BZ-Kommentar zum 100. Jubiläum des Friedensdiktats von Trianon
Die offene Wunde
Versailles und Trianon gehören zwar beide gleichermaßen in die Kategorie der Pariser Vorortverträge. Doch während Versailles im Bewusstsein der meisten Deutschen heutzutage kaum noch eine Rolle spielt, verhält es sich mit Trianon völlig anders. Auch 100 Jahre nach dem traumatischen Ereignis ist Trianon jedem Ungar ein Begriff und nach wie vor eine offene, immer noch schmerzende Wunde – siehe dazu unseren aktuellen Gastkommentar.
Wie lebendig die Erinnerung an Trianon im heutigen Ungarn noch immer ist, das lässt auch ein Blick auf die vielen Ereignisse rund um das aktuelle Jubiläum erkennen – so auch auf die heutige Gedenksitzung im Parlament. Ebenso das monumentale Trianon-Denkmal, das in bester Lage mit Blick auf das Parlament soeben fertiggestellt wurde.
Dass Trianon in Ungarn noch immer so präsent ist, hat sicher auch etwas mit der monströsen Unverhältnismäßigkeit dieses Friedensdiktats zu tun. Während Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nur 13 Prozent seines Territoriums einbüßte, verlor das damalige Ungarn 72 Prozent (!) seines Staatsgebietes. 3,3 Millionen ethnische Ungarn gelangten quasi über Nacht unter eine fremde Herrschaft. Das von den Siegermächten so gerne beschworene „Recht der Nationen auf freie Selbstbestimmung“ galt für sie nicht.
Über die Gründe für das der ungarischen Nation zugefügte große Unrecht grübeln die Ungarn bis heute. Es gibt etliche Erklärungsansätze.
Sicher ist auf jeden Fall, dass eine Bewältigung des Trianon-Traumas im gegebenen europäischen Kontext nur friedlich erfolgen kann. Diesbezüglich herrscht in der ungarischen Gesellschaft ein großer Konsens. Es zeugt von Unkenntnis der Situation, wenn westliche Beobachter etwa bei jeder Großungarn-Karte, derer sie in Ungarn ansichtig werden, im Geiste schon marschierende Ungarn vor sich sehen, die sich anschicken, die verlorenen Gebiete mit Waffengewalt „heim ins Reich“ zu holen.
Über Trianon offen zu reden und zu trauern, ist indessen sicher ein vernünftiger Ansatz. Ebenso, die Verbindung mit den Auslandsungarn zu stärken. Da bis auf die Ungarn in der Karpato-Ukraine und in der serbischen Vojvodina alle Auslandsungarn in EU-Ländern leben, könnte sich hier sicher auch die EU nützlich(er) machen. So etwa durch den Erlass und die wirksame Kontrolle von einheitlichen Mindeststandards für ethnische Minderheiten.
Und natürlich könnten auch symbolische Gesten beitragen, die Wunden zu schließen. Warum kann nicht beispielsweise ein französischer oder rumänischer Staatsgast bei seiner nächsten Budapest-Visite kurz einmal beim neuen Budapester Trianon-Denkmal vorbeischauen? Es müsste ja nicht gleich ein „historischer Kniefall“ à la Willy Brandt 1970 in Warschau werden… Hilfreich wären sicher auch internationale wissenschaftliche Projekte oder eine Historikerkommission, um der Wahrheit von damals gemeinsam auf die Spur zu kommen und diverse Gerüchte zu zerstreuen.
Sich darauf zu verlassen, dass die alle Wunden heilende Zeit ganz alleine die Arbeit verrichtet, könnte sich in Anbetracht der Intensität, mit der das hundertjährige Jubiläum begangen wird, als ein sehr langwieriger Prozess erweisen. Nachhaltiger und schneller wäre es sicher, neue Wege zu beschreiten. Ob nun im bilateralen Rahmen oder im Rahmen der EU. Sicher ist auf jeden Fall: Ein Europa ohne offene Wunden ist ein gesünderes und stärkeres Europa.
“Ein Europa ohne offene Wunden ist ein gesünderes und stärkeres Europa”. Wie wahr!!! Ich habe aber den Eindruck, dass tonangebende Kräfte in Europa genau das nicht wollen. Deswegen auch die vielen offenen Wunden. Eurokrise, Verschuldungskrise, Migrationskrise, Lage der verschiedenen Minderheiten etc.