Interview mit dem Parlamentspräsidenten László Kövér
Die EU-Bürokratie wächst wie ein Krebsgeschwür
Waren Sie schon mal in Stockholm?
Ende der 1990er Jahre besuchte ich auf Einladung in Schweden lebender Ungarn rund um unseren Nationalfeiertag vom 23. Oktober mehrere Städte.
Was war Ihr Eindruck?
Insgesamt gewann ich einen guten Eindruck. Allerdings erzählten mir die Ungarn, wie schwer es für sie sei, sich in die schwedische Gesellschaft zu integrieren. Diese Geschichten von der abweichenden Mentalität zwischen Skandinaviern und Mitteleuropäern habe ich auch heute im Hinterkopf, wenn ich um Verständnis werbe, warum wir anders über die Vorgänge in der Welt denken.
Es sieht ganz so aus, dass Ihre Partei, der Fidesz, die Schweden heute demonstrativ nicht mag. Zumindest wird der NATO-Beitritt des Landes mit dem Hinweis verschleppt, schwedische Politiker bezeugten den Ungarn keinen Respekt.
Sowohl die Regierung als auch Staatspräsidentin Katalin Novák haben klargestellt, dass sie Schwedens NATO-Beitritt zustimmen. Nicht von ungefähr liegen die Dokumente zur Ratifizierung vor dem Parlament. Bei den Regierungsparteien Fidesz-KDNP handelt es sich jedoch um eine lebendige politische Gemeinschaft, die abweichende Meinungen zulässt. Viele in der Fraktion sind der Auffassung, die Entscheidung sollte wohlüberdacht sein.
Wenn sich ein neues Mitglied dem Verteidigungsbündnis anschließt, dann braucht es grundlegendes Vertrauen, denn im Ernstfall sollen wir uns ja gegenseitig schützen. Die schwedische Politik und dabei insbesondere die dortigen Linken haben in den letzten Jahren jedoch nicht das Geringste dafür getan, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Ganz im Gegenteil lamentierten die Schweden am lautesten beim Verleumdungsfeldzug gegen Ungarn. Bis heute sehe ich keine Gesten aus Stockholm, die uns beweisen würden, dass man uns künftig in der NATO als Partner auf Augenhöhe behandeln will.
Außer Ungarn verzögert auch die Türkei die Ratifizierung. Stimmt es, dass wir unsere Entscheidung von Ankara abhängig machen, oder handelt Ungarn autonom?
Selbstverständlich beobachten wir, wie die Türkei, das Land mit der zweitgrößten NATO-Streitmacht, mit den Schweden verhandelt. Es gab aber keine Abstimmungen zwischen uns, und erst recht wurden keine Erwartungshaltungen formuliert. Ich persönlich will den Schweden die Zeit, die sie für die Einigung mit den Türken benötigen, zubilligen, um ihr Verhältnis zu uns zu verbessern. Allerdings müsste man die ganze Angelegenheit auch aus einem anderen Blickwinkel analysieren.
LÁSZLÓ KÖVÉR wurde 1959 in Pápa geboren. Im Jahre 1986 absolvierte er die Fakultät für Staats- und Rechtswissenschaften der ELTE. Er gehört zu den Mitbegründern des Fidesz, sitzt seit 1990 als Abgeordneter im Parlament und war zwischen 1998 und 2000 als Minister ohne Geschäftsbereich für die zivilen Geheimdienste zuständig. Vom Januar 2000 bis zum Mai 2001 war er Parteichef des Fidesz, seit 2002 leitet er den Nationalen Wahlausschuss, das interne Parlament des Fidesz. Seit August 2010 bekleidet Kövér das Amt des Parlamentspräsidenten. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.
Woran denken Sie dabei?
Zwei traditionell neutrale Länder, Finnland und Schweden, geben diese Position auf und dehnen die unmittelbare NATO-Front gegen Russland aus. Das ist eine Entwicklung, die eine umfassendere Debatte erfordert hätte. Nach meiner Ansicht wird die Sicherheit Europas mit dem Beitritt dieser beiden Länder zum NATO-Bündnis nicht gestärkt, sondern im Gegenteil geschwächt.
Wie kommen Sie denn darauf?
