Interview mit EMMI-Minister Prof. Dr. Miklós Kásler
„Für jede gesunde Nation ist die eigene Identität wichtig“
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Was konnten Sie seit Beginn Ihrer EMMI-Ministerschaft an wesentlichen Dingen erreichen?
Recht viel. Auf mehreren Gebieten gibt es deutlich sichtbare positive Entwicklungen. Auf anderen Gebieten gibt es zwar auch eine positive Entwicklung, allerdings ist sie noch nicht so deutlich sichtbar beziehungsweise wird erst später so richtig sichtbar.
Als EMMI-Minister sind Sie für einen sehr weiten Bereich verantwortlich. Angeblich wurde Ihrem Vorgänger genau das etwas zu viel. Wie kommen Sie damit klar?
Die Größe ergibt sich ja nicht willkürlich, sondern entspricht einem logischen Ansatz: Alles, was mit den Menschen zu tun hat, ist unter dem Dach des EMMI vereint. Diese Gebiete gehören zueinander. Sie können und müssen ganzheitlich betrachtet und bearbeitet werden.
Aus vielen Ihrer bisherigen Äußerungen wurde klar, dass das Christentum auch für Sie eine wichtige Rolle spielt.
Die Ethik des Christentums ist außerordentlich entwickelt und umfassend. Alle christlichen Verlautbarungen drehen sich um den Menschen und sein Wohl. Sie verfolgen das Ziel, das Leben der Menschen zu verbessern. Die Linksliberalen haben mich wegen meiner markanten Äußerungen zu Gunsten christlicher Werte hart angegriffen und versucht, mich verächtlich zu machen. Dabei sollen sie einmal zeigen, was denn am Christentum für die Menschen nicht gut sei. Oder was nicht schön, oder gar schädlich. Ganz anderes verhält es sich mit vielen, von den Linksliberalen vertretenen Positionen. Denken wir nur an ihre permanenten Versuche, den Konsum von gewissen Drogen zu legalisieren.
Ende des vergangenen Jahres hat die Regierung angekündigt, die Krankenhäuser unter anderem mit einer Übernahme ihrer Schulden zu konsolidieren.
Das wird das gesamte ungarische Gesundheitswesen umgestalten!

Wie kann verhindert werden, dass sich die Krankenhäuser noch einmal dermaßen verschulden?
Das gesamte ungarische Gesundheitswesen, angefangen von der Grund- und Notfallversorgung wird umstrukturiert. Parallel dazu wird das Wirtschaften der Krankenhäuser auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Dazu wurde eine neue Methodik erarbeitet, die den Krankenhäusern als Richtschnur für ihr wirtschaftliches Handeln dienen wird. Bei der Erarbeitung dieser Methodik haben wir mit Unterstützung durch das Finanzministerium die gesamten wirtschaftlichen Tätigkeiten von Krankenhäusern untersucht. Die daraufhin erarbeitete methodische Richtschnur wird ihnen helfen, in Zukunft solide zu wirtschaften, und damit eine abermalige Verschuldung schon im Ansatz verhindern.
Was alles wird bei den Krankenhäusern umstrukturiert?
Sämtliche Bereiche werden rationaler aufgestellt, unter anderem werden auf lokaler Ebene Tätigkeiten gebündelt und eine bessere Arbeitsteilung organisiert. Ziel ist es, dass die vorhandenen Kapazitäten besser ausgelastet und lokale Engpässe verhindert werden. Von der Umstrukturierung werden alle Akteure des ungarischen Gesundheitswesens berührt, Betriebs- und Schulärzte ebenso wie etwa Kinderzahnärzte und Physiotherapeuten. Die Strukturreform wird sich auf das gesamte ungarische Gesundheitswesen erstrecken. Die große Herausforderung besteht darin, dass bei der Umstrukturierung nicht nur finanzielle Aspekte berücksichtigt werden dürfen. Stets müssen die Menschen, denen geholfen werden muss, im Mittelpunkt stehen. Krankenhäuser sind keine Fabriken, die man einfach schließen kann, wenn sie unrentabel geworden sind. Im Gesundheitswesen ist das alles viel komplexer.
Wie steht es um die Umsetzung der Gesundheitsreform?
Ich vermeide bewusst den Begriff „Reform“. Im Gesundheitswesen gab es schon so viele Reformen, dass die Leute ihrer überdrüssig sind.
