Ungarn
„Wir sorgen uns nicht um Ungarn, sondern um die Isolierung der von liberalen Eliten in die Irre geleiteten westlichen Welt.“ Foto: MTI/ Tibor Katona

Interview mit Balázs Orbán, dem politischen Direktor im ungarischen Kanzleramt

„Wir sind westlich, aber noch normal“

Wir befragten Politik-Berater Balázs Orbán zum Verhältnis zwischen den USA und Ungarn, zu den Aussichten des schwedischen NATO-Beitritts und dazu, was er von der LGBTQ-Propaganda hält.

Gleich 32 Botschaften haben sich einem Aufruf der US-Botschaft in Budapest angeschlossen, wonach es um die LGBTQ-Rechte in Ungarn schlecht bestellt sein soll. Die Nachrichtenagentur Bloomberg befand sofort, nun sei Ungarn wirklich isoliert, US-Botschafter David Pressman behauptete, die ganze Welt mache sich Sorgen. Was wird bloß aus Ungarn?

Ich denke, es verhält sich genau andersherum. Die ganze Welt macht sich Sorgen, wie dieser regenbogenfarbene Transgender-Wahn zu einem bewährten Instrument der außenpolitischen Druckausübung werden konnte. Denn das ist außerordentlich schädlich für den Westen. Erinnern wir uns doch nur an den Rückzug der Amerikaner aus Afghanistan. Gerade erst hatte die dortige US-Vertretung das Feiern des Pride-Monats zur zentralen Botschaft erhoben, dann aber flüchteten die prowestlichen Kräfte Hals über Kopf außer Landes.

Diese Kreise versuchen, der Welt eine Lebensweise aufzudrängen, die selbst der traditionell christlichen westlichen Welt fremd ist. Wenn der Westen unbeirrt weiter auf diesem Weg voranschreitet, wird er den Rest der Welt gegen sich aufbringen und hoffnungslos in die Position einer Minderheit gedrängt. Kurz und gut, wir sorgen uns nicht um Ungarn, sondern um die Isolierung der von liberalen Eliten in die Irre geleiteten westlichen Welt. Diese Liberalen zeigen anderen gegenüber keinen Respekt, schwächen ihre eigenen Gesellschaften und missbrauchen für ihre Zwecke sogar Kinder. Wem das nicht passt, dessen Freiheitsrechte beschränken sie dreist. Demgegenüber ist unsere Haltung vernünftig: Wir respektieren alle Kulturkreise, stärken aber bewusst die eigene Kultur und schützen unsere Kinder, während wir in anderen Belangen auf Freiheit setzen.ű

Ungarn
„Die ganze Welt macht sich Sorgen, wie dieser regenbogenfarbene Transgender-Wahn zu einem bewährten Instrument der außenpolitischen Druckausübung werden konnte.“ Fotos: Mandiner/ Árpád Földházi

Das mit der Freiheit sehen viele aber ganz anders.

Der ungarische Staat will in der Tat niemandem hineinreden, wie er zu leben hat. Wir bestehen einzig auf dem Verbot einer Beeinflussung der sexuellen Ausrichtung von Kindern. Das Kinderschutzgesetz bezweckt, die Kinder vor der üblen LGBTQ-Propa­ganda zu bewahren. In diesem Sinne können wir Programme der Geschlechtersensibilisierung, die von sogenannten NGOs und den Botschaften forciert werden, nicht hinnehmen. Diesem Ansatz stimmten 3,7 Millionen Bürger unseres Landes bei der Nationalen Konsultation zum Kinderschutz zu. Nur ganz leise sei zu dieser Zahl angemerkt: Das sind mehr Stimmen, als anno für den EU-Beitritt Ungarns plädierten.

Pressman veranstaltete in Verbindung mit der Pride gleich noch eine Gartenparty. Wurden Sie oder andere aus der Regierung dazu eingeladen?

Das ist aus dem Blickwinkel der amerikanisch-ungarischen Beziehungen betrachtet eine typische Win-Win-Situation: Ich wurde nicht eingeladen und wollte auch gar nicht hingehen.

Den USA ist aber auch der Beitritt Schwedens zur NATO wichtig. Wann kann damit gerechnet werden?

