István Hiller, ehemaliger MSZP-Vorsitzender, und Kanzleramtschef Gergely Gulyás. Fotos: Árpád Földházi

Gespräch zwischen István Hiller und Gergely Gulyás

Braucht die Europäische Union eine tiefere Integration?

Wie steht es um Ungarns Konflikte mit Brüssel, wie um die Zukunft der EU? Findet der Erasmus-Skandal eine Auflösung? Über diese und weitere Fragen debattierten der Parlamentsabgeordnete der MSZP, István Hiller, und Kanzleramtsminister Gergely Gulyás.

Bitte definieren Sie sich eingangs ideologisch!

István Hiller (IH): Ich bin ein typischer ungarischer Sozialdemokrat. Ich bin stolz darauf, Ungar zu sein, und genauso stolz bin ich, Sozialdemokrat zu sein. Das möchte ich aber nicht mit ideologischen Phrasen untermauern, sondern mit meinen Ansichten zu einzelnen Fragen von Belang.

Gergely Gulyás (GG): Sich auf ideologischer Basis zu definieren wird in der Politik in der jüngeren Zeit zunehmend schwieriger. Dabei denke ich gar nicht in erster Linie an jene tragikomische Tendenz, die es als natürlich hinstellt, wenn jemand nicht einmal mehr sein eigenes Geschlecht definieren kann. Wie die Deutschen nun in ihrer Rechtsordnung festgeschrieben haben, darf man das jährlich überdenken und nach Belieben korrigieren.

Es mag teilweise der zunehmend komplexeren Welt zuzuschreiben sein, aber bei der Entscheidungsfindung wird die Reinheit der politischen Ideologien immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Heute gibt es eine Reihe sozialdemokratischer Regierungen, die konservative Entscheidungen treffen, und konservative Regierungen wie die unsere, die mit der Politik der gesenkten Energiekosten, Sondersteuern für Banken oder Preisdeckelungen zu traditionell linken Instrumenten greift. Nichtsdestotrotz gilt es derzeit insbesondere in Europa und in gesellschaftlichen Belangen als mutig, sich konservativ zu positionieren. Alles in allem würde ich die ungarische Regierung und ihre Minister dem konservativen Lager zuordnen.

Bei einigen Punkten gab es zwischen dem ehemaligen Vorsitzenden der oppositionellen MSZP, István Hiller (l.), und dem Leiter des Kanzleramts, Gergely Gulyás, sogar einen Konsens.

Ungarn führt zahlreiche Debatten mit der EU und ihren Institutionen. Wie stellt sich die Lage aktuell dar?

GG: Die trockenen Fakten sind, dass es in der EU einen siebenjährigen Haushaltsrahmen gibt, mit riesigen Mitteln der Agrarbeihilfe und in den Kohäsionsfonds. Daneben wurde – als gemeinsame Kreditaufnahme aller Mitgliedstaaten – der Wiederaufbaufonds eingerichtet, um die Corona-Krise zu überwinden. Aktuell fließen uns zudem noch Gelder aus dem vorherigen EU-Finanzrahmen zu. In dieser Hinsicht gibt es ebenso wenig Probleme, wie mit den Agrargeldern des neuen Haushalts. Ein Streit ist um die Kohäsionsgelder des Zeitraums 2021-27 und um den Wiederaufbaufonds entfacht.

Mit dem Zurückhalten der Gelder hat sich die EU-Kommission vom Gemeinschaftsrecht entfernt, indem sie jene Regierungen bestrafen will, die eine konservative Politik verfolgen. Damit werden auch jene Wähler bestraft, die Ungarn auf einem anderen Weg sehen wollen, als Brüssel für richtig hält. Das ist weder mit dem Rechtsstaats- noch mit dem Demokratieprinzip zu vereinbaren. Unsere Debatten mit der Kommission haben absolut nichts mit Korruption zu tun, und ebenso nichts mit der Art, wie die Ungarn die EU-Gelder verteilen. Denn in den strittigen Fragen zur öffentlichen Auftragsvergabe konnten wir uns längst verständigen. Heute geht es um Fragen der Art, ob die sexuelle Aufklärung Sache der Eltern bleiben darf oder ob die Vizepräsidentin der Integritätsbehörde Brüssel denn auch gefällt, nachdem sie gemäß dem von Brüssel vorgeschlagenen Verfahren an ihr Amt gelangte. Ähnlich absurd sind die Unterstellungen, die unser Justizwesen betreffen. Man gewinnt den Eindruck, die andere Seite habe gar nicht die Absicht, strittige Fragen abschließend zu klären.

