Kirche
„Ich bin persönlich dankbar dafür, wer heute im politischen Ungarn das Sagen hat. Natürlich ginge es immer auch besser, aber wenn ich mir die vorhandene Auswahl anschaue, sehe ich keine Alternativen.“ Foto: Árpád Földházi

Interview mit Zoltán Balog, dem Bischof, der einst Minister war

„Die Familie ist ein Geschenk der Schöpfung“

Weniger Scheinheiligkeit und Heuchelei, dafür mehr Selbstprüfungen wünscht Zoltán Balog, der neu gewählte Bischof der Reformierten Kirche im Donauraum und frühere Minister der Orbán-Regierung. Im Interview spricht er über eine politisierende Kirche, die Pandemie und aktuelle Skandale.

In der Geschichte der Reformierten Kirche gibt es kein Beispiel dafür, dass aus einem Minister ein Bischof wird. Haben Sie mit politischen Attacken gerechnet, als Sie sich um das Kirchenamt bewarben?

Man dient der Kirche aus inneren und äußeren Antrieben. So war es auch bei mir, weshalb mich politisch motivierte Angriffe nicht vom Weg abbringen können. Die letzten zehn Jahre meines Lebens verliefen außerordentlich transparent. Ich brauche mich für nichts zu schämen, auch wenn ich nicht in jeder Hinsicht zufrieden bin mit dem, was ich getan oder nicht getan habe. Wir gläubigen Christen haben das Privileg zu wissen, dass wir letzten Endes Gott Rechenschaft schuldig sind.

Bitte vergessen Sie nicht: Ich bin nicht aus der Politik zur Kirche gekommen, ich habe von meinem Dienst an der Kirche eine Auszeit für die Politik genommen. Seit annähernd drei Jahrzehnten bin ich seelsorgerisch tätig. Meine ganze Familie hat sich dem Dienst an Gott verschrieben.

In linksliberalen Kreisen weit verbreitet ist die Sichtweise, die Kirchen hätten sich von der Politik fernzuhalten. Wie sehen Sie dieses Beziehungsgeflecht?

Mir wird oft die Frage gestellt, ob ein Pastor überhaupt politisieren darf. Meine Antwort lautet: Er darf nicht nur, er muss es sogar, nur auf eine andere Weise. Und genau da liegt die Betonung, darüber sollten wir reden. In unserem Handeln muss sich die Erkenntnis widerspiegeln, dass wir die Liebe zu Jesus Christus jederzeit über unsere Parteienfamilie, über politische Führer und Ministerpräsidenten stellen. Ich will niemanden überzeugen, dass der Fidesz besser ist, als die Momentum-Bewegung. Besser als jede Partei, ob nun Momentum oder Fidesz, ist allein Jesus.

Warum soll ich als Privatmann, aber auch als Bischof keine Meinung zu Fragen von öffentlichem Belang haben? Ich persönlich bin dankbar dafür, wer heute in Ungarn das Sagen hat. Natürlich ginge es immer auch besser, aber wenn ich mir die vorhandene Auswahl anschaue, sehe ich keine Alternativen.

Der Schutz der christlichen Kultur ist heute im Grundgesetz als Pflicht eines jeden staatlichen Organs verankert. Was ist die Garantie dafür, dass dies nicht nur leere Worthülsen sind?

Gestützt auf den christlichen Glauben hat sich in Ungarn vor mehr als tausend Jahren eine Lebensform herausgebildet, die weder Türken noch Sowjets auslöschen konnten. Das ist unser christlich-kulturelles Erbe, mit ungemein vielen heute selbstverständlichen Dingen in unserem Alltag, die wir nicht missen wollen und die ihren Ursprung in der Bibel haben.

Woran denken Sie dabei?

An erster Stelle möchte ich die Familie nennen. Sie verkörpert nicht nur einen der wichtigsten Werte, über die Familie ist unsere christliche Kultur heftigen Angriffen ausgesetzt. Heutzutage wollen immer mehr Menschen den ausschließlichen und besonderen Charakter der Beziehung zwischen Mann und Frau und die darauf basierende Familie in Frage stellen. Die Familie ist ein Geschenk der Schöpfung, das nicht einfach im Wandel gesellschaftlicher Konventionen revidiert werden kann. Der Schutz der Familie ist somit eine erstrangige Aufgabe, wenn wir über christliche Kultur sprechen.

Die Regierung hat diesen Anspruch in die Verfassung geschrieben, wonach in einer Familie die Mutter eine Frau und der Vater ein Mann ist. Kritiker sehen darin eine Einschränkung des Freiheitsbegriffs.