Dass die Berührungspunkte zwischen Russland und der NATO im wahrsten Sinne des Wortes zunehmen, kann nicht im Interesse der Menschen in Schweden und Finnland sein. Ich möchte daran erinnern, dass es in Ungarn eine Volksabstimmung über den NATO-Beitritt gab. Im Gegensatz dazu wurden die Bürger jener Länder, die uns ständig Nachhilfe in Demokratie geben wollen, erst gar nicht um ihre Meinung gefragt.
Die wegen des Ukraine-Kriegs nur begrenzt gerechtfertigte, zu einem guten Teil aber künstlich geschürte Hysterie erlaubt derweil die zügige Umsetzung eines alten geostrategischen Plans. Es gibt bereits vorsichtige Hinweise, dass aus Übersee und von Seiten der EU-Zentrale diplomatischer Druck ausgeübt wird, damit die noch verbliebenen neutralen Länder Österreich und Schweiz ihre Sonderstellung überdenken mögen. Hier geht es um mehr, als nur zwei skandinavische Länder oder aber die Sicherheitslage Europas.
Auf der anderen Seite lag es nach der Systemwende außerordentlich im Interesse Ungarns, der NATO beizutreten. Vorläufig halte ich diese Entscheidung auch nicht für einen historischen Fehler. Wenn wir damals diese Chance erhielten, sollten wir diese moralisch betrachtet auch den Schweden nicht verwehren.
Was sagen Sie zu Meinungen, der Ukraine-Krieg stelle Ungarn vor die Entscheidung, ob es den Osten oder den Westen wählen will?
Ob wir es nun wollen oder nicht, diese Entscheidung haben uns unsere Vorfahren schon lange abgenommen. Wir sind Teil der christlichen Kultur des Westens, Ungarn ist diesem politischen Europa bereits mit der Gründung seines christlichen Staates beigetreten. Das prägt seither unsere nationale Kultur. Nun wollen uns ausgerechnet jene zu einem Entweder-Oder nötigen, die diese geistige und moralische Basis Europas negieren. Im Gegensatz zu ihnen gibt es für uns kein nicht-christliches Europa.
Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass der Kontinent geographisch bis zum Ural reicht. Ungarn befindet sich nicht nur in einer Pufferzone von Großmachtambitionen, es kann auch kulturell als Vermittler auftreten. Seit Byzanz und den Osmanen waren wir ständig östlichen Einflüssen ausgesetzt, in der Türkei und in Mittelasien, ja sogar in Korea und Japan hält man uns für ein verwandtes Volk, das es in den Westen verschlagen hat. Jenen, die uns diese unsinnige Entscheidung Ost oder West aufdrängeln wollen, stelle ich die Gegenfrage: Warum sollen wir uns von unseren gemeinsamen geschichtlichen und kulturellen Wurzeln abkehren? Warum kann Ungarn nicht eine jener Brücken sein, die den Westen im herkömmlichen Sinne mit dem vielfältigen Osten verbinden?
Zurück zum Krieg in der Nachbarschaft: Staatspräsidentin Katalin Novák ist bereits mehrfach in die Ukraine gereist, Ministerpräsident Viktor Orbán noch kein einziges Mal.
Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied in den Standpunkten. Natürlich kann ein Staatspräsident andere Worte wählen, als etwa ein Außenminister, der konkrete Streitpunkte mit den Ukrainern oder aber den westlichen Kollegen debattieren muss. Abgesehen davon spricht auch Katalin Novák in erster Linie vom Frieden; schon das unterscheidet sie und Ungarn von allen anderen Politikern in EU und NATO. Da wird angesichts eines ständig steigenden Blutopfers von längst vielen hunderttausend Menschen immer noch herumgeschwafelt, wie sich dieser Krieg gewinnen lässt. Die Wahrheit aber ist, dass diesen Krieg niemand gewinnen kann, weil ihn längst alle verloren haben. Genauer gesagt: mit Ausnahme der USA, der Rüstungsindustrie, des Energiesektors und von Finanzkreisen.
Viele verlangen aber von Ungarns Regierung, die russische Aggression deutlich zu brandmarken. Den Kritikern schmeckt auch nicht, dass der Außenwirtschaftsminister in Moskau und in Budapest auf Regierungsebene mit den Russen verhandelt.