Einen konkreten Zeitpunkt dafür kann ich Ihnen nicht benennen, die ungarische Position hat sich aber nicht geändert. Die Regierung entschied nach heftigen Debatten, dem Beitritt der Schweden zum Militärbündnis zuzustimmen, nun ist das Parlament an der Reihe. Unter den Abgeordneten der Regierungsparteien meinten jedoch nicht wenige, warum sollten wir den Schweden zur Seite stehen, die uns seit mehr als zehn Jahren systematisch beleidigen? Ich denke, wir sollten auf eine politische Formel hinarbeiten, auf einen neuen Modus Vivendi.

Das heißt im Klartext?

In jüngster Zeit waren mehrere Minister in Schweden zu Besuch, auch ich war dort, und eine Delegation unseres Parlaments verhandelte in Stockholm. Von einem Besuch der Schweden in Budapest habe ich aber nichts vernommen.

Soll das jetzt eine Einladung sein?

Eine Dauereinladung. Es stimmt aber auch, dass sich die Schweden im Verhältnis zu den Türken gerade in eine Sackgasse bewegen.

Auf dem NATO-Gipfel in Vilnius machte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Andeutungen, die Hindernisse für einen Beitritt seien ausgeräumt. Warum hält sich Ungarn hier – wie es manche Analysten unterstellen – an die Türkei?

Das ist nicht der richtige Ansatz. Selbstverständlich befinden sich Budapest und Ankara im ständigen Dialog, wir konsultieren uns zu vielen Fragen, nicht nur zum schwedischen Beitritt. Es gibt hier aber auch eine spezifisch ungarische Problemstellung. Wenn ständig und über Jahre hinweg bezüglich eines Landes verbreitet wird, es sei nicht Teil der Zivilisation, weil sich seine Demokratie im Zerfall befinde, und diese Behauptung dann auch noch in den Mittelpunkt der Außenpolitik rückt, glaubt man dann im Ernst, das alles könnte später nicht einem selbst auf die Füße fallen? Zum Beispiel jetzt, da man die Unterstützung dieses inkriminierten Landes benötigt, um einem Militärbündnis beitreten zu können?! Hier zeigt sich einmal mehr der Bankrott dieser neoliberalen, interventionistischen außenpolitischen Denkweise.

Für uns ist die Stärke der NATO relevant, die wie keine andere Organisation die Sicherheit unserer Region gewährleisten kann. Darum ist es notwendig, Geschlossenheit unter den Mitgliedern zu bewahren. Wird ein Mitgliedstaat angegriffen, dann ist es die Pflicht der anderen, also auch der ungarischen Soldaten, für die Verteidigung des NATO-Partners zu kämpfen und zu sterben. Wenn das die normale Erwartungshaltung ist, dann brauchen wir ein gutes, gesundes Verhältnis zu unseren Partnern. Wir für unseren Teil sind jedenfalls offen und optimistisch.

Zsolt Németh erklärte als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Parlament, es brauche keine Sondersitzung des Parlaments für eine schnelle Ratifizierung des schwedischen NATO-Beitritts noch im Sommer. Verstreichen die nächsten Monate also mit Nachdenken und der Hoffnung auf einen Dialog mit den Schweden?

Etwa in der Art, ja.

Zurück zu Vilnius: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste mit der Zuversicht zu dem Gipfel, dass sein Land in die NATO aufgenommen wird. Was denken Sie über diese Entwicklungen?

In der gegenwärtigen Lage, vor einem Friedensschluss ist eine Aufnahme der Ukraine in die NATO ein undenkbares Szenario. Würde das geschehen, befänden sich sämtliche NATO-Staaten augenblicklich im Krieg mit Russland. Aber wir wollen keinen Dritten Weltkrieg, wir wollen keinen Krieg zwischen Atommächten. Es muss außerdem klar sein, dass die NATO ein Verteidigungs- und nicht ein Offensivbündnis ist, das zur Umsetzung gewisser geostrategischer Ziele gleich ob im Stillen Ozean oder in Osteuropa eingesetzt wird. Das ist nicht Bestandteil des Nordatlantikvertrags, auch dann nicht, wenn es mehrere Mitglieder gerne so darstellen wollen. Genau deshalb muss der Diskurs in nüchternen Bahnen gehalten werden, so wie es auf dem Gipfel in Vilnius durchaus gelang.