In dieser Hinsicht stehen wir erst am Anfang eines heftigen Ringens von Geist und Seele. Unglaublich aggressiv will man uns eine Schein-Freiheit aufzwingen, die dort von souveränen Entscheidungen spricht, wo der Einzelne gar nichts abwägen kann. Da wird suggeriert, das Geschlecht zu wechseln, auf das Kinderkriegen und Großziehen zu verzichten und dieses angebliche Recht von der Gesellschaft, vom Staat einklagen zu dürfen. Ich begrüße es, dass uns das Grundgesetz unseres Landes vor einer solchen Entwicklung bewahren möchte.

„Wir dürfen nicht annehmen, dass bei uns alles in Ordnung ist, nur weil wir den Schutz des Christentums ins Grundgesetz geschrieben haben.“ Foto: Árpád Földházi

Die Corona-Pandemie brachte enorme Unsicherheiten ins Leben der Menschen. Machen Sie die Erfahrung, dass sich in solchen Zeiten wieder mehr Menschen dem Glauben zuwenden?

Ich begreife die Pandemie als große Chance, denn was heute mit uns geschieht, ruft Gleichnisse aus der Bibel wach – die Sintflut oder den Turmbau zu Babel. Gott lehrt uns, dass wir unser Leben nicht in der eigenen Hand haben. Das trifft natürlich immer zu, doch bringt die Krise auch Leute zum Nachdenken, die im Alltag solchen Gedanken nicht nachgehen wollen. Bereits im Frühjahr, zur Zeit der ersten Notstandslage, durfte ich hautnah erleben, wie ausgehungert die Menschen nach Seelsorge und Beistand sind.

Aber ist es nicht so, dass die Kirchen an Kraft verloren haben?

In Westeuropa glauben tatsächlich viele, die Kirche müsse der aktuellen Mode folgen. Als ob das ihren Status aufwerten würde! Wenn wir als Kirche nur tun dürfen, was die Regierung oder die Politik von uns erwartet, dann sollten wir nicht auf mehr Zuspruch von Seiten der Menschen hoffen. Stattdessen müssen wir das Wort Gottes predigen – diese Aufgabe kann uns niemand von den Schultern nehmen, auch wenn sie sich nicht in schönen Worten erschöpft.

Was ist die Aufgabe der Kirche, wenn sich hochrangige Politiker versündigen?

Die Kirche muss helfen, Gut und Böse zu unterscheiden. Wo Sünde ist, muss auch Vergebung sein. Warum sollten ausgerechnet Politiker und Beamte moralisch unfehlbar sein? Die Nähe zur Macht bringt den Einzelnen in Versuchung. Ich möchte jeden, der voreilig meint, über den Dingen zu stehen, mit dem Bibelspruch warnen: „Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden.“

Mit dem Sex-Skandal um den Europaabgeordneten József Szájer hat die Rechte einen anerkannten Politiker verloren. Da scheint die Frage nur zu berechtigt, wie sich die in der Propaganda der Regierung hochgehaltenen christlichen Werte mit einem derartigen Fehlverhalten vereinbaren lassen?

Überhaupt nicht. Ich wiederhole mich, wenn ich sage: József Szájer hat in mehr als dreißig Jahren enorme fachliche und politische Leistungen aufgehäuft, kämpfte gegen den Kommunismus, trat in Brüssel für die wahren Interessen der Ungarn ein und formulierte das Grundgesetz. Doch so erfolgreich, wie er hier kämpfte, so scheiterte er im Ringen mit seinen eigenen Dämonen.

“Weniger Scheinheiligkeit und Heuchelei, mehr Selbstprüfungen! Es wäre gut, wenn der Szájer-Skandal so etwas bewirken könnte.”   Foto: Dávid Mátrai

Der amtierende deutsche Bundesinnenminister trat in Bayern um den Vorsitz der CSU an, als die Öffentlichkeit erfuhr, dass seine Sekretärin ein Kind von ihm erwartet. Horst Seehofer stellte sich dieser Situation, indem er sich zu dem Kind bekannte. Er beharrte auf dem Sakrament der Ehe, gegen das er gesündigt hatte. Wir müssen Täter und Tat trennen, über Konsequenzen sprechen, aber auch vergeben können. József Szájer ist moralisch und als Figur des öffentlichen Lebens gescheitert. Die eigentliche Frage ist jedoch die, was seine politische Gemeinschaft daraus lernt.

Worin besteht für Sie diese Lektion?

Weniger Scheinheiligkeit und Heuchelei, mehr Selbstprüfungen! Es wäre gut, wenn der Skandal so etwas bewirken könnte. Nur weil jemand die Latte gerissen hat, dürfen wir unsere hohen Maßstäbe nicht aufgeben. Diese Sünde schmerzte ja gerade deshalb so stark, weil die konservativ-christliche Gemeinschaft moralische Ansprüche mitbringt. Andere würden nur mit den Achseln zucken, dieses Verhalten sei doch ganz normal. Sie legen die eigene Messlatte nicht hoch auf, aber konfrontieren Gestrauchelte schadenfroh mit einer Werteordnung, an die sie sich selbst nicht halten wollen.