Gut, wie geht es mit der Umstrukturierung des Gesundheitswesens voran?
Der theoretische Teil ist bereits komplett fertig. Schwarz auf weiß ist nun nachzulesen, was wir wollen. Die Regierung hat diesen Plan noch im letzten Jahr angenommen. Nun beginnt die praktische Umsetzung. Wichtig ist dabei: es geht nicht um einen großen Schritt, sondern um viele kleine über Jahre hinweg.

Wie sehen Sie die Rolle von staatlicher und privater Gesundheitsversorgung?
Wir brauchen beide Bereiche. Beide müssen aber juristisch und finanziell sauber getrennt voneinander operieren. Es muss klar sein, was der private Sektor macht und dass er völlig unabhängig vom staatlichen Sektor existiert. Derzeit sind beide Bereiche teilweise extrem miteinander verwoben. Es gibt zwischen beiden eine wenig transparente Grauzone. Insbesondere der private Bereich versucht, seinen Nutzen auf Kosten des staatlichen Bereichs zu maximieren. Wenn im Privatbereich bei einem Patienten ein größeres Problem entdeckt wird, dann wird er in den staatlichen Bereich überstellt, wo er mit staatlichen Kapazitäten behandelt wird. Das ist kein Problem. Zumindest, solange die erbrachte staatliche Leistung korrekt bezahlt wird.
Welche Pläne verfolgen Sie beim Bildungswesen?
Auch hier werden – wenn auch nicht in einem so großen Umfang wie im Gesundheitswesen – diverse Verbesserungen durchgeführt. Prinzipiell ist das ungarische Bildungswesen aber schon jetzt auf einem hohen Niveau. Wenn etwa mehrere Tausend ungarische Ärzte in Westeuropa arbeiten, dann kann es nicht so schlecht sein. Die Kritik am Bildungssystem ist ein ewiges Thema. Ich habe noch nie gesehen, dass die Öffentlichkeit in irgendeinem Land mit ihrem Bildungssystem völlig zufrieden gewesen wäre. Wenn Ungarn mit einem ungarischen Diplom irgendwo in der Welt tätig sind, dann stehen sie ihren Mann. Als ich von 1988 bis 1990 am Uni-Klinikum in Erlangen tätig war, konnte ich am eigenen Leib erleben, dass es mir im Vergleich zu meinen deutschen Kollegen keinesfalls an Wissen mangelt. Die Ungarn sind heute genauso talentiert wie zu meiner Zeit. Ihr Genbestand hat sich seitdem nicht verändert.
In Ihrer Zeit als Minister haben Sie auch auf dem Gebiet der Kulturpolitik bereits für klare Akzente gesorgt…
So wie in der Wissenschaft finde ich es wichtig, dass auch hier jeder eine Chance bekommt. Auf keinen Fall darf die Praxis fortgesetzt werden, dass ein kleiner Kreis entscheidet, wer talentiert ist und wessen Bücher verbreitet werden sollten. In diesem Zusammenhang müssen wir darüber nachdenken, was die Rolle und die Botschaft des Petőfi-Literaturmuseums sein sollte. Meiner Meinung nach sollte es europäische, ungarische und christliche Werte pflegen und bewahren. Alles, was einen Wert darstellt, sollte in dem Literaturmuseum ein Zuhause bekommen. Ich füge aber deutlich hinzu: Nicht ich lege diese Werte fest.
Welche Absichten verfolgen Sie mit dem Institut zur Erforschung des Ungarntums, das Anfang des Jahres seine Arbeit aufgenommen hat?
Das Hauptziel des Instituts besteht darin, die auf den verschiedenen Fachgebieten gewonnenen Kenntnisse zusammenzubringen, zu bewerten und sich dann auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau und mit einer möglichst hohen Wahrscheinlichkeit eine Meinung zu den einzelnen Hypothesen zu bilden. Einem Regierungsbeschluss entsprechend wird sich das Institut hauptsächlich auf die interdisziplinäre Erforschung der ungarischen Geschichte vor der Landnahme und die Urgeschichte der Ungarn konzentrieren. Es wird sich aber auch mit dem ungarischen Mittelalter beschäftigen. Außerdem wird das Institut die ungarische Sprache untersuchen und sich an der Erarbeitung einer mittelfristigen Strategie für die ungarische Sprache beteiligen.