BALÁZS ORBÁN wurde 1986 in Budapest geboren. Er studierte zunächst Jura an der ELTE, bevor er dort noch einen Abschluss als Politologe machte. Im Jahre 2012 wechselte er als Forschungsdirektor zum Századvég-Institut. Im Jahre 2015 wurde er zum ersten Direktor des Instituts für Migrationsforschung ernannt, das Századvég gemeinsam mit dem Mathias Corvinus Collegium gründete. Im Mai 2018 wechselte er als Parlamentarischer Staatssekretär und Stellvertretender Minister ins Amt des Ministerpräsidenten, mit dem er übrigens nicht verwandt ist. Seit 2020 ist er Vorsitzender des MCC-Kuratoriums, seit August 2021 politischer Direktor an der Seite von Ministerpräsident Viktor Orbán.

Womit erklären Sie, dass US-Präsident Joe Biden beim Gruppenfoto auf dem Gipfel einzig Viktor Orbán die Hand schüttelte?

Ich denke, der US-Präsident freute sich einfach, den ungarischen Ministerpräsidenten wiederzusehen, der unter den europäischen Staats- und Regierungschefs am häufigsten in den US-Medien auftaucht. Also begrüßte er Orbán wie einen alten Bekannten. Ich finde, das war eine nette Geste.

Wie bewerten Sie im Angesicht dieser Geste die Beziehungen Ungarns zu den Vereinigten Staaten von Amerika?

Im Zeichen dieser Geste als ausgesprochen gut!

Meinen Sie das jetzt im Ernst?

Natürlich! Der Westen kann nicht stark sein ohne eine gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit zwischen Amerika und Europa. Deshalb ist es für uns so wichtig, den gemeinsamen Nenner zu finden. Das ist Teil des ungarischen strategischen Denkens; in der Hinsicht war Ungarn schon immer ein Partner.

Mit dem Hierarchie-Verhältnis zwischen den Ländern auf der einen und der anderen Seite des Atlantik haben Sie aber ein Problem.

Dieses Problem tritt eher auf, wenn die Demokraten in den USA an der Regierung sind. Die Republikaner sagen schließlich, Europa muss imstande sein, sich selbst zu verteidigen. Im Tausch für diese Forderung drängen sie in der Wirtschaftsdiplomatie auf gleichrangige Beziehungen. Diese Anschauung passt eher zu unserem Standpunkt, als der jetzige US-Kurs, wonach man gerne den alten Kontinent zu schützen bereit ist, aber uns gleichzeitig (notfalls auch mit Nachdruck) diktieren will, was wir auf allen anderen Gebieten zu tun und zu lassen haben. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Haltung auch in anderen europäischen Ländern für Spannungen mit Washington sorgt. Das alles sind aber vorübergehende Probleme, mit denen man umgehen können muss.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat unlängst heftige Kritik an den USA geübt, für Schritte, die Europa schaden. Warum sollen wir darauf vertrauen, dass sich mit der Zeit alle Probleme wie von selbst auflösen?

Wir sind nicht jung und hitzig wie die USA, uns hetzt kein Tatare mehr. Wir Ungarn haben uns hier vor tausend Jahren angesiedelt. Die nationalkonservativen Kräfte werden mindestens sechzehn Jahre am Stück regieren. In dieser Zeit hatten wir allerhand US-Botschafter in Budapest, haben Höhen und Tiefen durchlebt. Wir besitzen strategische Geduld.

Geduld braucht es auch, was den Fluss der EU-Gelder angeht. Streben die EU-Kommission und die Orbán-Regierung denn überhaupt eine Einigung an?

Ich bin der Überzeugung, dass die EU-Kommission notgedrungen einlenken muss. Das aber deckt sich grundsätzlich mit den Absichten unserer Regierung.

Warum sollte die EU-Kommission einlenken müssen?

Weil die Europäische Union letzten Endes doch ein rechtsstaatliches Gebilde ist, wo das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen nicht von Grund auf durch den politischen Geschmack bestimmt werden kann. Wir zahlen ja nicht zum Spaß in den Klub ein, oder weil die skandalumwitterte Ursula von der Leyen unser Liebling wäre.

