Kommentar

Verbindende Freiheitsliebe

Vor kurzem fanden in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen statt. Das große westdeutsche Bundesland hat 18 Millionen Einwohner und galt in Mentalität, Lebensgefühl und politischer Struktur lange Zeit als scharfer Gegensatz zu den östlichen Bundesländern.

Nun kam es jedoch auch hier zu einem politischen Erdbeben: Die AfD konnte ihren bisherigen Stimmenanteil verdreifachen und erreichte 14,5 Prozent. Damit ist die Partei nun auch im Westen in der gesellschaftlichen Mitte angekommen.

Auch im Westen wächst die Unzufriedenheit

Die AfD, lange als Partei des Ostens betrachtet, hat die traditionellen westlichen Hochburgen der deutschen Politik erobert und macht damit gleichzeitig deutlich, dass die frühere Spaltung Deutschlands bis heute nicht überwunden ist – nämlich darin, dass Ost und West in vielen entscheidenden Fragen unterschiedliche Standpunkte vertreten.

Doch auch im Westen wächst die Unzufriedenheit – sei es mit der Migrationspolitik, gesellschaftspolitischen Fragen, der schwachen Wirtschaftslage oder dem Krieg in der Ukraine. Die selbsternannten Eliten der westdeutschen Politik, Wissenschaft, des Journalismus, der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens vertreten eine Weltanschauung, die vielleicht im Westen bei einem kleinen urbanen, linksliberalen Milieu Anklang findet, auf dem Land und im Osten jedoch auf klare Ablehnung stößt.

Ein Beispiel dafür ist die politische Bewertung Ungarns. Während die westdeutschen Eliten – insbesondere Anhänger, Vorfeldorganisationen und prägende Akteure der Grünen oder der Sozialdemokraten – in der ungarischen Regierung ein wahres Schreckgespenst sehen, ist die breite Mitte der Gesellschaft weit weniger kritisch. Ganz im Gegenteil: In vielen Fragen hält sie den Weg, den Ungarn in den letzten 15 Jahren beschritten hat, nicht für falsch und unterstützt daher die ungarische politische Führung.

Die breite, aber durch das linke Medienübergewicht kaum artikulationsfähige deutsche Mitte ähnelt stark der ungarischen: Sie möchte in einem freien, friedlichen, ruhigen und sicheren Land leben, durch Arbeit vorankommen, Werte und ein Zuhause schaffen und ihren Kindern eine lebenswerte, gute Zukunft sichern. Mit ideologischen Kämpfen und einer identitätspolitischen Weltanschauung kann sie wenig anfangen. Deshalb gibt es in Deutschland – anders als bei uns – eine Repräsentationslücke. Viele Deutsche würden daher für Viktor Orbán stimmen.

Parallelen zu 1989

Dies gilt besonders für den Osten, wo gegenüber Ungarn fast wieder jene euphorische Stimmung herrscht, wie sie nach dem Paneuropäischen Picknick und der Grenzöffnung 1989 spürbar war. Wie damals sagen auch heute viele Ostdeutsche: Die Ungarn standen allein, wussten aber, was zu tun war, handelten richtig, und die Zeit gab ihnen Recht. Heute sind alle dankbar für 1989, als die Ungarn die deutsche Einheit fast stärker unterstützten als die Deutschen selbst.

Die heutige Konstellation erinnert auffallend an die damalige Lage – wieder einmal haben die Ungarn recht: Sei es die seit 2015 schlecht gemanagte Migrationskrise, die Corona-Pandemie, der russisch-ukrainische Krieg, der Umgang mit hohen Energiepreisen oder der Schutz der Bevölkerung – in all diesen Fragen vertritt die ungarische Regierung die Interessen ihrer Bürger besser. Und die Deutschen erwarten zu Recht, dass ihre eigene Führung das ebenso tut. Diese ist dazu jedoch nicht in der Lage. Vielmehr ist zu beobachten, wie arrogante westliche Eliten die Ungarn kritisieren und dabei eine beinahe koloniale Überheblichkeit an den Tag legen. Doch die Zeit arbeitet für die Ungarn, denn sie haben die richtige Entscheidung getroffen.

Die Ostdeutschen stehen daher – wie 1989 und 2015 – auch in den heutigen Debatten eher an der Seite Ungarns. Die in der Diktatur sozialisierten Ostdeutschen ähneln den Ungarn: Sie verfolgen aufmerksam die öffentlichen Diskussionen, können zwischen den Zeilen lesen, lassen sich nicht mit hohlen Phrasen abspeisen und stehen großen Systemen skeptisch gegenüber. Genau das Gegenteil von dem, was im Westen über sie gesagt wird, trifft zu: Nicht eine Liebe zur Autokratie, sondern ihr Freiheitsdrang erklärt die Ablehnung vieler Elemente der westdeutschen Ordnung in Politik, Medien und öffentlichem Diskurs.

Der Autor ist Leiter des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium (MCC). Der vorliegende Beitrag ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, der am 3. Oktober auf dem österreichischen Portal exxpress.at erschien.

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