Einmal abgesehen von törichten Politikern im Oppositionslager wagt niemand zu behaupten, Ungarn stehe im Krieg mit Russland. Wenn dem also nicht so ist, dann erscheint es uns nur als normal, dass sich Politiker verschiedener Länder miteinander austauschen, etwa über bilaterale Angelegenheiten, die weiterhin Relevanz besitzen. Warum nur bilden sich gewisse Leute ein, dem Präsidenten Russlands würden die Knie schlottern, weil irgendein europäischer Politiker nicht mehr mit ihm reden will?!
Wir halten uns zu jeder Zeit die Interessen der Ungarn vor Augen, allein das bildet den Maßstab, mit wem wir wann verhandeln. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Der Feind unseres Feindes muss nicht gleich unser Freund sein, wie auch der Feind unserer Freunde nicht automatisch zu unserem Feind wird, und die Freunde unserer Freunde nicht unbedingt auch unsere Freunde. Wir selbst wollen ausschließlich ausgehend von den eigenen nationalen Interessen bestimmen, wer unsere Feinde und wer unsere Freunde sind. Und da lassen wir uns von niemandem hineinreden! Abgesehen davon suchen wir uns keine Feinde und freuen uns mehr über einen korrekten Partner, denn einen falschen Freund, dessen Umarmung erdrosselnd wirkt.
In Sachen Ukraine-Krieg zählt David Pressman zu unseren größten Kritikern. Der US-Botschafter lud im Pride-Monat zu einem LGBTQ-Picknick ein, wo er gerne neben Oppositions- auch Regierungspolitiker gesehen hätte. Hat er Sie eingeladen?
Ich habe keinen offiziellen Kontakt zum vermeintlichen US-Botschafter.
Vermeintlich?
Von anderen höre ich, er sei Botschafter der Vereinigten Staaten in Ungarn, aber wenn ich seine Tätigkeit so verfolge, kommt mir etwas anderes in den Sinn. Er verhält sich vorsichtig ausgedrückt sehr ungewöhnlich.
Woran zeigt sich das?
Ich bin kein Experte der Diplomatie und mag diese Welt auch nicht sonderlich, wo jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Aber daraus speist sich ja auch mein Zweifel, denn dieser Herr Pressman achtet keineswegs auf seine Wortwahl und die Macht der Gesten.
Zurück zu Ihrer Ausgangsfrage: Der Mann kann feiern, mit wem er will – mit Verlaub beneide ich seine Gäste nicht. Hätte er mich eingeladen, wäre ich der Einladung nie im Leben nachgekommen. Aber mal ganz im Ernst: Obgleich es stimmt, dass ich ein gestörtes Verhältnis zur Welt der Diplomatie habe, kann ich sämtliche US-Botschafter in Ungarn seit 1990 namentlich aufzählen. Beinahe mit jedem von ihnen konnte ich ein persönliches Verhältnis aufbauen.
Einer wollte sich ähnlich wie Pressman als Statthalter aufspielen, ein anderer hasste die Ungarn aus tiefstem Herzen. Es fanden sich aber auch gutherzige Amateure, die zunächst enttäuscht waren, im Tausch für ihr Engagement im US-Wahlkampf in dieses kleine Land geschickt zu werden. Dann aber wurden sie gewahr, dass Ungarn doch ein netter Ort ist, und machten sich daran, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern voranzutreiben. Und es gab durchaus auch echte Freunde Ungarns, die im Sinne einer beidseitig vorteilhaften Zusammenarbeit agierten. Pressman gleicht jedoch keinem von ihnen. Dafür vereint er in einer Person alle negativen Stereotypen, wofür die Yankees nirgendwo auf der Welt auf Gegenliebe stoßen. Na gut, mit einer Ausnahme: der toxischen Männlichkeit.
Befinden sich die Beziehungen Ungarns zu den USA demnach auf einem Tiefpunkt?
