Bauminister
Bau – und Verkehrsminister János Lázár: "Wir brauchen einen protestantischeren, kaufmännisch agierenden Staat." Fotos: Árpád Földházi

Interview mit Bau- und Verkehrsminister János Lázár

„Meine Tür steht jedem offen“

"Wenn wir ständig nur die Lebensqualität der Budapester verbessern wollen, während in der Provinz absolut unerlässliche Investitionen ausbleiben, dann spalten wir das Land."

Davon ist jedenfalls János Lázár überzeugt, der als Bauminister einen drastischen Investitionsstopp verhängen musste und als Verkehrsminister eine marode Infrastruktur erbte. Im Interview erklärt er, was es braucht, um eine bessere Zukunft zu schaffen.

 

Sie hielten – nach eigener Formulierung – vier Jahre Silentium, dann meldeten Sie sich in der großen Politik zurück. Sind Sie nun zufrieden, als Bau- und Verkehrsminister in der fünften Orbán-Regierung zu Wort zu kommen?

Wenn die politische Gemeinschaft, der ich mich zugehörig fühle, Anspruch auf meine Dienste anmeldet, kann ich nicht wählerisch sein. Viktor Orbán hatte gleich mehrere Ideen, wie ich die Regierungsarbeit unterstützen könnte. Ich möchte nicht Teil des Problems, sondern der Lösung sein.

Es gab Gerüchte, Sie hätten am liebsten die Regionalentwicklung gesteuert.

Ich finde es schmeichelnd, dass mir gewöhnlich besonders komplexe Aufgaben anvertraut werden. Bau- und Verkehrswesen sind durch Krieg und Wirtschaftskrise besonders stark in Mitleidenschaft gezogen. Investitionen der öffentlichen Hand sind immer ein heikles Thema, denn es geht um sehr viel Geld. Obendrein musste ich wegen der Krise Projekte im Gesamtvolumen von 3.000 Mrd. Forint stoppen.

Sie äußerten, staatliche Investitionen müssten fortan „nach schwäbischer Art“ gesteuert werden. Was verstehen Sie darunter?

Die Aufgabe lautet, aus weniger mehr zu machen. Unsere Finanzquellen sind nicht unerschöpflich, in diesem externen Umfeld muss jeder Forint gut angelegt sein. Die Gesellschaft lebt mit dem Anspruch, so schnell wie möglich zu Europa aufzuschließen. Politisch, wirtschaftlich und sozial wollen wir Ungarn zu einem tonangebenden Akteur im Europa südlich der Karpaten machen. Es war ein Irrtum, 2018 oder auch 2022 zu glauben, das Land sei schon „bereit“, denn es bedarf auch weiterhin jeder Menge Investitionen für öffentliche und wirtschaftliche Zwecke.

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„Mein politisches Credo lautet, dass man beim Gang über die Grenze nach Österreich keinen Unterschied bemerken soll.“

Dabei führt kein Weg am Staat vorbei. Im Gegensatz zu Nationen, die sich von unten kommend organisch, friedlich und mit privat finanzierten Projekten entwickeln konnten, diktierte bei uns die Geschichte das Tempo. Um mithalten zu können, brauchte es den Staat. Allein seit 2010 flossen 28.000 Mrd. Forint öffentlicher Gelder in Investitionen. Der Anteil der öffentlichen Hand ist mit dreißig Prozent in Ungarn so hoch wie in keinem anderen EU-Land.

Besteht da nicht die Gefahr, dass sich die Wirtschaftsakteure an diesen Geldfluss gewöhnen?

Solche Relationen können nur vorüber­gehend als gesund betrachtet werden. Im Normalfall müsste die Wirtschaft imstande sein, diese Mittel selbst bereitzustellen. Ungarn ist jedoch mit einem Handicap angetreten und versucht seit der Wende, einen über Jahrhunderte angehäuften Rückstand aufzuholen. Mein politisches Credo lautet, dass man beim Gang über die Grenze nach Österreich keinen Unterschied bemerken soll. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Im Moment müssen wir das Geld streng zusammenhalten. Viele Projekte, die eine enorme Belastung für die Steuerzahler darstellen, wurden hintenangestellt. Industrieprojekte dürfen derweil keinen Abbruch erleiden, denn im Gegensatz zu Sport oder Kultur können wir damit Geld generieren.

