Wahrscheinlich in Reaktion auf das Märchenbuch „Meseország mindenkié” wird den „Kindern das Recht auf ihre Selbstidentität in Einklang mit ihrem Geburtsgeschlecht” zugesichert. Foto: BZT/ Katrin Holtz

Die linke Seite: Kommentar zur neunten Verfassungsänderung

Wer das „Regieren” nennt, ist entweder dumm oder er lügt

Am Dienstag verabschiedete das Parlament – mit den Stimmen nicht nur des Fidesz und der KDNP, sondern auch der Opposition – ein neuerliches Notstandsgesetz, damit die Regierung in den kommenden 90 Tagen möglichst wirksam gegen die Corona-Epidemie vorgehen kann.

Viktor Orbán sagte am Montag, dass er von diesem Gesetz die Einführung weiterer Beschränkungen abhängig machen werde. Dazu zählen beispielsweise die nächtliche Ausgangssperre, die Schließung von Gymnasien, Universitäten, Restaurants, Fitnesscentern und Freizeiteinrichtungen, die Beschränkung bestimmter Dienstleistungen sowie die Änderung von Bestimmungen für Hotels.

Am Dienstag wurde also dieses Gesetz im Parlament verabschiedet. Danach warteten Millionen Ungarn auf das Erscheinen der Regierungsverordnung, nach der sie ihr Leben ab Mittwoch zu organisieren hatten. Doch bis 21 Uhr, drei Stunden, bevor sie in Kraft treten sollte, war diese Regierungsverordnung noch immer nicht erschienen.

Neunte Verfassungsänderung

Stattdessen erschien am späten Nachmittag die geplante neunte Verfassungsänderung, die den Kreis der Gelder, die als „öffentliche Gelder” zählen, drastisch einschränkt. Dadurch muss auch die Verwendung dieser Gelder nicht mehr öffentlich gemacht werden, was die Veruntreuung dieser Mittel um ein Vielfaches vereinfacht. Außerdem werden über sie die erst vor Kurzem geschaffenen, mit regierungsnahen Figuren besetzten Stiftungen zur Vermögensverwaltung in einem Zweidrittelgesetz einbetoniert. Wahrscheinlich in Reaktion auf das Märchenbuch „Meseország mindenkié” wird den „Kindern das Recht auf ihre Selbstidentität in Einklang mit ihrem Geburtsgeschlecht” zugesichert, sowie das „Recht auf eine Bildung basierend auf den Werten, die der konstitutionellen Identität und der christlichen Kultur unseres Landes entspricht“, was auch immer das bedeuten mag.

Der Regierung war es also inmitten der Coronavirus-Epidemie wichtiger, in der Verfassung zu regeln, aus welchem Märchenbuch in Kindergärten nicht vorgelesen werden darf, als im Amtsblatt die Regelungen zu veröffentlichen, nach denen wir ab Mittwoch zu leben haben. (…)

Erbarmungswürdige Legislative

Wir wissen seit Langem, dass der Zustand der ungarischen Legislative erbarmungswürdig ist. Reihenweise erscheinen immer minderwertigere, nicht durchdachte, fahrige Gesetzentwürfe, die vorher mit keinem der Betroffenen abgesprochen wurden. Jetzt behandelten Orbán und die Seinen die Sache sogar schon so: Am Abend wurde etwas verkündet, ein paar Minuten vor Mitternacht wurde dies dann im Amtsblatt veröffentlicht und ab Mitternacht war es in Kraft.

Konkret hieß das, dass ab Mitternacht Ausgangssperre herrschte, acht Stunden später das Parken kostenlos wurde und für den Folgetag dichtere Fahrpläne für den ÖPNV erstellt werden mussten. Die Selbstverwaltungen hatten also acht Stunden Zeit, um auf den Einnahmeausfall und den Ausgabenzuwachs zu reagieren, während die Menschen insgesamt fünf Stunden ab Verkündung durch Orbán hatten, um sich auf die mitternächtliche Ausgangssperre vorzubereiten.

So läuft es also derzeit in Ungarn. Aber nicht wir sind schuld, das ist eindeutig. Es ist vollständig der Fehler der Regierung. Es ist nicht die Opposition, die verhindert, dass die Regierungsverordnungen so schnell wie möglich verkündet werden.

Es wäre auch dann ärgerlich gewesen, die Bürger in einem Zustand der Unsicherheit zu halten, wenn in der Zwischenzeit keine Verfassungsänderung eingereicht worden wäre. So ist es aber geradezu schamlos. Es sendet die Nachricht, dass die Regierung sich nicht mit den Gesetzen befasst, die in der schwers-ten Epidemie seit Jahrzehnten unser tägliches Leben regeln sollen, sondern damit, die Verfassung entsprechend einer vermeintlich christlichen Gender-­Ideologie zurechtzudrechseln. (…)

Aus dem Ungarischen von EKG.

Der hier gekürzt wiedergegebene Kommentar erschien am 10. November auf dem linksliberalen Nachrichtenportal 444.hu.

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