Die politischen Beziehungen zwischen den Regierungen befinden sich auf dem Tiefpunkt. Was die militärische Zusammenarbeit anbelangt, erfüllen wir unsere Aufgaben als NATO-Bündnispartner. Kein US-Offizieller hat Ungarn je kritisiert, es würde seinen Bündnispflichten nicht nachkommen. Was die wirtschaftlichen Beziehungen betrifft, hat die US-Regierung gerade ein, zwei Maßnahmen der Art ergriffen, als wolle man uns bewusst Schaden zufügen. Nichtsdestotrotz fühlen sich die angesiedelten US-Unternehmen bei uns wohl. Ihre Präsenz ist für beide Seiten von Nutzen.
Unter der Präsidentschaft von Donald Trump waren die politischen Beziehungen wahrscheinlich besser denn je. Wir können nur hoffen, dass sich früher oder später Veränderungen einstellen und die Uhren in Washington wieder normal ticken. Jedenfalls ist es nicht normal, wenn die US-Regierung ihren Botschafter dazu missbraucht, einem Verbündeten täglich Nackenschläge zu versetzen.
Zum Glück zeigen mir Besuche von US-Größen wie Tucker Carlson und Wortmeldungen einzelner US-Politiker, dass auch in den Vereinigten Staaten nicht alle so denken, wie die Biden-Regierung.
Ist es nicht so, dass wir mit Brüssel auch nicht besser stehen? Denken wir doch nur an die ausbleibenden EU-Gelder! Wäre es nicht an der Zeit, der Gemeinschaft den Rücken zu kehren?
Um es vorwegzunehmen: Wenn man hunderte Jahre zurückblickt und insbesondere das letzte Jahrhundert betrachtet, gab es noch keinen besseren Rahmen, die ungarischen nationalen Interessen zur Geltung zu bringen, als die Europäische Union – selbst in ihrer jetzigen Verfassung. Solange dieser Bund hält und Ungarn bekommt, was ihm zusteht, während es seinen vertraglichen Verpflichtungen gerecht wird, solange trifft diese Aussage zu. Ich gehe halt davon aus, dass die EU im Prinzip doch ein freiwilliger Zusammenschluss gleichrangiger und gleichberechtigter Mitgliedstaaten ist.
Aus der Mitgliedschaft erwachsen Vorteile wie die Freizügigkeit – wobei dieser Vorteil gerade abhandenkommt, wenn nicht mehr nur an der ungarisch-österreichischen, sondern ebenso an der österreichisch-deutschen Grenze Kontrollen durchgeführt werden, also die EU selbst Errungenschaften beseitigt, die viele Bürger der Gemeinschaft als nützlich ansehen. Solange wir mit unseren Brüdern und Schwestern in Siebenbürgen und Oberungarn visafrei zusammenkommen können, solange wir am europäischen Wirtschaftskreislauf teilhaben dürfen, ohne unsere Souveränität in Wirtschaftsbelangen grundlegend aufzugeben, solange liegt die Mitgliedschaft in unserem Interesse.
Es ziehen freilich dunkle Wolken auf, wenn ich an die intensiven Bemühungen denke, ein Wirtschaftsregiment zu installieren, das eben diese Souveränität der Mitgliedstaaten in Steuer-, Beschäftigungs-, Handels-, Investitions- und fiskalpolitischen Fragen aufheben soll. Ganz zu schweigen von der Währungsunion und den gemeinsamen Schuldenaufnahmen, die uns noch den Rest an Souveränität nehmen würden. Leider kommen in jüngster Zeit Tendenzen zur Geltung, die den ursprünglichen Zielen und Errungenschaften der Gemeinschaft entgegensteuern. Mehr noch, gibt es provokative Versuche, die demokratischen Institutionen, die Verfassungsordnung und insbesondere die Justiz zu manipulieren. Das alles hätte ich früher in meinen dunkelsten Träumen nicht für möglich gehalten.
Kurz und gut: Wir müssen uns tatsächlich fragen, ob die EU heute noch eine Gemeinschaft unabhängiger, gleichrangiger und gleichberechtigter Staaten ist, oder ob uns nur noch ein Schritt davon trennt, Opfer eines neu entstandenen Imperiums zu werden. Gemessen daran ist es zweitrangig, ob wir noch von den Fördermitteln der Gemeinschaft profitieren können oder aber bereits den nächsten Finanzrahmen als Nettoeinzahler bestreiten werden. Wenn man sich anschaut, welche Absichten die heutige EU-Führung verfolgt, soll alles Geld aus den Gemeinschaftskassen fortan dem – sogenannten – Wiederaufbau der Ukraine und der fortgesetzten Stärkung der Brüsseler Bürokratie dienen. Dabei lähmt es Europa schon heute, dass sich jene Institutionen, die einst geschaffen wurden, um die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten effizienter zu gestalten, heute wie eine Art Golem gegen ihre Schöpfer wenden. Die Mitgliedstaaten besitzen nicht länger die Kontrolle über diese Bürokratie, die wie ein Krebsgeschwür wächst.