Die Schieflage des Staatshaushalts führte im vorigen Sommer zu besagtem Investitionsstopp.

Nach Kriegsausbruch schossen die Energiepreise in die Höhe, die Wirtschaftslage wurde kritisch. Wir mussten alles stoppen, was irgendwie ging. Dabei stellt sich die Frage, wie wir auch ohne „Doping“ in diesem veränderten Umfeld die nächsten 15 Punkte zum europäischen Lebensstandard aufholen, nachdem Ungarn seit 2010 von 60 auf 75 Prozent vorrücken konnte.

Wie hilft dabei das neue Investitionsgesetz?

Wir sorgen mit dieser Rechtsnorm grundsätzlich für Ordnung. Man darf das Land nicht mit erhöhtem Pulsschlag modernisieren, das muss ausgewogener, abgeklärter geschehen. Alle Investitionen für das Gemeinwohl müssen auf den wirklichen gesellschaftlichen Bedarf abgestimmt sein. Die Ausführung muss nicht nur ästhetisch sein, sondern auch nachhaltig und umweltfreundlich. Ich weiß, dass in unserer von Eitelkeit geprägten Gesellschaft Statussymbole und Prestige zählen. Aber wir brauchen einen protestantischeren, kaufmännisch agierenden Staat.

JÁNOS LÁZÁR wurde 1975 in Hódmezővásárhely geboren, er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Sein Jurastudium absolvierte er an der Universität Szeged. Von 2002 an war Lázár ein Jahrzehnt lang Oberbürgermeister von Hódmezővásárhely und saß gleichzeitig für den Fidesz im Parlament. Von 2010 bis 2012 leitete er die Fraktion des Fidesz, bevor er 2012 als Staatssekretär des Ministerpräsidentenamtes in die Regierung wechselte. In der Legislaturperiode 2018-22 war er Kanzleramtsminister. Nach seinem Abschied von der Landespolitik kehrte Lázár 2020 zunächst als Regierungsbeauftragter für das Tram-Train-Projekt zurück, das Szeged mit Hódmezővásárhely verbindet. In der fünften Orbán-Regierung wurde er 2022 zum Bau- und Verkehrsminister berufen.

Auf einer Liste von Großprojekten sollen Sie klare Ansagen zu manchen Vorhaben in und um die Hauptstadt gemacht haben, wie ein „Nein! Niemals!“ Was ist Ihr Problem?

So wie das ganze Land ist sich auch der Fidesz uneins über die künftige Rolle der Provinz. Ich habe schon früher deklariert, dass für mich das Land Vorrang vor der Hauptstadt hat. Tatsache ist, dass 65-70 Prozent der staatlichen Entwicklungsgelder seit 2010 nach Budapest geflossen sind. Daraufhin erreicht die Hauptstadt heute 150 Prozent des EU-Standards, was natürlich erfreulich ist. Ich gehöre jedoch zu jenen Fidesz-Politikern, die zwar Budapest als Regionalzentrum stärken, gleichzeitig aber auch die Überholspur für das Land öffnen wollen.

Gleich wer im Budapester Rathaus regiert, hält man dort dagegen, dass ein Gros des Sozialprodukts in der Hauptstadt entsteht.

Dieses Ungleichgewicht spricht ja gerade für den ländlichen Raum. Wir können uns als Volkswirtschaft nicht auf ewig damit zufrieden geben, das Potenzial einer einzigen, der zentralen Region auszuschöpfen. Niemand kann Interesse daran haben, dass die Landflucht anhält und zu einer gesellschaftlich ungewollten Urbanisierung führt. Damit stellen wir uns nicht gegen Budapest, sondern an die Seite der Provinz.