Leider besitzt Europa heute keine souveräne Führung, die Kommissionspräsidentin ist mit ihrem Amt heillos überfordert. Nach dem Rückzug von Angela Merkel aus der Politik kam in Deutschland eine brüchige Ampel-Koalition zustande, die ideologisch dem anderen Lager zuzuordnen und in der Europapolitik in die Defensive geraten ist. Diese Lücke in der europäischen Diplomatie versucht Frankreich auszufüllen. Die europäischen Leitmedien stellen derweil jeden an den Pranger, der noch irgendwie mit Ungarn kooperiert. Leider positionieren sich die ungarischen Europaabgeordneten der Opposition in diesem Streit gegen unsere Heimat. Sie tun alles dafür, dass die EU-Gelder verspätet oder überhaupt nicht fließen, als wollten sie nicht, dass wir den Lehrern ihre Bezüge erhöhen.

Wie sehen Sie das, Herr Hiller?

IH: Ich würde die Frage von der anderen Seite beleuchten. Ungeachtet aller Probleme bin ich ausgesprochen froh und stolz, dass meine Heimat Mitglied der Europäischen Union ist. Erlauben Sie mir ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn wir heute über den EU-Beitritt des Landes abstimmen müssten? Ich würde nicht nur mit Ja stimmen, sondern auch alle Mitbürger dazu aufrufen. Wer die Geschichte unserer Nation kennt, weiß, dass ihr die westliche Integration stets zum Vorteil gereichte. Sobald wir uns abseits befanden, wollten uns andere einverleiben. Ich halte all die Gedanken von einem dritten Weg für realitätsferne Träumereien. Es gibt keinen dritten Weg. Ich bin voller Inbrunst für unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Die Meinungsverschiedenheit zwischen uns besteht darin, dass ich diese Frage nicht allein aus dem finanziellen Blickwinkel betrachte. Ich bin nicht für die EU, weil von dort Geld fließt. Ob sich die Mitgliedschaft finanziell lohnt? Das lässt sich nicht in Euro messen. Bedenken wir doch nur, was wäre, wenn wir nicht zur EU gehörten. Alle anderen Fragen sind da zweitrangig. Sie sind an der Regierung, kümmern Sie sich! Ich hätte auch gerne, dass Ungarn möglichst viele Gelder absorbieren kann, aber es springt einem doch ins Auge, dass die Kommission mit 25 von 27 Mitgliedstaaten überhaupt keine Probleme hat, sondern alleine mit uns und den Polen! Man kann gerne behaupten, all diese 25 Länder gehen in die falsche Richtung, aber das ist doch keine befriedigende Antwort.

„Das ungarische Bildungswesen ist heute nicht besser, als es 2010 war, im Gegenteil.“

Dass wir gegen den Fluss der EU-Gelder sein sollen, weise ich jedenfalls entschieden zurück. Sie regieren nun im 13. Jahr mit Zweidrittelmehrheit. Was hat die Regierung denn bislang daran gehindert, beispielsweise die Gehälter der Pädagogen anzuheben? Es gab doch reichlich Jahre, als die Wirtschaft prosperierte und Geld zur Genüge vorhanden war. Sich nach drei Krisenjahren hinzustellen und die Frage der unzufriedenen Pädagogen an der Opposition festzumachen, ist eine Argumentation, die dem intellektuellen Niveau des Herrn Ministers nicht angemessen ist.