Schon bald anderthalb Jahre ziehen sich die intensiven Verhandlungen nun hin, die es glasklar an den Tag brachten: Nicht die offene Haltung der ungarischen Regierung blockiert eine Einigung. Es lässt sich ja kaum noch verfolgen, wie viele Bedingungen und Meilensteine wir in der Zwischenzeit erfüllen mussten und in wie vielen Angelegenheiten Übereinkünfte erzielt wurden. In immer mehr Hauptstädten der Mitgliedstaaten, ja sogar in Brüssel selbst zeichnet sich ab, dass es ernsthafte Probleme mit dieser EU-Kommission gibt: Entweder ist sie führungslos und lässt sich treiben, oder sie wird geführt, mit der Anweisung, ihre Macht zu missbrauchen. Egal welche Version auch zutrifft, beide sind absolut unhaltbar. Unabhängig davon denke ich, wenn wir einst im Jahre 2030 zurückblicken, werden wir keine größeren Unterschiede erkennen können, wie Ungarn die Mittel des Finanzrahmens 2021-27 im Vergleich zu früheren Haushaltsperioden abzurufen imstande war.

Demnach widerspiegelt es diesen Optimismus, dass Sie die EU-Gelder im Haushaltsplan für 2024 eingeplant haben.

Ganz genau! Jede Medaille hat aber zwei Seiten. Wir müssen uns auf die Zeiten nach 2027 vorbereiten. Schon heute tobt ein unglaubliches Ringen innerhalb der Gemeinschaft um die Finanzmittel. Es ist von astronomischen Summen die Rede, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht. Ganz gewiss werden sich die internen Verteilungsverhältnisse verschieben.

Die Länder Mittelosteuropas sind zunehmend erfolgreicher, die Südeuropäer aber fallen zurück. Letztere werden sich ohne geldpolitische Eigenständigkeit um mehr und mehr Beihilfen bemühen. Das ist der Trend für das vor uns liegende Jahrzehnt, und diese Entwicklung wird auch an Ungarn nicht vorbeigehen.

Bislang verfolgten wir die Logik, eine arbeitsbasierte Gesellschaft zu erschaffen und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Auf diese Weise konnten wir trotz sinkender Steuersätze unsere nationalen Entwicklungsvorhaben aus sprudelnden Steuereinnahmen finanzieren, während für die Modernisierung der Infrastruktur EU-Gelder zur Verfügung standen. Dieses auf zwei Grundpfeilern basierende Modell läuft gegen Ende des Jahrzehnts aus, die Stütze der EU-Transfers wird schmaler. Dabei braucht es in Zukunft größere Investitionen, als in den letzten dreißig Jahren.

Warum?

Das Schnellstraßennetz haben wir so gut es geht ausgebaut, beim Umbau des Energiesektors und bei der Modernisierung der Bahn gibt es aber noch jede Menge zu tun. Ungarns Chancen in der näheren Zukunft sehen wir in der Konnektivität, also einer Entwicklung, die durch die vertiefte Einbettung in den Welthandel und den globalen Wissens­transfer getrieben wird. Wir möchten zum Dreh- und Angelpunkt von Technologien und Industriekapazitäten aus West und Ost avancieren, die wir hier vor Ort mit ungarischen Forschungskapazitäten verknüpfen wollen. Dazu modernisieren wir die Hochschulen, richten Gewerbeparks ein, bauen Logistikzen­tren, erweitern Flughäfen und setzen auf Schnellbahnen. All diese strategischen Projekte wollen finanziert sein. In diesem Sinne müssen wir abgesehen von den heute noch zur Verfügung stehenden EU-Geldern und gestützt auf eine systematisch erstarkende einheimische Wirtschaft unsere Fähigkeiten verbessern, internationales Kapital zu absorbieren.

Wenn sie von solchen Plänen hören, pflegen die sogenannten orthodoxen Ökonomen aufzustöhnen, Viktor Orbán wolle Ungarn aus der EU führen, um sein System mit Hilfe aus dem Osten einzubetonieren. Bestimmt ist Ihnen eine solche Argumentation bereits begegnet.