Es gibt demographische und Entwicklungsdefizite südlich der Linie Zala­egerszeg-Békéscsaba und östlich der Linie Békéscsaba-Nyíregyháza. Städte wie Miskolc, Debrecen, Nyíregyháza, Győr, Székesfehérvár, Veszprém, Szombathely oder Zalaegerszeg haben sich inzwischen wiederum zu Zentren von Industrie und Wirtschaft entwickelt. Kecskemét, Szolnok, Salgótarján, Tatabánya und Komárom bilden dynamische Außenposten rund um die Hauptstadt. Wir dürfen das Land nicht spalten, indem wir ständig die Lebensqualität in Budapest zum Maß aller Dinge machen.

Haben Sie die neuen Prioritäten auch dem Budapester Oberbürgermeister Gergely Karácsony erklären können?

Wir haben uns im November ausgetauscht. Natürlich halten wir die früher gegebenen Versprechen ein, natürlich soll das Leben der Budapester noch besser werden. So werden die S-Bahnen modernisiert und kommt die Südliche Ringbahn. Aber angesichts der globalen Krisen ist jetzt nicht die Zeit, um den West- und den Südbahnhof mit einem Tunnel unter der Donau zu verbinden.

Ich strebe wie mit dem Oberbürgermeister lieber das persönliche Gespräch an, als sich in der Öffentlichkeit zu fetzen. Zumal unsere Entscheidungen die Interessen gewaltiger Lobbygruppen berühren. In diesem Sinne steht meine Tür wirklich allen Politikern offen. So auch den Bürgermeistern der Komi­tatsstädte, denen ich gerade das Ende des Programms „Moderne Städte“ beibringen muss.

Haben wir richtig gehört, das Programm „Moderne Städte“ findet ein Ende?

Es sind sieben Jahre ins Land gegangen. Projekte, die seither nicht auf den Weg gebracht werden konnten, haben wohl keine wahre Existenzberechtigung. Es geht wie in Budapest um einen normalen Gedankenaustausch, mit Arbeitsgruppen, die sich regelmäßig abstimmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es Bürger zweiter Klasse gibt. Schlimm genug, dass eine EU der zwei Geschwindigkeiten, mit einem Kerneuropa und der Peripherie, offen angestrebt wird. So einen Politikstil sollten wir hier in Ungarn nicht nachahmen.

Für Sie nicht eben zweitrangig dürfte bei diesen Überlegungen sein, dass der Fidesz die Masse seiner Wähler auf dem Lande weiß.

Na klar, aber das ist sekundär, wenn man die himmelschreienden Unterschiede sieht. Ich möchte mein Ministerium für Lobbygruppen öffnen. Wir brauchen nicht länger Geheimtreffen in Cafés, jeder soll ganz transparent seine Anliegen vorbringen können. Das ist nicht nur fairer, es ist auch beruhigender für die Steuerzahler.

Sieh einer an. Wird die Presse am Ende etwa ausgerechnet bei Ihrem Ministerium dem sonst so medienscheuen Lőrinc Mészáros über den Weg laufen?

Wir haben nichts zu verheimlichen. Ich bin stolz darauf, wie wir das ungarische Kapital im Bauwesen schon in den letzten zwölf Jahren stärken konnten. Heute bauen ungarische Unternehmen in europäischer Qualität Straßen und Schienenwege. Wenn der Staat Geld gibt, muss ein Aspekt lauten, dass Ungarn von der Arbeit der Landsleute profitiert. Wir stehen für eine patriotische Wirtschaftspolitik. Wettbewerb ist unabdingbar, aber wo es geht, sollen die Projekte an erfolgreiche einheimische Unternehmer vergeben werden. Es ist gut zu sehen, dass eine breite Unternehmerschicht entstanden ist und dass im Bauwesen 370.000 Menschen Beschäftigung finden. In dieser Branche hat das ungarische Kapital inzwischen die Mehrheit.