GG: Lassen Sie mich dazu anmerken, dass die MSZP die Verantwortung der Linken für das Zurückhalten der EU-Gelder nur deshalb nicht teilen muss, weil sie keinen einzigen Europaabgeordneten mehr stellt. Sie können doch nicht bestreiten, dass die Vertreter der ungarischen Linken im Europäischen Parlament beziehungsweise deren Fraktionen für jene Beschlüsse gestimmt haben, die verhindern, dass wir die uns zustehenden Gelder erhalten. Die Anhebung der Bezüge der Pädagogen hängt vom Fluss der EU-Gelder ab. Wir haben diese aus eigener Kraft erhöht, möchten aber noch mehr geben.

Wir sind uns einig, dass auch ich stolz auf unsere Mitgliedschaft in der Gemeinschaft bin. Aber ich kann nicht stolz darauf sein, in welchem Zustand sich die Europäische Union heute befindet. Was sie repräsentiert, wie sie funktioniert, indem das Primat des Rechts negiert wird und den Mitgliedstaaten Befugnisse entzogen werden, die in den Grundlagenverträgen niedergelegt wurden. Das sind schädliche Prozesse. Ganz zu schweigen von den Debatten um die Werteordnung.

„Es gibt keine europäische Identität als solche. Europäer kann jemand sein, der Pole, Holländer oder Ungar ist.“

Wir sind ebenso einer Meinung, dass die bereits in Wendezeiten formulierten Zielstellungen wie der Beitritt zu NATO und EU richtig waren. Ich kann selbst in der Hinsicht zustimmen, dass wir nicht entscheidend von den EU-Geldern abhängen, die im Übrigen nur 1,4 Prozent des ungarischen Bruttoinlands­produkts (BIP) ausmachen. Dennoch möchte ich auf den Aspekt verweisen, dass es heute zwei im Charakter sehr konservative Regierungen in Europa gibt, in Polen und in Ungarn. Ist es denn ein Zufall, dass ausgerechnet diese beiden Länder attackiert werden, obwohl wir im vergangenen Jahrzehnt in Bezug auf Wachstum und steigende Wohlfahrt innerhalb der EU herausragend abschneiden konnten? Nur dass wir nicht gewillt sind, unsere Gesellschaft so zu organisieren, wie Brüssel das erwarten will.

Und noch ein Wort zu den Lehrergehältern. Nach 2010 begannen wir ausgerechnet bei den Lehrern mit einer großen Korrektur, das damals entwickelte Karrieremodell galt als vorbildlich. Die heutigen Lohnforderungen sind dessen ungeachtet gerechtfertigt, weil die Löhne in Ungarns Wirtschaft seit 2015 enorm gestiegen sind – da blieben die Lehrer zurück. Wir glauben dennoch, die Lehrer können unsere Offerte akzeptieren, die ihnen binnen zwei Jahren Bruttobezüge um 800.000 Forint verspricht. Bis 2030 sollen diese Bezüge sogar achtzig Prozent des Durchschnittsgehalts von Akademikern erreichen.

IH: Das sind alles Fakten, die mit der Realität überhaupt nichts gemein haben. In der Tat wurde ein Karrieremodell entwickelt, das jedoch schlecht war. So floss das Geld in ein fachlich schlechtes System, weshalb jeder fachliche Nutzen ausblieb. Das ungarische Bildungswesen ist heute nicht besser, als es 2010 war, im Gegenteil. Die Regierung besitzt keine fachliche Konzeption, weder wurde die Qualität angehoben, noch der Beruf des Lehrers attraktiver gemacht. Schließlich sanken die Reallöhne sogar. Warum müssen ausgerechnet die Bezüge der Lehrer an den Ausgang der EU-Verhandlungen geknüpft werden? Bei den Ärzten wurden die steigenden Bezüge doch auch aus dem ungarischen Haushalt finanziert. Warum muss der Staat Vodafone kaufen, noch bevor die Forderungen der Lehrer erhört werden?

