kriterien. Sie waren kürzlich in Berlin – war dort auch davon die Rede?
Davon ist schon seit Jahren die Rede, dass manche das wollen. Und wir waren von Anfang an immer dagegen. Seit 2011 hat man in Brüssel jedes unserer neuen Gesetze samt dem neuen Grundgesetz überprüft und gutgeheißen. Die Rechtsstaatlichkeitsvorwürfe waren unbegründet. Nun fängt man wieder damit an. Es gibt für diese Koppelung auch keine Grundlage im EU-Recht. Es gibt bis jetzt kein objektives, für alle gleichsam geltendes Kriterien-System, mit dem „Rechtsstaatlichkeit” klar definiert werden könnte. Wir sind deswegen grundsätzlich gegen solche Verfahren. Und wir sind nicht die Einzigen.
Wer noch?
Polen zum Beispiel.
Noch ein Land, dem rechtsstaatliche Mängel vorgeworfen werden. Ansonsten?
Allgemein die Länder unserer Region.

Am Donnerstag kommt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach Budapest. Sie ist aber auch CDU-Chefin. In welcher Eigenschaft kommt sie?
Als Verteidigungsministerin, sie wird mit unserem Verteidigungsminister Tibor Benkő sprechen. Die Zusammenarbeit beider Länder auf diesem Gebiet ist hervorragend. Aber es würde mich nicht wundern, wenn auch die Beziehung zwischen der CDU und dem Fidesz zur Sprache käme.
Wie steht es denn derzeit um diese Beziehungen?
Mit Kanzleramtsminister Gergely Gulyás war ich kürzlich in Berlin. Da war die Stimmung freundlich, geprägt von dem Bestreben, einander zu verstehen. Wir trafen die Generalsekretäre von CDU und CSU, Paul Ziemiak und Markus Blume, und sprachen auch kurz mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sowie dem Präsidenten des deutschen Bundestags, Wolfgang Schäuble. Es waren hilfreiche Gespräche, im Geist korrekter Zusammenarbeit.
Gab es Bemerkungen zu Ungarns Management der Covid-19-Krise?
Ja, allgemein wurde uns gesagt, dass man nicht verstehe, wieso die Medien so hysterisch über Ungarns Notstandslage berichteten. Mich hatte damals Paul Ziemiak angerufen und gefragt, warum wir das Parlament suspendiert hätten. Ich antwortete, dass ich gerade in einer Parlamentssitzung bin. Das ungarische Parlament hat, im Gegensatz zum Europäischen Parlament, die ganze Zeit hindurch gearbeitet.
War auch die seit anderthalb Jahren suspendierte Mitgliedschaft Ihrer Partei in der Europäischen Volkspartei ein Thema?
Ja, wir sprachen darüber, wie wir in der EVP als Verbündete zusammenarbeiten können. Es ist nicht im Interesse der Unionsparteien, dass wir die EVP verlassen.
EVP-Chef Donald Tusk will Sie aber noch in diesem Jahr rauswerfen.
Das sehen auch unsere Freunde in den Unionsparteien kritisch. Uns wurde wiederholt gesagt, dass Tusk zu weit gegangen sei. Dass er öffentlich unseren Ausschluss forderte, dafür hatte er kein Mandat von der EVP, in deren Namen er sprach. Er macht die EVP zu einem Spielball für seine innenpolitischen Ambitionen in Polen, wo seine Partei gerade eine neuerliche Niederlage erlitten hat.

Im September will Tusk den Ausschluss Ihrer Partei aber durchsetzen.
Er hat es im Februar bereits versucht, und fand dafür keine Mehrheit in der EVP. So wird es wohl auch im September sein.
Wie lange soll dieser Zustand noch andauern? Kein Rauswurf, aber auch keine volle Mitgliedschaft?
Es ließ sich bis jetzt ganz gut damit leben. Manche aber lassen sich durch die Medien unter Druck setzen. Immerhin: Dadurch, dass die Medien so falsch über Ungarns Notstandslage berichteten, hat sich die Stimmung etwas verändert. Denn viele fragen sich: Wenn diese Berichte so falsch waren, waren dann vielleicht auch andere kritische Berichte über Ungarn falsch?
Auch bei Ihnen ändert sich der Ton. Noch vor anderthalb Jahren drohte Ihre Partei, selbst austreten zu wollen. Jetzt hat Ministerpräsident Viktor Orbán die Idee formuliert, die EVP solle eine Strategie zur wirtschaftlichen Stärkung der EU ausarbeiten. Das klingt nach Teilnahme, nicht nach Ausstieg.
Wir mögen es nicht, auf der Stelle zu treten und Nabelbeschau zu betreiben. Politik ist immer Kampf, der politische Gegner beschießt uns. Und was machen wir? Wir bekämpfen einander in der EVP, statt uns zu wehren. Und wir beschäftigen uns zu wenig mit den zentralen Zukunftsfragen. Ich freue mich, dass Fraktionschef Manfred Weber jetzt den französischen Politiker und Philosophen Francois Xavier Bellamy damit betraut hat, eine Zukunftsvision für die EVP zu formulieren. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir wollen auf der Basis der EVP-Grundwerte Antworten finden auf die Herausforderungen der Zukunft – aber ohne nach links zu rutschen. Sicherheit, Migration, Digitalisierung, Demografie, Wirtschaft, das Verhältnis von Nationalstaat und EU – wir wollen helfen, zu diesen Themen konservative, christdemokratische Strategien zu entwickeln. Wenn das in der EVP geht, dann bleiben wir gern. Wenn nicht, dann nicht. Übrigens ist diese Frage innerhalb des Fidesz umstritten – manche wären am liebsten schon längst gegangen.
Am 8. Juli gab es eine Online-Konferenz mit Ministerpräsident Orbán, Serbiens Präsident Vucic, Sloweniens Ministerpräsident Jansa und dem von Ihnen bereits erwähnten französischen Politiker und Philosophen Bellamy zur Zukunft der EU. Titel: Europa unzensiert. Wer zensiert Sie denn?
Ein in Europa führendes Medium weigerte sich, unsere Programmanzeige zu veröffentlichen, weil sie angeblich nicht seinen Grundsätzen entsprach. Die Aufmerksamkeit war aber da. Rund 300.000 Menschen aus verschiedenen Ländern haben sich bis jetzt die Konferenz angeschaut– direkt und ungefiltert. Heutzutage ist es möglich, die Wähler direkt anzusprechen, ohne durch vermittelnde Instanzen gehen zu müssen.
Also ohne die lästigen Medien.
Wir haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, wie bestimmte Medien die Realität manipulieren. Etwa, dass wir das Parlament geschlossen hätten. Aber auch ohne zu lügen, stellen manche Medien nur jenen Teil der Realität dar, der in ihr Weltbild passt, oder mischen ihre Meinung in Tatsachenberichte.
Sind freie Medien also überflüssig oder gar ein Problem in der Demokratie? Oder deren unverzichtbare, tragende Säule?
Glaubwürdige Medien sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Demokratie, aber Fake news, die Verdrehung der Wirklichkeit und das Verschweigen von unangenehmen Fakten schaden der Demokratie.