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„Wir stehen für eine patriotische Wirtschaftspolitik. Wettbewerb ist unabdingbar, aber wo es geht, sollen die Projekte an erfolgreiche einheimische Unternehmer vergeben werden.“

Aber wenn Sie jetzt aus Kostengründen zahlreiche Projekte stoppen müssen, was hält die Bauarbeiter davon ab, ihr Glück erneut im Ausland zu suchen?

Wir müssen vorsichtig agieren, um durch den Investitionsstopp keine negativen Auswirkungen für den kompletten Sektor auszulösen. Ohne jegliche staatlichen Projekte würden 50.000 Ungarn sofort ihr Heil auf Baustellen in Deutschland oder Österreich suchen. Das kann niemand wollen, also müssen wir bestimmte Kapazitäten bewahren. Dafür bieten sich Industrieprojekte zur Errichtung neuer Werkhallen an.

Man könnte auch sagen, das Bauwesen wurde unnatürlich aufgeblasen. Die Krise sorgt nur für eine Bereinigung.

Mit unserem Gesetz über die Ordnung staatlicher Investitionen wollen wir genau an dieser Stelle ansetzen. Das System der öffentlichen Beschaffung wird erneuert, um im öffentlichen Interesse den Wettbewerb zu stärken und korrekte Gewinnmargen zu garantieren. Wir geben dem Prozess eine breite gesellschaftliche Basis. Jene Baufirmen, die im echten Wettbewerb mithalten können, sollen eine Zukunft haben. Alle sollten zur Kenntnis nehmen, dass der Staat intensiver als früher für die öffentlichen Interessen eintreten wird.

Als wir 2010 die Regierungsverantwortung übernahmen, beherrschten große ausländische Konzerne die Segmente des Schienen-, Straßen- und des Hochbaus. Wir haben diese Marktverhältnisse bewusst korrigiert, um einheimische Akteure in Stellung zu bringen. Nun brauchen wir eine neue Philosophie, die uns hilft, die nächste Stufe zu erklimmen.

Sie haben wiederholt angedeutet, dass auch die Baustoffindustrie an die Reihe kommen soll. Wie wollen Sie da Veränderungen erreichen?

Wir leben in einer globalisierten und multikulturellen Welt. Doch selbst unter dem Druck der europäischen Integration sucht diese Regierung nach Möglichkeiten, einheimische Wirtschaftsakteure ins Spiel zu bringen. Bestimmte Wirtschaftszweige haben ausländische Gesellschaften längst unter sich aufgeteilt, da ist praktisch nichts mehr zu machen. Das Bauwesen gehört aber nicht dazu. Selbst in diesen Krisenzeiten stellt der Staat 5.000 Mrd. Forint für Investitionen bereit. Nur werden diese zu achtzig Prozent aus ausländischen Grundstoffen realisiert. Hier müssen wir mit staatlichen Mitteln ansetzen, um grundlegende Veränderungen herbeizuführen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass EU-Projekte lange Zeit durch westliche Firmen, finanziert durch westliche Banken und aus westlichen Grundstoffen verwirklicht wurden. Wenigstens teilweise konnten wir in diese Prozesse eingreifen. Es gibt polnische Kalkulationen, wonach achtzig Prozent der EU-Gelder in Mitteleuropa lediglich „durchflossen“ und für wachsende Profite westlicher Unternehmen sorgten. Mit der Erweiterung des AKW Paks stehen wir vor der größten Bauinvestition. Dort werden gigantische Mengen an Zement benötigt, während sich kein einziges Zementwerk in ungarischer Hand befindet. Selbst Firmen, die einfachste Grundstoffe herstellen, und ebenso die Baustoffhändler befinden sich überwiegend in deutschem und französischem Eigentum. Wir müssen handeln, wenn wir nicht wollen, dass ein großer Teil der Gewinne, die bei staatlichen Projekten anfallen, weiterhin in den Westen abfließt.

