Interview mit Verteidigungsminister Kristóf Szalay-Bobrovniczky über Symbole, Pflichten und Prioritäten
Für Frieden braucht es Stärke
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Was hat es mit der Legende von der Zigarettenschachtel auf sich und wurden Sie deshalb Verteidigungsminister?
Mein Großvater wurde am 17. März 1945 bei Kämpfen im Vértes-Gebirge durch eine Maschinenpistolensalve verletzt. Den tödlichen Schuss in die Brust wehrte die Zigarettenschachtel aus Blech ab, die ich bis heute als Talisman aufbewahre. Denn sie ist für mich ein Symbol für die Opfer der ungarischen Soldaten, das uns verpflichtet, die Zukunft zu erbauen. Mein Großvater war das Paradebeispiel eines bodenständigen, zur Landesverteidigung entschlossenen Soldaten, dessen Vermächtnis ich weitertrage.
Dennoch galt Ihre Ernennung als eine der größten Überraschungen der fünften Orbán-Regierung.
Der Ministerpräsident rief mich wenige Tage nach den Parlamentswahlen an, Stunden später saß ich ihm gegenüber. Als mir Viktor Orbán das Amt des Verteidigungsministers antrug, war mein erster Gedanke: Das ist die schönste Pflicht meines Lebens, die größte Herausforderung und edelste Berufung. Kann man sich einen größeren Ruhm vorstellen, als seiner Heimat zu dienen?
Sie haben einen Berufssoldaten an der Spitze des Ministeriums abgelöst.
Lassen Sie mich die Zeit nach der Wende reflektieren, als die Gesellschaft nichts mehr von der Armee wissen wollte. Das Personal wurde abgebaut, die linksliberalen Regierungen verschleuderten das Material, weil man sich der Illusion hingab, die anderen werden uns schon schützen. Bis heute zeigt sich diese Verunsicherung der Gesellschaft darin, dass man Soldaten in Uniform außerhalb der Kasernen kaum zu sehen bekommt.
Derweil wuchs eine neue Generation von Offizieren heran, die im Westen ausgebildet wurden, Fremdsprachen sprechen und bei Auslandsmissionen ihre „Feuertaufe“ erhielten. Wir haben es also heute mit einem professionell agierenden Generalstab zu tun, dem der Minister nicht sagen muss, was ein guter Soldat ist. Meine Aufgaben als Verteidigungsminister bestehen darin, die Absichten der Regierung zur Geltung zu bringen, Brücken zwischen der Armee und der Zivilgesellschaft zu bauen sowie unsere Verteidigungsbelange international zu vertreten.
Das Programm zur Modernisierung der ungarischen Streitkräfte wurde weit vor Ihrer Zeit aufgelegt. Wie geht es damit weiter?
Für diese Regierung hat die Sicherheit Ungarns absolute Priorität. Migrationskrise, Corona-Pandemie und nun der Ukraine-Krieg haben eindrücklich belegt, dass wir die Sicherheit und unsere Verteidigungskraft erhöhen müssen. Weil diese Arbeit in weiser Voraussicht schon vor Jahren aufgenommen wurde, müssen wir nun in Kriegszeiten nicht überhastete Entscheidungen treffen. Für die Beschaffung moderner Militärtechnik wurde ein eigenständiges Staatssekretariat im Verteidigungsministerium eingerichtet. Wir haben die nötigen Ressourcen bereitgestellt, um die veraltete Technik aus Sowjetzeiten hinter uns zu lassen. Ab 2023 erreichen die Verteidigungsausgaben einen Anteil von zwei Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Der wegen des Ukraine-Kriegs von der Regierung eingerichtete Sonderfonds für Verteidigungszwecke garantiert dies.
Die Wiederbelebung der ungarischen Militärindustrie
Beim Neuaufbau der einheimischen Militärindustrie nimmt der deutsche Rheinmetall-Konzern eine zentrale Rolle ein, die sich in zahlreichen Gemeinschaftsprojekten mit dem ungarischen Staat niederschlägt. Die industriellen Beziehungen zu Deutschland zu stärken, erscheint nur zu logisch, nachdem in der Automobilindustrie eine fruchtbare Zusammenarbeit entstand, die über die Fertigung hinaus vielfältige entwicklungstechnische und Ingenieurleistungen hervorbrachte.