Seit der Migrationswelle von 2015 sind fünf Jahre vergangen, und nichts hat sich einschneidend verändert. Wird Europa noch aufwachen, um zu erkennen, dass es ohne Glauben schutzlos ist? Kann Mitteleuropa allein auf sich gestellt überhaupt die christlichen Wurzeln bewahren?

Mir missfällt dieses Bild, wir wären die einzigen Hüter des wahren christlichen Glaubens, den der Westen längst verraten hat. Dabei trifft der Verrat zu, denn die Christen im Westen gehen in der öffentlichen Wahrnehmung unter. Aber deshalb dürfen wir nicht annehmen, dass bei uns alles in Ordnung ist, nur weil wir den Schutz des Christentums ins Grundgesetz geschrieben haben. Wenn es damit getan wäre, verlieren wir die Chance zu einem wahrhaftigen Glauben. Dabei bin ich überzeugt, dass wir Ungarn nach den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts als Einzelne ebenso wie als Nation einer geistigen und seelischen Erneuerung bedürfen, um das Christentum glaubhaft vertreten zu können. Damit tun wir nicht anderen einen Gefallen, sondern uns selbst.

Meinen Sie, wir sollten uns nicht den äußeren Feinden zuwenden, sondern besser in uns kehren?

Ich denke, es gibt einen Konsens, dass wir heute besser leben, als noch vor zehn Jahren. Das Lebensniveau ist gestiegen, es gibt weniger Armut. Besonders stolz aber bin ich darauf, dass im modernen Europa allein Ungarn den Rückgang bei der Zahl der Eheschließungen stoppen und diese binnen eines Jahrzehnts sogar wieder verdoppeln konnte. Es ist gut, dies als gläubiger Mensch zu sehen, nicht nur Probleme und Sünden.

ZOLTÁN BALOG wurde 1958 in Ózd geboren, er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Nach Studien in Debrecen, Budapest und Deutschland trat er sein erstes Amt als Pastor 1983 in Maglód an. Im Jahre 1996 wurde er zum Pastor der Reformierten Gemeinde der Deutschen in Budapest gewählt. Während der Zeit der ersten Orbán-Regierung (1998-2002) war er Chefberater des Ministerpräsidenten für Kirchenfragen. Seit 2006 saß er über drei Legislaturperioden hinweg im Parlament, seit 2007 leitete er das Kuratorium der Fidesz-Parteistiftung „Für ein bürgerliches Ungarn“. Mit Rückkehr der Orbán-Regierung 2010 wurde er zunächst Staatssekretär für Integrationsfragen im Ministerium für Verwaltung und Justiz. Mit seinem Namen ist die Verabschiedung der europäischen Roma-Strategie 2011 verbunden. Ein Jahr später wurde er HR-Minister und blieb es bis 2018. Zuletzt war er als Beauftragter des Ministerpräsidenten weiterhin für die Integration der Roma zuständig, bevor er zum Bischof der Reformierten Kirche im Donauraum gewählt wurde. Dieses Amt tritt Balog offiziell am 25. Januar an.

Wir leben also besser, nun sollten wir nach einem schöneren Leben streben, mit moralischer Qualität und Kultur. Da bleibt viel zu tun, nicht nur für die Politik, sondern ebenso für Kirchen, Schulen und Familien. Wir müssen bei uns selbst anfangen, wenn wir den christlichen Glauben würdig repräsentieren wollen. Wer meint, sich für perfekt halten zu müssen, der sei gewarnt, dass es keine größere Sünde als die Hybris gibt. Und kaum etwas ist unsympathischer auf dieser Welt, als anmaßende Gläubige.

Verstehe ich das richtig, als Seitenhieb auf die Politik?

Es liegt im Wesen der Politik, selbstbewusst und entschlossen zu sein. Offene Selbstkritik wird der politische Gegner als Schwäche auslegen. Darin liegt eine Verantwortung für alle „Seelsorger“ in Kirchen, Kultur und Wissenschaften, die ich auch persönlich verspüre. In der Politik ist es schwer, unbefleckt zu bleiben, sich weder materiell noch seelisch zu korrumpieren. Wer Macht hat, kann schöpferisch wirken, aber nicht minder groß ist die Versuchung.

Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.

Das hier gekürzt wiedergegebene Interview von Krisztina Őry erschien ursprünglich Anfang Januar im konservativen Wochenmagazin Mandiner.

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