Sie haben Paks angesprochen, als wäre es eine Goldgrube. Warum erleben wir dann so vehementen Widerstand aus dem Westen gegen das Projekt?

Da vermengen sich die Interessenlagen. Wären die Anteile der Amerikaner oder der Franzosen höher, würden die Proteste weniger lautstark artikuliert. Das zweite Großprojekt ist die für 2,2 Mrd. USD anstehende Modernisierung der Eisenbahnlinie Budapest-Belgrad. Wären daran westliche Firmen beteiligt, dann würde auch Brüssel das Projekt fördern. Es gibt keinen größeren Lobbyisten und Handelsvertreter der westlichen Wirtschaftsinteressen, als die EU-Kommission. Die Einführung der freien Marktwirtschaft bedeutete, dass wir unsere Märkte in der Region, alle Betriebe und Aufträge dem Westen überlassen sollten. Diesem Druck versuchen wir etwas entgegenzusetzen. Das darf aber nicht zu Lasten der Qualität gehen! Es reicht nicht aus, Ungar zu sein, man muss auch wirklich gut auf seinem Gebiet sein. Die heimische Bauindustrie muss zeigen, ob sie dieser Herausforderung gewachsen ist.

In der Baubranche kommen auch immer mehr Chinesen und Türken zum Zuge. Sind das Schattenseiten der Ostöffnung?

Der ungarische Staat fördert die deutsche Automobilindustrie und deren Zulieferer. Diese Unternehmen stützen sich jedoch mit Vorliebe und wegen der Rentabilität auf türkische oder chinesische Subunternehmer. Hier mangelt es den Ungarn noch an Wettbewerbsfähigkeit, ob beim Automatisierungsgrad oder bei der Kosteneffizienz. Es muss ein Umdenken stattfinden: Wer allein von staatlichen Aufträgen leben will und am Markt nicht bestehen kann, wird ernsthafte Schwierigkeiten bekommen. Wir brauchen Baufirmen, die auch ohne den Staat lebensfähig sind.

Apropos Chinesen, was glauben Sie, warum die Gigafabrik von CATL in Debrecen so viel Widerstand auslöst?

Auch in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern entstehen Gigafabriken. Es muss wohl ein Kommunikationsproblem sein. Dabei gelten hierzulande noch strengere Umweltnormen, als im EU-Durchschnitt, der Staat ist angehalten, die Interessen der Anwohner zu schützen. Jeder hat das Recht auf ein gesundes Wohnumfeld.

Was die entstehende Batteriezellfertigung in Debrecen betrifft, müssen wir einsehen: Wenn schon die ungarische Automobilindustrie den Wandel zur Elektro­mobilität vollziehen muss, dann kann der Batteriebedarf nicht ungestillt bleiben. Um unsere Position am Weltmarkt zu halten, müssen wir in diesem Standortwettbewerb mitmischen. Das gebietet unser nationales Interesse. Ich weiß, dass es immer mit Reibungen einhergeht, wenn große neue Werke entstehen. Wir müssen das Gespräch mit den Betroffenen suchen, denn diese Regierung will die Argumente nicht unterdrücken, sondern entkräften, indem zufriedenstellende Kompromisse gefunden werden.

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„Die Einführung der freien Marktwirtschaft bedeutete, dass wir unsere Märkte in der Region, alle Betriebe und Aufträge dem Westen überlassen sollten.“

Bei der Ausgestaltung des neuen Baugesetzes prägten Sie einen Leitsatz, wonach „das Alte immer schöner und besser ist, als das Neue“. Ist das so einfach?

Nein, das ist nur mein persönlicher Geschmack, den ich aber niemandem aufzwingen will. Innerhalb eines vorgegebenen Rahmens baut jeder, was er will. Ich bin halt ein Konservativer, der die Bewahrung alter Gebäude als mindestens genauso wichtig empfindet, wie das Errichten zeitgenössischer Bauten.

Den Budapester MOL-Tower haben Sie noch als Kanzleramtsminister scharf kritisiert.