Hat die Regierung alles getan, damit die EU-Gelder wieder vollständig eintreffen können?
Nach meinem Dafürhalten hat diese Regierung sogar noch mehr getan, als sie hätte tun können, ohne den Geist der ungarischen Verfassung zu verletzen. Die Justizministerin betonte, wir hätten selbst vollkommen ungerechtfertigte Forderungen erfüllt, nur weil Brüssel daraus eine Prestigefrage machte.
Ich denke, wir haben eine Pflicht gegenüber unseren Staatsbürgern, Kompromisse zu schließen, um die Argumente der ihre Macht missbrauchenden Brüsseler Bürokratie zu entkräften, mit denen die Ungarn rechtmäßig zustehenden Gelder zurückgehalten werden. Da wird der Spielraum eines missliebigen Landes eingeschränkt, um dessen Politik von außen in die gewünschte Richtung zu lenken. Und dann erwartet man auch noch, dass wir uns für die entstandene Lage schämen sollen.
Die Art, wie die EU-Institutionen in Brüssel kommunizieren, hat nichts mit der Realität gemein. Sie benennen vermeintliche Probleme in Ungarn, die in Wirklichkeit gar nicht existieren, oder wo die Lage bei uns besser ist, als in anderen Mitgliedstaaten. Und sie mischen sich in Dinge ein, die sie einfach nichts angehen. Um es mit einem Modebegriff auszudrücken: Die Globalisten in Brüssel betreiben eine hybride Kriegführung gegen Ungarn und Polen, die ihre Souveränität verteidigen.
Bei den Europawahlen 2024 könnte sich der Fidesz der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer anschließen. Wären Sie damit zufrieden?
Ich wäre eigentlich nur zufrieden, wenn der Fidesz in die EVP zurückkehren könnte. Genauer gesagt in jene Parteienfamilie, wie sie zur Zeit unseres Beitritts bestand. Damit würden wir das Zentrum bilden, mit liberaleren und konservativeren politischen Kräften zu beiden Seiten. Denn wie auch immer man uns zu diffamieren versucht, wir stehen auch heute genau dort, wo wir uns vor zehn oder gar vor zwanzig Jahren befanden. Es sind die sogenannten Mitterechtsparteien, die sich von den Linken umgarnen und einfangen ließen.
Wird es eine rechte Wende im Europäischen Parlament geben?
In Westeuropa ist das Wahlverhalten bei weitem festgefahrener, als in Ungarn. Da brauchen die Wähler viel mehr Enttäuschungen, ehe sie die Partei wechseln. Das trifft erst recht zu, wenn jede neue Partei, die als Alternative zu den sogenannten Mitterechtsparteien entsteht, sogleich in den Medien als nationalistisch, populistisch, extrem und was weiß ich noch alles abgestempelt wird. Die angeblich so pluralistischen westlichen Medien wollen zu 99,9 Prozent alle Politiker ans Messer liefern, die solche Parteien vertreten. In Deutschland geht man ganz offen so weit, wenn man das „dumme“ Volk schon nicht dazu bewegen kann, nicht für die AfD zu stimmen, dass diese Partei dann am besten ganz verboten wird. Wie interessant, dass über Jahrzehnte niemandem dort in den Sinn kam, die Nachfolgepartei der Kommunisten zu verbieten.
Kurz und gut: Eine konservative Wende ist in Europa nicht machbar, solange sich die EVP und deren maßgebliche Parteien wie die CDU/CSU nicht um mindestens 90 Grad wenden und ihren Schmusekurs mit Linksliberalen und Grünen beenden. Die EVP müsste nicht nur nach links, sondern gleichermaßen nach rechts Ausschau halten. Im Interesse ihrer eigenen Nationen müssten ihre Mitgliedsparteien die gemeinsamen Punkte mit jenen Parteien suchen, die halt deshalb rechts von ihnen entstehen konnten, weil den Wählern wichtige Politikfelder unbesetzt blieben.