GG: Danke für das Argument mit Vodafone. In dem Zusammenhang beginne ich zu begreifen, warum die sozialistischen Regierungen nie auch nur ein Defizitziel einhalten konnten, und warum die Staatsschulden in ihren achten Jahren von 52 auf 83 Prozent am BIP zunahmen. Das passiert, wenn man Äpfel mit Birnen vergleicht. Natürlich kann man diskutieren, ob es im nationalen Interesse und speziell im nationalen Sicherheitsinteresse liegt, in der Telekommunikationssparte über bedeutende Positionen im nationalen Eigentum zu verfügen. Ich denke, dieses Interesse ist gegeben. Man kann aber den Erwerb einer Beteiligung, die jederzeit wieder veräußert werden kann, bis dahin aber Jahr für Jahr Gewinne abwirft, nicht mit so wichtigen und notwendigen Kostenpunkten wie den Lohnerhöhungen von Pädagogen vergleichen, die im Staatshaushalt auf der Ausgabenseite erscheinen.

Was das Bildungswesen anbelangt, haben wir enorme Erfolge beispielsweise auf dem Gebiet der Berufsausbildung erzielt. Die Einführung der dualen Ausbildung hat einen enormen Anteil daran, dass wir seit Jahren immer neue Rekorde bei den Auslandsinvestitionen verbuchen können. Beim Modellwechsel der Hochschulen halten wir es für mehr als richtig, dass diese Einrichtungen durch vom Staat unabhängige Kuratorien gelenkt werden. Das trägt dazu bei, in den internationalen Ranglisten vorzurücken, denn heute stehen die ungarischen Hochschulen nicht mehr miteinander im Wettbewerb um die Studenten, sondern auf europäischer Ebene.

Am schwierigsten gestaltet sich in der Tat die Schulbildung, doch auch dort sehe ich viele Fortschritte. Die staatliche Trägerschaft beseitigt regionale Unterschiede in der Finanzierung. Es gibt heute deutlich mehr kirchliche Schulen. Natürlich ist es auch eine materielle Frage, den Lehrerberuf attraktiver zu machen. Als wir 2012 das neue Karrieremodell entwarfen und die Löhne deutlich anhoben, gab es einen Sprung bei den Bewerbern für Geisteswissenschaften.

Wie steht es um das Erasmus-Programm, hat sich die Lage wieder beruhigt?

GG: Bis Mitte Februar haben sämtliche Regierungsvertreter die Kuratorien der Trägerstiftungen verlassen. Nun ist es müßig, darüber zu streiten, ob zu viele staatliche Leiter in den Kuratorien saßen. Tatsächlich hat die EU damit rein gar nichts zu tun.

IH: Diese Debatte handelt von weitaus mehr. Als ob es nur zwei Standpunkte geben würde, wonach entweder Ungarns Regierung oder Brüssel im Recht sein muss. Diese Schwarz-Weiß-Malerei führt nirgendwohin. Natürlich muss eine Passage geändert werden, die es zulässt, dass jemand auf Lebenszeit in ein Kuratorium berufen werden kann. Das macht doch keinen Sinn! Auch die von der Regierung bemühten internationalen Vergleiche hinken. In anderen Ländern sitzen nämlich amtierende (!) Minister oder Bürgermeister in den Kuratorien, also nur für ihre jeweilige Legislaturperiode und nicht etwa auf Lebenszeit. Was mich aber weit mehr interessiert, ist das Niveau unseres Hochschulwesens.

István Hiller wurde 1964 in Sopron geboren, er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er studierte an der ELTE-Universität Geschichte und Latein und erwarb 1996 den Doktortitel (PhD). Er war Gründungsmitglied der MSZP und trat 2002 als politischer Staatssekretär des Bildungsministeriums in die Regierung ein. Zwischen 2003 und 2006 war er Kulturminister, von 2006 bis 2010 leitete er das Ministerium für Bildung und Kultur. Von 2004 bis 2007 war er außerdem Parteichef, ab 2014 Vizepräsident des Parlaments. Auch heute sitzt Hiller für die MSZP im Parlament und ist Vorsitzender ihres Wahlausschusses.