Warum war die Schaffung dieses Instituts notwendig?
Es gibt ein außerordentlich großes gesellschaftliches Interesse bezüglich des Ursprungs der Ungarn, ihrer Sprache, Kultur und Geschichte. Das hat unter anderem damit etwas zu tun, dass jahrzehntelang ungenaue Informationen zirkulierten. Vor etwa 150 Jahren begann die leidige Diskussion über die Ursprünge der ungarischen Sprache, die berühmt-berüchtigte türk-finno-ugrische Diskussion. Andere Alternativen als diese beiden wurden gar nicht erst in Betracht gezogen… Es gibt aber wissenschaftliche Ergebnisse, die keine der beiden Hypothesen stärken. Mehr als 100 Jahre wurde davon gesprochen, dass, da unsere Sprache finno-ugrischen Ursprungs sei, auch wir finno-ugrischen Ursprungs sein müssten. Mit der Zeit hat sich das jedoch verändert, seit Beginn der 1980er Jahre wird nicht mehr so stark auf dem finno-ugrischen Ursprung beharrt. Ich unterstreiche aber, dass auch diese Sprachtheorie nur eine Hypothese ist. Aber wer sind wir nun wirklich? Darüber wird nicht gesprochen. Gewisse Schichten der Wissenschaft sind der Ansicht, dass man sich damit nicht beschäftigen muss, weil es sowieso niemanden interessiert und wir ohnehin ein Volk mit vielen Wurzeln sind. Letzteres ist freilich wahr. Dennoch sollten wir unsere Herkunft besser kennen. Es gibt viele Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen. Vor allem dann, wenn das ohne weiteres möglich ist.
Ist es denn möglich?
Viele Wissenschaften haben sich mit dem Ursprung der Ungarn beschäftigt, nicht nur die Sprachwissenschaft, sondern auch die Archäologie, die Anthropologie, die Ethnographie, die Musikforschung, und neuerdings auch die Archäogenetik. Letztere ist eine außerordentlich moderne und sehr exakte Wissenschaft. All diese Wissenschaftszweige haben bis jetzt jedoch immer aneinander vorbeigeredet. Ihre Vertreter äußern sich, ohne den Kenntnisstand ihrer Kollegen in anderen Bereichen zu kennen. Ich bin ein Onkologe, in meinem Beruf ist es üblich, dass vier bis fünf Ärzte an der Erstellung einer Diagnose und der Planung der Therapie mitwirken. Genauso sollten wir es auch bei der historischen Forschung halten. Die grundlegende Methode der Wissenschaft besteht in der Erarbeitung einer Synthese aus These und Antithese. Wenn jemand etwas behauptet, dann kann man zunächst einmal nur von einer Hypothese sprechen. Erst wenn es gelingt, diese Hypothese zu untermauern, dann wird sie zu einer Tatsache. Nicht alle Hypothesen werden zu Tatsachen.
Viele Wissenschaftler betrachten die Urgeschichte der Ungarn und die Herkunft der ungarischen Sprache als eine abgeschlossene Sache.
Die Mathematik ist eine der exaktesten Wissenschaften. Sie hat unheimlich viele Gesetzmäßigkeiten. Dennoch kam in den dreißiger Jahren ein österreichischer Mathematiker namens Kurt Gödel und erfand eine Formel, die nur dann wahr ist, wenn sie nicht beweisbar ist. Oder denken wir nur an den ungarischen Mathematiker János Bolyai, der mit seiner nicht-euklidischen Geometrie das bis dahin für unangreifbar gehaltene Wissen über die Geometrie revolutionierte. Ich gehe jetzt nicht in weitere Details, das Wesentliche aber ist, dass noch nicht einmal die Mathematik vollständig exakt ist. Gut, die Gesellschaftswissenschaften sind bei weitem nicht so exakt. Wenn aber jemand behauptet, dass alle wichtigen Fragen des Ursprungs der Ungarn beantwortet seien, dann kann es ihm so ergehen wie Francis Fukuyama, der 1992 das „Ende der Geschichte” zu erkennen glaubte. Auch das hat sich letztlich nur als eine Hypothese erwiesen, die von der Wirklichkeit widerlegt wurde. Keine einzige Wissenschaft kann statisch und endlich sein. Oder nehmen wir meinen Bereich, die relativ genaue medizinische Wissenschaft. Was ich die Fachärzte vor fünf Jahren über Onkologie lehrte, davon ist heute so gut wie nichts mehr so, wie es einmal war. Kontinuierlich gibt es neue Informationen und Erkenntnisse.