Da ist ein Schandfleck inmitten der Hauptstadt entstanden. Ich habe alles getan, um diesen Bau zu verhindern, aber ich bin gescheitert. Mein Ansatz für ein lebens- und liebenswertes Budapest richtet sich gegen Wolkenkratzer. Aber wenn es denn sein musste, warum begnügt man sich mit Mittelmaß, warum wird es keine Weltsensation, wie das neue Ethno­graphische Museum oder das Haus der Ungarischen Musik? Diese Bauten werden zurecht in aller Welt bewundert. Wir sollten zur Qualität der Epoche vor dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren, dem gutbürgerlichen Geschmack zur Geltung verhelfen. Pläne müssen reifen und dürfen nicht auf dem Altar geschäftlicher Interessen geopfert werden.

Sie nannten Gebäude des Großprojekts „Liget Budapest“ als positives Beispiel. Wie geht es mit der geplanten Museumsinsel im Stadtwäldchen weiter?

Der Oberbürgermeister von Budapest ist ein erklärter Gegner des Projekts. Aber ich denke, er kann es sich nicht leisten, den Bau der neuen Nationalgalerie zu verhindern. Ich bin für eine Nationalgalerie im Stadtwäldchen, aber vielleicht sollten doch eher Ungarn die Pläne entwerfen.

Ein anderer Streit dreht sich um die Wiederherstellung von Gebäuden aus alten Zeiten, etwa auf der Budaer Burg.

Das erste Beispiel für die Wiederherstellung mehrere hundert Jahre alter Zustände bot nach 2010 die Burg von Füzér. Das Ergebnis betrachte ich eher mit gemischten Gefühlen. Ich denke, es geht nicht um das Wiederherstellen an sich, sondern darum, was wir mit diesen alt-neuen Gebäuden anfangen, ob wir sie mit echten Funktionen und Inhalten erfüllen können.

Was die Budaer Burg betrifft, gab es gleich mehrere Ausschreibungen für moderne Lösungen. Sämtliche Konzepte blieben weit unter dem erwarteten Niveau. Aber wie sagt das Sprichwort: Wenn das Neue dich nicht beglückt, greife zum Alten! Die Burganlage soll wieder das symbolische Zentrum verkörpern, welches eines tausendjährigen ungarischen Staates würdig ist.

Wechseln wir hinüber zum Verkehrswesen, wo Sie Ihre Staatssekretäre aus dem ländlichen Raum geholt haben.

Die Staatsbahnen MÁV und die Überlandbusgesellschaften von Volánbusz sind die größten Arbeitgeber der Branche. Sie bewegen täglich viereinhalb Millionen Menschen, die zwischen ihrem Wohnort und der Arbeit pendeln. Ist der Verkehr schlecht organisiert, machen wir diesen Menschen das Leben unnötig schwer. Wir brauchen keine Modelle von Träumen, die nie verwirklicht werden, sondern ein funktionierendes Verkehrswesen. Mein Ministerium soll für Heimat und Fortschritt stehen. Um die Mobilität der Gesellschaft zu befördern, müssen wir endlich etwas mit der vernachlässigten Infrastruktur anfangen. Die Bahn verfügt über ein Schienennetz von 8.200 Kilometern, die zum größeren Teil nur mit Geschwindigkeitsbegrenzungen befahren werden dürfen. Die Überlandbusse sind im Schnitt acht bis zehn Jahre alt.

Die Bahn häuft täglich 200-250 Stunden Verspätungen an.

Das liegt vor allem an den schlechten Gleisen. Neben der bereits genannten modernen Bahnstrecke Budapest-Belgrad wollen wir unbedingt die Ringbahn V0 um Budapest und eine Schnellbahn bauen, die Budapest mit Kolozsvár (Cluj) in Siebenbürgen verbindet. Auch der Fahrzeugpark soll erneuert werden, aber das braucht Zeit. Deshalb entstand die Idee, den Bürgern die Verkehrsmittel solange wenigstens preiswerter zur Verfügung zu stellen.