Was für ein Unsinn! Es hilft nie, wenn jemand viel Zeit zum Nachdenken hat, aber sein Gehirn nicht einschalten will. Es muss doch jedem klar sein, dass eine Strategie, die auf Offenheit und Konnektivität aufbaut, nur funktioniert, wenn wir Teil des Westens sind. Für Akteure abseits der westlichen Welt sind wir doch nur deshalb interessant, weil wir zwar westlich sind, aber dennoch normal, offen und stabil.

Aber ist es nicht so, dass gerade die USA von ihren Bündnispartnern erwarten, die Beziehungen zum Osten abzubrechen, was sich aus dem Ringen mit China um die Vorherrschaft, aber auch aus dem Ukraine-Krieg erklären lässt?

Das ist eine Frage von strategischer Relevanz. Nicht umsonst habe ich mich damit zu Jahresanfang bereits in den Spalten dieser Zeitung ebenso wie auf Englisch bei der Denkfabrik „European Council on Foreign Relations“ beschäftigt und schreibe aktuell an einem Buch zu dem Thema, das hoffentlich noch im Herbst erscheint. Es liegt ganz und gar nicht in unserem Interesse, dass die Blockbildung aus den Zeiten des Kalten Krieges eine Renaissance erfährt. Es hat uns gerade noch gefehlt, dass man uns erneut unsere Eigenständigkeit nimmt, uns sagen will, mit wem wir Beziehungen unterhalten dürfen, und mit wem nicht. Wir lehnen diesen Kurs rundheraus ab, weil die ungarische Wirtschaft damit ihres Wachstumspotenzials beraubt wird. Und um es klar zu sagen: Es formiert sich ein anderes Lager in der Welt, das weder Wirtschafts- noch heiße Kriege will, sondern ganz im Gegenteil eine Zukunft wünscht, die auf Handel und Zusammenarbeit basiert. Da liegt unsere Chance.

Ungarn
„Es liegt ganz und gar nicht in unserem Interesse, dass die Blockbildung aus den Zeiten des Kalten Krieges eine Renaissance erfährt.“

In den letzten zwölf Jahren konnte Ungarn seinen Rückstand zum durchschnittlichen EU-Entwicklungsstand von 66 auf 78 Prozent verringern. Allein die von mir zuvor skizzierte Strategie erlaubt es uns, diesen Modernisierungsprozess wenigstens im gleichen Tempo fortzusetzen. Es gibt Anzeichen, die unsere Zuversicht begründen. Denken Sie nur an die eintreffenden Auslandsinvestitionen aus Ost und West, oder an international erstarkende ungarische Unternehmen auf den Gebieten der Telekommunikation, Banken, Pharmaindustrie, Landwirtschaft oder des Energiesektors.

Wie hinderlich ist für diese Pläne, dass unsere Energieversorgung weiterhin stark von einem Land abhängt, das sich im Krieg befindet und damit den schärfsten Konfrontationskurs mit dem Westen fährt?

Überhaupt nicht. Wir müssen unsere Zukunft nicht ohne russische Energie planen, sondern mit der größtmöglichen Breite an Alternativen. Eine zu große Abhängigkeit ist in keiner Relation gesund, und wir haben die Pläne, diese auszuschließen. Was die Elektroenergie anbelangt, streben wir nach vollständiger Autarkie, aktuell sind etwa zwei Drittel erreicht. Dafür ist die Nutzung der Nuklearenergie unverzichtbar. Bei den erneuerbaren Energien sind wir bei der Nutzung der Sonnenenergie schon heute Spitzenreiter in Europa. Neben der Ansiedlung von ausländischen Fertigungskapazitäten setzen wir auch auf die Absorbierung von Forschung und Entwicklung, nicht zuletzt bei der für die Energiespeicherung unabdingbaren Batterietechnologie.

Für unsere Strategie benötigen wir zwar auch Gaskraftwerke. Doch weil wir selbst entscheiden, woher wir die Energieträger nehmen, während wir die eigene Produktion ankurbeln und parallel dazu den Verbrauch reduzieren, geht das schon in Ordnung. Die Leitungs-Infrastruktur steht bereit, wir wollen echten Wettbewerb und sinkende Preise, was heute am ehesten durch die verfehlte Sanktionspolitik behindert wird.

Warum bleibt Ungarn so leise, wenn es um die Verurteilung der russischen Aggression durch den Westen geht?