Várpalota: Munitions- und Sprengstoffwerk – Rheinmetall
Zalaegerszeg: Lynx-Schützenpanzerwerk – Rheinmetall
Kaposvár: Werk für den gepanzerten Gidran 4×4 – Rheinmetall
Nyírtelek: Werk zur Fertigung und Wartung von Radarsystemen – Rheinmetall
Gyula: Helikopterwerk – Airbus
Kiskunfélegyháza: Werk für Handfeuerwaffen AR-10 und AR-15 – (HM Arzenál)
Sind die hohen Rüstungsausgaben inmitten einer Wirtschaftskrise gerechtfertigt?
Das ist kein Widerspruch, denn für den Frieden braucht es Stärke.
Die Antwort der Linken darauf lautet: Wir sind Mitglied der NATO, die uns schützt. In Rüstung zu investieren ist rausgeworfenes Geld.
Die ungarische Geschichte handelt vom andauernden Kampf um unsere Souveränität, den wir immer wieder auch verloren. Zum ersten Mal seit langem können wir als Teil eines starken Bündnisses, unter Bewahrung unserer Eigenständigkeit, eine nationale Strategie verfolgen. Deren Grundpfeiler ist eine nationale Streitkraft, die Selbstvertrauen und Schlagkraft ausstrahlt, auf der Basis eines Freiwilligenheeres gut ausgebildeter und ausgerüsteter Soldaten.
KRISTÓF SZALAY-BOBROVNICZKY wurde 1970 in Budapest geboren, er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Auf einen Hochschulabschluss als Agraringenieur folgte eine postgraduale Managementausbildung in Paris. Er arbeitete zunächst bei einer Beratungsfirma der Big4, anschließend bei einer französischen Handelsbank. Es folgten leitende Funktionen im ITK-Sektor und die Position als Chefredakteur und Direktor der Wochenzeitung Heti Válasz. Ab 2011 war er Vizepräsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Századvég, von 2016 bis 2020 Botschafter Ungarns in Großbritannien. Ab 2014 war er Präsident des Reservistenverbandes, heute ist er dessen Ehrenvorsitzender. Szalay-Bobrovniczky trat vor seinem Ministeramt als Investor in Erscheinung. Er spricht Englisch, Deutsch und Französisch.
Nur Mitglied der NATO zu sein reicht nicht. Dies ist ein Verteidigungsbündnis und soll es auch bleiben. Der Kit dieses Bündnisses sind die Beiträge der nationalen Streitkräfte. Wir sind ein engagiertes und anerkanntes Mitglied der NATO und wollen uns insbesondere auf dem Gebiet der Militärdiplomatie noch stärker einbringen. Bei der Sicherung unserer Südgrenzen gegen illegale Einwanderung und Terrorismus leistet auch die Armee ihren Beitrag. Dieses Thema halten wir auf der Tagesordnung, auch wenn der russisch-ukrainische Konflikt den Fokus verschiebt.
Die NATO will nicht in den Krieg hineingezogen werden, Ungarns Regierung schon gar nicht.
Das ist nicht unser Krieg, wir halten uns da raus. Wir wollen Frieden und drängen auf ein baldiges Ende des Blutvergießens, auf Verhandlungen.
Der Präsident der Ukraine und einflussreiche Kreise im Westen sehen das ganz anders.
Wir wissen, wer der Aggressor in diesem Krieg ist. Die reine Humanitätsfrage und die Zugehörigkeit zum Verteidigungsbündnis weisen uns den Platz auf der Seite des Angegriffenen. Mit Kriegsausbruch haben wir die Spannungen um die ungarische Minderheit in Transkarpatien in den Hintergrund geschoben, um uns bei der größten humanitären Hilfsaktion unserer Geschichte für die ukrainischen Flüchtlinge einzusetzen.
Zurück zur Modernisierung der Streitkräfte: Wo steht dieser Prozess?