Sie sprechen vom neuen Monatsticket, das zwar landesweit, aber nicht in den Städten gilt. Warum?

Verkehrsexperten aus meinem Team haben die Idee entwickelt, die ich für eine der besten Entscheidungen der letzten dreißig Jahre im Verkehrswesen halte. Ab 1. Mai können Sie für nur 9.450 Forint (25 Euro) unbegrenzt mit Bussen und Bahnen auf dem Gebiet eines Komitats, und für den doppelten Preis landesweit verkehren. Ohne Wenn und Aber – in der simplen Lösung liegt die Kraft!

Im Übrigen heben wir damit eine himmelschreiende Ungerechtigkeit auf, die seit langem Bestand hatte: In Budapest gab es für das gleiche Geld und staatlich gestützt schon bisher das gleiche Anrecht, mit dem uneingeschränkt ein Verkehrsnetz von nahezu eintausend Kilometern in Anspruch genommen werden konnte. Damit bringen wir den Leuten vom Land jenen Standard, den die Hauptstädter schon längst als selbstverständlich hinnehmen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wer von Cegléd täglich nach Budapest zur Arbeit muss, bezahlte für diese rund 70 Kilometer mit dem Zug bisher monatlich 57.000 Forint, ab Mai sind es nur noch 9.450 Forint. Wir wollen, dass die Leute nicht aus Zwang pendeln, sondern darin eine Chance erkennen.

Für Ihre Modernisierungspläne brauchen Sie aber doch enorme EU-Gelder. Glauben Sie, dass die Konfrontation mit Brüssel gescheit ist?

Was man so aus dem Europaparlament hört, bestätigt mich nur in meiner Position, dass man mit den EU-Institutionen nicht kritisch genug sein kann. Abgesehen davon wollen wir Ungarn so wettbewerbsfähig machen, damit es gar keine – der momentan ungerechtfertigt blockierten – EU-Gelder mehr benötigt. Wir geben uns selbst rund zehn Jahre für diese Arbeit.

Wie würden Sie heute in einem Referendum über die EU-Mitgliedschaft abstimmen?

Nein sagen wir nur zu den föderalistischen Bestrebungen, nicht zur europäischen Zusammenarbeit. Ich selbst stimme immer nach meinem Gewissen ab. Es verletzt mein Gerechtigkeitsgefühl, wie Brüssel Ungarn erpresst.

Das hier gekürzt wiedergegebene Interview von Laura Szalai und Dániel Kacsoh erschien ursprünglich Ende März im konservativen Wochenblatt „Mandiner“.

Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.

2 Antworten auf “„Meine Tür steht jedem offen“

  1. Ressourcen sind immer begrenzt! Deshalb sollte man genau überlegen, für was man das ständig knappe Gut Geld optimiert und zielführend einsetzt und wie das Kosten-Nutzen-Verhältnis aussehen sollte. Dazu zählt auch der Einfluss auf das Vertrauen in den ungarischen Wirtschaftsstandort. Wie alle zwichenmenschlichen Entwicklungen geschehen diese für die Allgemeinheit zunächst unbemerkt oder sehr langsam, nehmen aber dann beständig Fahrt auf und werden dann am Ende in der Öffentlichkeit so wahrgenommen, als ob diese überraschend und plötzlich eingetreten wären.

    Flughafen und kein Ende in Sicht:

    https://m.hvg.hu/gazdasag/20230406_A_Malevval_is_milyen_kivalo_munkat_vegeztek__igy_gunyolja_a_Ryanair_vezere_a_kormany_reptervasarlasi_tervet

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    1. Der Ryanair-CEO ist für seine Flegelhaftigkeit bekannt, die hvg für ihre Regierungsgegnerschaft.
      Nach unseren Quellen will der Staat “nur” als Juniorpartner beim Flughafen einsteigen, da sind Aussagen von Gulyás weniger relevant.

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