Regierung und Parlament Ungarns haben die russische Aggression immer wieder und entschieden verurteilt. Wir gewähren der Ukraine jede erdenkliche humanitäre Hilfe. Was wir aber nicht zulassen, ist, dass die Kriegstreiber auch Ungarn in den Krieg hineinziehen. Das ist nicht unser Krieg. Es sind knapp anderthalb Jahre vergangen, die Zeit für Glaubenskämpfe ist abgelaufen. Wir sehen inzwischen schwarz auf weiß, dass die Sanktionen nicht funktionieren. Was nicht funktioniert, das sollte man jedoch nicht krampfhaft weiter forcieren. Es kann keine Rede davon sein, der Westen würde Russland zu Boden drücken.

Europas Wirtschaft aber leidet wegen der Sanktionen unter strukturellen Problemen, hat die eigene Wettbewerbsfähigkeit an die Wand gefahren, während sich die Russen neuen Märkten zuwenden. Ungarn braucht für seine Gasversorgung und die Bewahrung der gesenkten Energiekosten unbedingt auch weiterhin den langfristigen russischen Gasliefervertrag. Weil wir nun aber russische Energie verwenden, auf die andere Europäer freiwillig verzichtet haben, erlangen wir einen Wettbewerbsvorteil. Das ist Brüssel ein Dorn im Auge, also attackiert man unsere Politik der gesenkten Energiekosten.

Angeblich will Brüssel nur ein sozialeres System, wo der Staat den wirklich Bedürftigen hilft.

Aus Brüsseler Sicht mag diese Argumentation gut klingen. Wer die ungarischen Realitäten kennt, kann diesen Ansatz aber nicht mitgehen. Wir haben erlebt, dass die Notierungen an der Energiebörse von einem Tag auf den anderen um ein Vielfaches ausschlugen. Eine marktkonforme Preisbildung würde sich sofort in den Monatsabrechnungen der Bürger bemerkbar machen. Ich hätte nicht den Mut, wie die EU-Kommission zu erklären, in einem solchen Umfeld 80-90 Prozent der Ungarn den Launen des freien Marktes auszusetzen. Das geht einfach nicht!

Die Opposition profitiert derweil davon, dass unsere Inflation Europameister ist und das Wachstum auf sich warten lässt. Wann kommt unsere Wirtschaft endlich wieder in Schwung?

Krieg und verfehlte Sanktionen haben die Wirtschaft in ganz Europa getroffen, Deutschland zum Beispiel droht in diesem Jahr in Rezession zu fallen. Überall sind schlechte Zahlen zu vernehmen. Ungarn hat derweil einen Staatshaushalt für 2024 aufgestellt, der selbst noch in solchen schweren Zeiten imstande ist, die erreichten Ergebnisse zu schützen und das Wachstum anzukurbeln. Ich denke, im nächsten halben Jahr werden unsere makroökonomischen Kennzahlen bezüglich Wachstum, Lohnerhöhungen und Inflation schon weitaus besser aussehen, während die Zinsen sinken und wir den Zustand der quasi Vollbeschäftigung aufrechterhalten können.

Die Handelsketten sind logischerweise nicht an sinkenden Verbraucherpreisen interessiert, doch die Regierung steht auf der Seite der Bürger. Unsere so häufig kritisierten Techniken, die Preise zu brechen, funktionieren, und die Energiekosten in Ungarn sind auch weiterhin die niedrigsten in der gesamten EU. Die Inflation geht zurück, und ab August werden die Pflichtrabatte für Lebensmittel noch ausgeweitet.

„Die Energiekosten in Ungarn sind auch weiterhin die niedrigsten in der gesamten EU.“

Der Ministerpräsident gab auf der Siebenbürger Sommeruniversität wie gewohnt eine umfassende Lagebeschreibung. Was war für Sie die wichtigste Botschaft und was folgt für uns daraus?

Viktor Orbán sprach offen aus, dass es im Westen nicht nur Debatten hinsichtlich einzelner Themenbereiche gibt, sondern dass die liberalen Kräfte und die ungarische Verfassung prinzipielle Gegensätze prägen. Die Liberalen kennen nichts als das Individuum, wir können uns hingegen den Einzelnen nur als Teil der Gemeinschaft vorstellen. Nach unserem Dafürhalten muss die Verfassungsordnung dafür sorgen, diese Bindungen zu stärken. Es ist sicher nicht Aufgabe einer Verfassung, die rechtlichen Grundlagen für eine fortschreitende Vereinsamung der Menschen zu legen. Die Rede des Ministerpräsidenten brachte diesen Gedankengang der internationalen Öffentlichkeit zu Gehör. Das wird insbesondere in internationalen konservativen Kreisen sehr positiv aufgenommen.