Welche fachlichen Garantien sind gegeben, dass diese Stiftungsstrukturen das Niveau anheben? Keine! Für die Kuratorien mit dem Hinweis zu plädieren, in den umliegenden Ländern würden staatliche Universitäten keine Ergebnisse vorweisen können, zeigt nur die fehlende Kenntnis der Fakten. Zahlreiche staatliche Universitäten im Umland schneiden international hervorragend ab. Die großen, breit aufgestellten Universitäten dürfen erst recht nicht der staatlichen Obhut entzogen werden. Wie kann es sein, dass die Unis Szeged, Pécs und Debrecen nicht mehr dem ungarischen Staat gehören? Das werde ich nicht akzeptieren!

GG: Es ist ein falscher Ansatz, hier wären Privathochschulen entstanden. Diese Einrichtungen dienen – nur halt in Stiftungsform – auch weiterhin der Allgemeinheit. Der Staat hat unverändert das Recht zu Regulierung und Beaufsichtigung. Wir haben ein Modell eingeführt, dass die Finanzierung unter Bewahrung der staatlichen Kontrollmechanismen an strenge staatliche Auflagen bindet, während den Kuratorien der Trägerstiftungen die Leitung der Universitäten anvertraut wird. In diesem System kann das Hochschulwesen bei weitem erfolgreicher funktionieren.

Zurück zur EU! Die Opposition ist auch in der Frage gespalten, ob die Gemeinschaft den richtigen Weg einschlägt. Während die DK für die Vereinigten Staaten von Europa wirbt, wollen andere an den Nationalstaaten festhalten. Zur gleichen Zeit erschüttert die EU-Institutionen der größte Korruptionsskandal ihrer Geschichte. Wie sehen Sie die Zukunft der EU?

IH: Wir durchleben furchtbare Jahre. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Europa nichts Vergleichbares wie in den letzten drei Jahren mehr durchzustehen. Erst war da die Corona-Pandemie, und als wir dachten, es ist vorbei, brach der Krieg aus. Ich gebe gerne zu, dass es eine gewaltige Last ist, in solchen Zeiten zu regieren, bei uns wie überall in Europa.

Was den EU-Korruptionsskandal betrifft, erwarte ich effiziente Ermittlungen und harte Strafen, sofern sich die Anschuldigungen bewahrheiten. Das aber kann nicht als Vorwand für die ausufernde Korruption in Ungarn gelten. Es wird bei uns nicht davon besser, wenn wir zeigen, dass es auch in der EU Korruption gibt.

Mit Blick auf die Zukunft der Gemeinschaft sehe ich auf absehbare Zeit keine realistischen Erweiterungsszenarien. Eher schon könnte diese Gemeinschaft nach Pandemie und Wirtschaftskrise, im Angesicht des nahen Krieges enger zusammenrücken. Aber ich glaube nicht, nur weil es ein seit langem erfolgreiches Konglomerat namens USA gibt, dass Europa diesem nachahmen müsse. Uns Europäer verbindet viel mehr, als Nichteuropäer mit Europäern verbindet. Ich glaube nicht an Muster und Allheilsrezepte. Ich glaube daran, dass die europäischen Länder und Nationen eine tiefere Integration benötigen. Diese Gemeinschaft besitzt mehr Potenzial, um die Dinge qualitativ besser zu machen.

GG: Ich stimme praktisch in allen Punkten zu, nur nicht darin, dass wir eine noch weitergehende, tiefere Integra­tion brauchen. Im Vertrag von Lissabon ging man bis an die Grenzen. Aber die EU-Institutionen halten sich nicht daran, was zu beunruhigenden Prozessen führt. Weil man aus politischer Vernunft weiß, dass keine Chancen für eine Modifizierung der Grundlagenverträge bestehen, wurde damit begonnen, sich Befugnisse insgeheim oder erpresserisch zuzuschanzen. Das ist ein gefährlicher und schädlicher Prozess, mit dem die Rechtsstaatlichkeit brutal ausgehöhlt wird.

Es gibt keine europäische Identität als solche. Europäer kann jemand sein, der Pole, Holländer oder Ungar ist. Wenn man sich die Wahlen zum Europäischen Parlament anschaut, kann niemand der Illusion verfallen, hier fände eine europäische Wahl statt. Nicht das Verhältnis der Bürger zu den europäischen Debatten entscheidet diese Wahlen; sie sind ein Spiegelbild der innenpolitischen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten.