Wir müssen die veraltete Technik so schnell wie möglich ersetzen und mit einer modernen, reaktionsschnellen Armee Abschreckungskraft vermitteln. Um nur einige herausragende Beispiele zu nennen: Permanent treffen bei uns moderne Leopard-Panzer ein, und die Fertigung der Lynx-Schützenpanzer läuft an. Die auf Basis einer tschechischen Lizenz produzierten Handfeuerwaffen hat unsere Armee bereits standardisiert. Bei der Luftabwehr sind alle Verträge geschlossen, nun steht die Installation der hochmodernen Radar- und Raketenabwehrsysteme an. Unsere Luftstreitkräfte erhalten neue Ausbildungsflugzeuge; die Beschaffung modernerer Jagdflugzeuge wird vorbereitet. So gut es geht verknüpfen wir die Beschaffung mit Investitionen in die eigene Verteidigungsindustrie.
Diese Investitionen unterliegen aber der Aufsicht eines anderen Fachressorts, des Ministeriums für Technologien und Industrie.
Die Verteidigungsindustrie wird zu einem starken Motor der weiteren Wirtschaftsentwicklung. Diese Industrie kann sich auf die Aufträge der eigenen Armee stützen und dabei Referenzen für internationale Märkte erlangen.
Als angehender Minister sagten Sie, Sie wollen die Armee personell stärken. Wie stellen Sie sich das vor?
Ohne den Menschen taugt auch die modernste Technik nichts, denn selbst die kompliziertesten Systeme wollen bedient werden. Dazu benötigen wir gut ausgebildete Berufssoldaten und Soldaten der Reserve. Wir brauchen junge Leute, die den Dienst für ihre Heimat an der Waffe als Berufung und nicht nur als einen Job ansehen.
Folgt daraus nicht, dass Sie früher oder später zur allgemeinen Wehrpflicht zurückkehren?
In Friedenszeiten organisiert sich die Ungarische Armee auf freiwilliger Basis.
Welche Möglichkeiten sehen Sie – auch aus eigener Erfahrung – bei den Reservisten?
Vor zehn Jahren meldete ich mich als Freiwilliger der Reserve. Ich wurde wiederholt zu Weiterbildungen einberufen und bin heute Hauptmann der Reserve. Mir haben diese Jahre als Soldat sehr viel gegeben – dieses Gefühl und die Bereitschaft zur Verteidigung der Heimat möchte ich möglichst vielen weitergeben.
Sie waren ein erfolgreicher Geschäftsmann, haben Sie die daraus folgenden Interessenkonflikte aufgelöst?
Ich war Chefredakteur eines oppositionellen Wochenblatts (Heti Válasz), habe ein Wirtschaftsforschungsinstitut geleitet (Századvég), war Botschafter in London, als es zum Brexit kam, und habe viele große Investitionsprojekte an Land gezogen. All diese Aufgaben hatten ihre schönen und ihre harten Seiten – übereinstimmend daran war der Dienst an der Heimat. Was die Interessenkonflikte wegen meiner Geschäftsbeteiligungen angeht, halte ich die Rechtsnormen ein.
Ihr Ministerium ist auch für den Sport zuständig. Eine interessante Konstellation…
Den Sport beim Verteidigungsministerium anzusiedeln hat Tradition und kennt internationale Beispiele. Im Wettkampfsport gehört Ungarn längst zu den erfolgreichsten Nationen, auch bei der Abwicklung großartiger Sportereignisse. Wir wollen aber auch eine Nation werden, die beim Sporttreiben alle Bürger mitnimmt.
Das hier gekürzt wiedergegebene Interview von Dániel Kacsoh erschien ursprünglich Ende Juni im konservativen Wochenblatt Mandiner.
Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.
Die NATO ist der Apparat für gewaltsame Machterweiterung der USA / der Multis. Dies zeigt der brutale Putsch in der Ukraine mit seitheriger Unterdrückung der russophilen Provinzen, und wie sie jetzt alles tun, um dafür den Krieg zu verschärfen. An der NATO hat man also nichts Gutes mehr.
Was sehen Sie denn als Alternative für Ungarn, wenn es die NATO nicht sein soll?