Als Vorsitzender des MCC-Kuratoriums wussten Sie natürlich vom Kauf der Libri-Buchhandelskette. Diese Übernahme wurde von den Linken kritisiert, das Einschweißen einzelner Kinderbücher in Schutzfolien prangerten der US-Botschafter und der Budapester Oberbürgermeister Gergely Karácsony an. Musste das alles denn sein?

Ich habe dem Management einen einzigen Handlungsfaden mitgegeben: Wir nehmen an keinen ideologischen Scharmützeln teil, sondern halten uns in allem an das Recht. Das Parlament hat ein Kinderschutzgesetz verabschiedet, das eindeutig besagt, Minderjährige dürfen nicht mit dem Ziel der Indoktrination mit sexuellen Inhalten bombardiert werden. Wenn wir uns umschauen, sehen wir, dass in Übersee und im Westen Europas geradezu ein Kampf auf Leben und Tod um die Seelen und Körper der Kinder im Gange ist. Vor zehn Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass die westliche Welt so schnell der Dekadenz verfallen könnte. In Ungarn herrscht zum Glück ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass wir von diesem abartigen Trend verschont bleiben wollen. Wir werden es schon überleben, dass unsere Linke und die US-Botschaft nicht Teil dieses breiten Konsens sein wollen. Gergely Karácsony und die gesamte Linke verweigerten dem Kinderschutzgesetz ihre Zustimmung, sie würden am liebsten die LGBTQ-Propaganda über Kindergärten und Schulen ergießen.

Den Kauf der Libri-Kette werten manche jedoch als weiteren Schritt hin zur Diktatur. Schließlich handelt es sich um den Marktführer im Buchhandel. Werden nun die Bücher konservativer Autoren in die besten Regale gerückt?

Wenn es gute und gefragte Bücher sind, ganz sicher.

Was halten Sie denn den Kritikern entgegen?

Das konservative Lager ist schon seit 2013 bei Libri präsent, denn Zoltán Spéder gehörte zu jenen, die dieses heute großartig wirtschaftende Unternehmen von Grund auf erschufen. Damals wurde er als Teufel an die Wand gemalt, heute sind wir es. Ich denke, jene Schriftsteller lamentieren am lautesten, deren Verkaufszahlen am Boden liegen. Da kommt jede Reklame gelegen. Wer jedoch seine Bücher gut verkaufen kann, wird nicht viel Aufhebens machen, selbst wenn er nicht auf einer Linie mit der Regierungspolitik ist. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass man sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen könnte, den alle Beteiligten unabhängig vom politischen Lager als Gewinn betrachten würden.

Immerhin setzt jeder voraus, dass es eine Zukunft für das Lesen in ungarischer Sprache und das Verlegen ungarischer Bücher gibt. Ich versichere Ihnen, jeder liberale und jeder konservative Autor – ganz zu schweigen von jenen, die sich keinem politischen Lager zuordnen lassen – kann uns dankbar sein, dass hier ein kapitalstarker Marktakteur angetreten ist, der an die Zukunft des ungarischen Buchs glaubt.

Das hier nur leicht gekürzt wiedergegebene Interview von Dániel Kacsoh erschien ursprünglich Ende Juli im konservativen Wochenmagazin Mandiner.

Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.

7 Antworten auf “„Wir sind westlich, aber noch normal“

  1. Die erste Antwort war die beste:
    “Ich denke, es verhält sich genau andersherum. Die ganze Welt macht sich Sorgen, wie dieser regenbogenfarbene Transgender-Wahn zu einem bewährten Instrument der außenpolitischen Druckausübung werden konnte.”
    – und natürlich zu einem innenpolitischem Instrument gegen all jene, die es nicht auf die Spitze treiben wollen, sondern den Dialog suchen und dabei ihre Position verteidigen.
    Was den Biden-Clan betrifft, ist sowieso alles klar: Kriegstreiber und Verbrecher der allerersten Stunde. US-Botschafter David Pressman gehört zu diesem Haufen.

    https://www.youtube.com/watch?v=k0D5nCpgbZM

    Bleibt nur zu hoffen, dass sich die amerikanischen Democrats für einen ganz anderen Kandidaten entscheiden.