Gergely Gulyás wurde 1981 in Buda­pest geboren. Er absolvierte ein Jurastudium an der Katholischen Universität „Péter Pázmány“. Seit 2001 gehört er dem Fidesz an, seit 2010 ist er Parlamentsabgeordneter. Als Stellvertretender Vorsitzender des Sonderausschusses hatte er großen Anteil an der Vorbereitung der neuen Verfassung. Von 2015 bis 2019 war er Partei-Vize des Fidesz, für kurze Zeit parallel auch Fraktionschef. Zwischen Mai 2014 und Ende 2017 war Gulyás als Vizepräsident des Parlaments sowie als Vorsitzender des Gesetzgebungsausschusses tätig. Seit den Wahlen vom Mai 2018 leitet er das Ministerpräsidentenamt.

2024 stehen Europawahlen an. In welchen Formationen werden die Parteien antreten und mit welchem Ausgang rechnen Sie?

GG: Der Fidesz tritt zusammen mit der KDNP an.

IH: Ich hoffe auf deutlich mehr Mandate, als wir heute haben. Das ist kein ehrgeiziges Ziel. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die Lage der Opposition zu analysieren und zu erörtern, wer wie antreten will.

Was geht im Oppositionslager vor? Von der Gemeinsamen Liste nehmen die Parteien gerade wieder Abstand. Die DK hat eine Schatten-Regierung gebildet und strebt die führende Rolle an.

IH: Ein politisches Gebilde, dass vier Mal hintereinander so hoch verliert, dass der Rivale mit Zweidrittelmehrheit gewinnt, befindet sich ganz sicher nicht in einem guten Zustand. Die sozialdemokratischen Werte werden in Ungarn auf jeden Fall von meiner Partei vertreten. Ich bin überzeugt, dass eine starke sozialdemokratische Partei im Interesse des ganzen Landes ist. Dafür engagiere ich mich.

Die MSZP hat zahlreiche Kommunalpolitiker, die auf lokaler Ebene populärer sind, als die Opposition im Allgemeinen. Fachpolitisch verfügen wir im ganzen Oppositionslager weiterhin über das größte Know-how. Deshalb konzentrieren wir uns auf die Kommunalwahlen, bei denen wir eine Reihe von Kandidaten für die Bürgermeisterämter ins Rennen schicken wollen.

Wie die Kooperation der Oppositionsparteien aussehen wird, kann ich heute noch nicht sagen. Was ich aber sehe: Wir hatten Recht, dass wir nur dann eine Chance gegen das Regierungslager haben, wenn wir überall jeweils nur einen Gegenkandidaten ins Rennen schicken. Nur weil wir 2022 eine Niederlage erlitten, ist diese Grundannahme noch nicht widerlegt.

GG: Ich glaube nicht, dass die Politik ein Kampf auf Leben und Tod sein muss. Freilich gibt es Ausnahmen. Was Ferenc Gyurcsány dieser Nation und diesem Land angetan hat, lässt sich nicht verzeihen. Zumal er vor nichts zurückschreckt, um die Macht zu erlangen. Ich sehe es wie Parlamentspräsident László Kövér, der im Gedenken an den Sturm auf das Fernsehgebäude 2006 meinte: Gyurcsány besuchte damals die verletzten Polizisten im Krankenhaus, aber am liebsten hätte er sie auf dem Friedhof aufgesucht, weil das seine Chancen erhöht hätte, sich an der Macht zu halten. Die MSZP beging den größten Fehler vor den Wahlen von 2014. Statt den Ex-Ministerpräsidenten abzuweisen, der neben dem Land speziell die sozialistische Partei ruiniert hatte, bot man ihm auf einer gemeinsamen Liste eine Zuflucht.

IH: Ferenc Gyurcsány sitzt als gewählter Abgeordneter im Parlament. Eine Schatten-Regierung könnte ein gutes politisches Instrument sein. Ich glaube aber nicht an eine Schatten-Regierung, die von einer einzigen Partei gestellt wird.

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