Ich rechne also nüchtern mit keiner Wende, aber doch mit einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse nach rechts. Beide Formationen rechts der EVP, also die Europäischen Konservativen und Reformer sowie die Fraktion Identität und Demokratie, werden auf jeden Fall erstarken. Dass sie aber eine Mehrheit bilden werden, ist augenblicklich nicht realistisch.
Hiesige Umfragen sehen weiter den Fidesz vorne. Dabei durchlebt die Gesellschaft eine tiefe Krise, wenn wir nur an die galoppierende Inflation denken. Bewältigt die Regierung die Krise denn so gut, oder ist die Opposition so schwach?
Sowohl als auch. Der Ministerpräsident sagte schon 2010, wo es Arbeit gibt, ist alles gegeben. Selbst in der aktuell schwierigen Wirtschaftslage sinkt die Arbeitslosigkeit und erreicht die Beschäftigungsquote immer neue Rekorde. Solange die Menschen über stabile Einkommen verfügen, empfinden sie ihre Lage als weniger dramatisch. Auch dann, wenn die Inflation an ihrem Einkommen nagt. Man sollte zudem nicht vergessen, dass zehn Jahre des stetigen Wachstums vielen Familien erlaubten, Reserven anzulegen. Das hilft ihnen heute, die schwereren Zeiten zu überstehen. Wenn die Prognosen der Wirtschaftspolitiker zutreffen, dann fällt die Inflation am Jahresende in den einstelligen Bereich; dann werden die Reallöhne nicht länger sinken. Nicht das Wetter bringt uns diese Wende, dafür müssen entsprechende politische Entscheidungen getroffen werden. Denken wir nur einmal zurück an die Zeit unter der Gyurcsány-Regierung, als Ungarns Wirtschaft bereits zusammenbrach, noch bevor die Weltwirtschaftskrise ihre Wirkung entfaltete.
Im Übrigen hätte es die Opposition auch dann schwer, eine tragbare Alternative vorzustellen, wenn sie aus glaubwürdigeren und kompetenteren Politikern bestünde. Bis heute ist Ferenc Gyurcsány die Galionsfigur der Opposition, also jener Mann, der einst an der Macht genau das Gegenteil von dem tat, was der Fidesz heute richtig macht, und der die Leute weiterhin glauben machen will, mit ihm an der Regierung würde alles besser. Wenn man sich daneben die „genialen“ Parteichefs der anderen Formationen im Oppositionslager anschaut, dann dürfte das kollektive Gedächtnis der Ungarn, das sich insbesondere in der Routine der 33 Jahre in Demokratie herausbilden konnte, die Wähler warnen, die Macht Verrückten anzuvertrauen. Ich jedenfalls würde der Opposition noch nicht einmal mein Fahrrad anvertrauen…
In Sachen Selbstkritik möchte ich Kanzleramtsminister Gergely Gulyás zitieren, der in der jetzigen Wirtschaftslage von allen mehr Bescheidenheit erwartet, auch von Oligarchen wie Lőrinc Mészáros.
Dieser Ansicht war ich zu jeder Zeit. Nicht, weil sich jemand für sein Geld schämen soll. In einem Land mit der Geschichte Ungarns sollte ein jeder mit Würde und Weisheit tragen, wenn ihm herausragendes Glück oder göttliche Gaben beschieden sind. Selbst wenn das nichts mit der Politik zu tun hat. Was im vorliegenden Fall ja nicht zutrifft. Wer die nötige Prise Intelligenz und Verantwortungsgefühl mitbringt, wird dies leicht einsehen können.
Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.
Das hier gekürzt wiedergegebene Interview erschien ursprünglich Anfang September im konservativen Wochenmagazin Mandiner.
Die NATO ist das Machtinstrument der USA, speziell der Multis, und selbst in Schweden und Finnland unterwerfen sich da anscheinend alle Parteien, so wie sich ganz Europa außer Rußland und Großbritannien einst Napoleon unterworfen haben.