BZ-Kommentar zu den radikalen Reisebeschränkungen und ihren Gründen
Das kleine gallische Dorf
Schließlich war in den Hinweisen immer wieder ganz explizit nur von „südlichen Ländern“ die Rede gewesen, in denen man demnächst lieber keinen Urlaub mehr planen sollte. Wer also in oder aus westlicher Richtung die ungarische Staatsgrenze passieren wollte, konnte sich – wenn er den Ankündigungen der Regierung Glauben schenkte – in Sicherheit wiegen und musste keine schwerwiegenden Reisebeschränkungen fürchten.
Vertrauensverlust
Diese Sicherheit wurde den Bürgern nun auf einen Schlag genommen. Sowohl den Bürgern mit ungarischem Wohnsitz als auch Bürgern außerhalb Ungarns. Egal, wie die Problematik jetzt weitergeht und welche Länder sich noch auf einen Sonder-Deal mit Ungarn verständigen können, dieser Vertrauensverlust ist nicht mehr ungeschehen zu machen. Sowohl Geschäftsleute als auch Touristen werden in ihrer zukünftigen Planung berücksichtigen, dass Ungarn eine Regierung hat, die aus heiterem Himmel zu solchen brachialen Maßnahmen greifen kann.
Der jetzige Schritt löst bei vielen auch wegen seiner Dimension Kopfschütteln aus: Das kleine Ungarn zieht auf einen Schlag die Grenzen gegenüber der gesamten Welt hoch. Unwillkürlich denkt man an das kleine gallische Dorf, das sich als ein nur mit der Lupe erkennbarer Fleck auf der Landkarte beharrlich den Legionen Cäsars widersetzt. Asterix & Co. hatten aber immerhin einen Zaubertrank, Ungarn hat nur Unicum. Der ist zwar sehr schmackhaft, verleiht den Bewohnern dieses Landes aber ganz sicher nicht die Kräfte, um sich einen Schlagabtausch mit der ganzen Welt zu leisten.
Was waren die Motive für die Reisebeschränkungen?
Weil der Schritt mit Blick auf die ungarische Corona-Situation, aber auch die Praxis anderer Länder der Region völlig überzogen scheint, wird seitdem über die wirklichen Beweggründe dieser Entscheidung gerätselt. In der allgemeinen Ratlosigkeit tippen einige darauf, dass der Regierung sicher Informationen vorgelegen haben müssen, die einen solchen Schritt rechtfertigen. Wenn dem so wäre, dann ist nur fraglich, warum Kanzleramtschef Gulyás bei der Ankündigung der Reisebeschränkungen nicht gleich damit rausgerückt ist.
Es gibt sogar ganz abstruse Theorien, wonach der ungarischen Regierung Informationen vorgelegen haben sollen, böse Kräfte hätten gezielt eine Durchseuchung des Landes von außen her geplant.
Wieder andere vermuten, Premier Orbán könnte von einem Experten ein Szenario präsentiert worden sein, das für Ungarns Covid-19-Situation eine sehr unangenehme Prognose beinhaltete. Daraufhin könnte er in Panik geraten sein und ohne Rücksicht auf Risiken und Nebenwirkungen eine Vollbremsung beschlossen haben. Dagegen spricht, dass Orbán ein gewiefter Machtpolitiker ist, der bisher immer mit kühlem Kopf und sehr wohlüberlegt gehandelt hat. Selbst bei zunächst merkwürdig erscheinenden Schritten konnte man früher oder später sehr rationale Motive erkennen.
Verantwortungsabgabe
Vielleicht gibt es diese auch diesmal. Vielleicht hat Orbán beispielsweise von vornherein darauf spekuliert – immerhin ist er Jurist –, dass die radikale Rot-Grün-Lösung, die bereits von der ersten Minute an rissig war und von vielen Seiten unter Druck steht, ohnehin wieder rasch gekippt oder stark verwässert werden muss. Wenn das aber auf Druck von gewissen Kräften geschieht, dann wird Orbán auch schrittweise die Verantwortung für die weitere Corona-Entwicklung los. Er habe mit den radikalen Reisebeschränkungen ja alles unternommen, um die Bürger des Landes zu schützen. Nur die EU, internationalen Unternehmen oder gewisse Länder wollten halt etwas anderes.
Angenehmer Nebeneffekt: Ab dem Zeitpunkt, da die Verantwortung für ein liberaleres Grenzregime externalisiert ist, könnte die Orbán-Regierung eine ungünstige Corona-Entwicklung teilweise auf die Rechnung dieser Kräfte setzen. Zugegeben eine sehr gewagte Überlegung. Mit Blick auf diesen angenehmen Nutzeffekt für die ungarische Regierung aber vielleicht kein ganz ausgeschlossener Erklärungsansatz.