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  2. Herr Balázs Orbán zeigt teilweise erschreckenden Realitätsverlust:

    1. “NATO ein Verteidigungs- und nicht ein Offensivbündnis ist,”

    Beschäftigen Sie sich bitte mal mit den vielen Angriffskriegen der NATO! Hier eine kleine Auswahl:
    Irak, Syrien, Libyen, Jemen, Afghanistan, Pakistan, Jugoslawien. Amerika, der Kopf der NATO, war seit dem letzten Weltkrieg in über 200 Kriegen und Putschen beteiligt! Insbesondere setzen die Amerikaner, die Klingonen unseres Sonnensystems, gerne in Südamerika ihre eigenen Stadthalter ein, indem sie Putsche kräftig unterstützen, siehe Argentinien, Chile, El Salvador.

    2. “Weil die Europäische Union letzten Endes doch ein rechtsstaatliches Gebilde ist”

    Nennt man das Rechtsstaatlichkeit, wenn nicht der Wahlsieger EU-Kommissionspräsident wurde, sondern eine abgehalfterte Verteidigungsministerin, die nicht einmal kandidiert hatte? Es finden zahlreiche Rechtsbeugungen statt, siehe Maastrich-Vertrag, siehe auch Korruption im EU-Parlament!

    Uwe Haferland

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  3. Ergänzung zu Punkt 2:

    Selbst der Artikel 104b, Nichtbeistandsklausel, des Maastrich-Vertrags zur Wirtschafts- und Währungsunion wurde zigfach massiv verletzt, indem Deutschland bei den vier Rettungsschirmen mit bis zu 711 Milliarden Euro haftet, ein riskantes Unternehmen, das zu unserem Staatsbankrott führen könnte! Die gigantische Korruption im EU-Parlament hat auch nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun!

    Das Einstimmigkeitsprinzip wird umgangen, gebeugt, indemder EuGH sich eines üblen Tricks bediente, indem er Solidarität zu einer absoluten juristischen Norm macht, sprich Solidarität hat absolute Priorität, steht über geltendes Recht!

    Wenn Dokumente mit Pfizer geschwärzt werden, damit die Parlamentarier dessen Inhalt teilweise nicht sehen können, nennt man das nicht Rechtsstaatlichkeit, weswegen die Staatsanwaltschaft gegen die Von der Leyen ermittelt.

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    1. Sie haben RECHT!
      Gerade deshalb war sein Interview gut, weil er sich auf die Gründungsdokumenten bezogen hat.
      Um Keiegsangriffe der USA-Nato und Angriffe und ” Gesetze” der EU, Bestechungen von NGOs und so weiter gegen gleichberechtigte EU Staaten , muss die EU und Nato sagen: die Gründungsdokomente gelten nicht mehr!
      Er hat mit dieser Aussage die EU und Nato schön vorgeführt.

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  4. Die nachfolgende Aussage von Herrn Balasz Orban würde ich mir auch von einem Repräsentanten der deutschen Regierung wünschen: “Der ungarische Staat will in der Tat, niemanden hineinreden, wie er zu leben hat.”
    Der Interviewer H. Kacsoh hat z.T. scharfzüngig dem Herrn Balasz Paroli geboten. Ein lesenswertes Interview von H. Kacsoh.
    Die gut dargelegten Gründe und Realitäten von Herrn Haferland zu den Aussagen von H. Balasz möchte ich aber auch begrüßend unterstreichen und meine, dass H. Balasz stets versucht hatte, die Brisanz der Fragen diplomatisch zu umgehen und die Schärfe herauszunehmen.
    Der Deep State der USA beurteilt Ungarn mittlerweile doch recht kritisch.

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    1. Vielen Dank für die netten Worte! Wenn aber Diplomatie oder auch Contenance wichtiger sind als die knallharte Realität, letztere per se keine Rolle spielt, dann können wir auch zu den deutschen Massenverblödungsmedien zurückkehren und fördern die geistige Verwesung!

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