Welche Wissenschaftszweige werden im Rahmen des Instituts zusammenarbeiten?
Wir gehen von der Teilnahme aller betroffenen Wissenschaften aus, also von der Archäologie bis hin zur Ethnographie, von der Sprachwissenschaft bis zur Archäogenetik und so weiter. Schon allein deswegen, weil es hier nicht ausschließlich um die Herkunft der Ungarn geht, sondern auch um zahlreiche Forschungen bezüglich der ungarischen Geschichte, in der es noch zahlreiche weiße oder weniger beleuchtete Stellen gibt. Sehr spannend ist beispielsweise der Zeitraum der Annahme des Christentums. Auch rund um die Schlacht bei Mohács ist noch vieles ungeklärt. Ebenso bezüglich Trianon und des Ersten Weltkriegs. Wir haben noch gelernt, dass István Tisza den Ersten Weltkrieg mit verursacht habe. Heute ist jedoch klar, dass genau das Gegenteil davon wahr ist. Er war einer der wenigen, die entschieden gegen den Krieg opponierten.
Warum gibt es in der Geschichtsschreibung des geschichtsbewussten ungarischen Volkes noch so viele weiße Flecken?
Das hat vor allem damit etwas zu tun, dass unsere Geschichtsschreibung in den Jahrzehnten unserer fehlenden Unabhängigkeit sehr verzerrt wurde. Seit 1849 gab es kaum ein Jahrzehnt, in dem wir frei von Ideologien und externer politischer Einflussnahme unsere Geschichte souverän erforschen konnten. Immer wieder wurden Forscher mundtot gemacht oder in die Emigration gezwungen. Aus Akademikern wurden Hilfsarbeiter gemacht, die Existenz von Menschen wurde zerstört. Viele schwiegen aus Angst. Jetzt, wo wir endlich ein freies Land sind, ist die Zeit gekommen, dass jeder seine Meinung äußern kann. Es gibt nur eine einzige Bedingung: Wenn jemand etwas behauptet, dann muss er es auch beweisen können.
Welche Verbindung wird es zwischen dem neuen Institut und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften geben?
Das Institut wird von der Akademie vollständig unabhängig sein. Wir planen aber eine enge Zusammenarbeit mit dem Gyula László-Institut und sämtlichen Einrichtungen mit einem ähnlichen Profil. Das bedeutet nicht, dass wir ein Institut mit mehreren tausend Mitarbeitern schaffen wollen. Das neue Institut kann man sich eher als eine Art Dachorganisation vorstellen.
Welche Dimensionen wird es haben?
Anfang Januar hat es durch die Verschmelzung mit dem Ungarischen Institut für Sprachstrategie mit 101 Mitarbeitern begonnen. Es verfügt in diesem Jahr über ein Budget von 880 Millionen Forint. Über die eigenen Mitarbeiter hinaus wird das Institut auch mit zahlreichen externen Forschern zusammenarbeiten.
Das Institut scheint Ihnen sehr am Herzen zu liegen!
Für jede gesunde Nation ist die eigene Identität wichtig. Für die Deutschen die deutsche Identität und für die Schotten die schottische. In Schottland gibt es übrigens ein ähnliches Institut wie das unsere. Aber auch, wenn wir uns in unseren Nachbarländern umschauen, sehen wir, dass dort die eigene Vergangenheit unglaublich intensiv erforscht wird. Vielleicht nicht in jedem Fall sehr wissenschaftlich, aber doch mit großer Leidenschaft. Kürzlich traf ich auf die Behauptung einer rumänischen Historiker-Gruppe, wonach der Heilige Stefan und seine Nachfahren rumänischer Abstammung gewesen seien. Es wäre gut, wenn wir auf solche Behauptungen sofort mit handfesten wissenschaftlichen Argumenten antworten könnten. Diesbezüglich bin ich aber optimistisch, schließlich hat mit der Gründung des Instituts bei der Erforschung der ungarischen Geschichte eine neue Zeitrechnung begonnen.
Am 27. Februar wird der Minister vor dem Deutschen Wirtschaftsclub Ungarn einen Vortrag halten. Weitere Details siehe Anzeige auf Seite 12.