Die rechte Seite: Kommentar zur EU-Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit
Auf den Spuren des Rechtsstaats
Vera Jourová, die von Frans Timmermans das Gebiet namens „Werte und Transparenz“ übernahm, bezeichnete Ungarn jüngst in einem wenig originellen Wortspiel als „kranke Demokratie“. Aus „illiberal democracy“ machte sie in dem englisch geführten Interview „ill democracy“. Und das, während ihr Gremium gerade mit Hochdruck an den Länderberichten zur Rechtsstaatlichkeit arbeitete.
Fragwürdig
Die Idee der Jahresberichte wurde im vergangenen Jahr von der Kommission nach einer Reihe ähnlicher Pläne formuliert. Die offizielle Erklärung dazu lautet wie folgt: „Im Rahmen dieses Mechanismus überprüft die Europäische Kommission jährlich die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten. Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus dient der Prävention. Ziel ist es, den Dialog und das gemeinsame Nachdenken über die Rechtsstaatlichkeit zu vertiefen.“
Die „Untersuchung“ hat im Prinzip keine rechtlichen Konsequenzen und keine vertragliche Grundlage. Tatsächlich hat die Kommission ihren Aufgabenbereich einfach um einen neuen Punkt erweitert. Freilich sollten wir keine Zweifel hegen, dass die Berichte den liberalen Eurokraten in Zukunft als Argumentationsgrundlage bei echten juristischen Verfahren gegen unbotmäßige Mitgliedsländer dienen werden. Bei der schleichenden EU-Gesetzgebung ist es eine bewährte Praxis, auf solche „weichen“ juristischen Dokumente Bezug zu nehmen. Schließlich kann dadurch die Legitimität von neuen Gesetzen erhöht werden.
Daher schadet es nicht, vor der Veröffentlichung der Berichte ein paar Dinge zu klären. Erstens, was bereits vielfach festgestellt wurde und trotzdem in Brüssel keine Beachtung gefunden hat: Rechtsstaatlichkeit als normative Rechtskategorie mit einer genauen Definition existiert einfach nicht. Es ist höchstens ein Prinzip, eine breite und vage umschriebene Kategorie, von der einige Elemente wie Freiheit, Gleichheit und so weiter semantisch ausgedrückt werden können. Die genaue Definition dieser Elemente ist jedoch stark weltanschauungs- und kulturabhängig.
Dehnbar
Nichts zeigt die Dehnbarkeit des Begriffs Rechtsstaatlichkeit besser als sein historischer Ursprung in England (rule of law). Dieser Begriff ist eng mit der britischen Rechtstradition und den Rechtsprinzipien des Britischen Empire verbunden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das englische Konzept auf dem Kontinent nicht übernommen wurde und sich im deutschsprachigen und in frankophonen Kreisen stattdessen das Konzept des Konstitutionalismus entwickelte.
Aber es sind nicht nur die unterschiedlichen historischen Grundlagen des Begriffs, die zu seiner Ablehnung führen. Egal wie ähnlich die Wurzeln – u.a. jüdisch-christliche Tradition, antike griechische Philosophie und römisches Recht – der einzelnen europäischen Staaten auch sein mögen, auch in der heutigen Zeit ist die Vielfalt der verfassungsmäßigen Rechtssysteme spürbar.
Es gibt Mitgliedstaaten, in denen es kein separates Verfassungsgericht gibt (etwa in Schweden oder den Niederlanden). In einigen Ländern steht die Justizverwaltung unter staatlicher Kontrolle (z. B. in Frankreich). Es gibt aber auch Länder, in denen Richter Mitglied einer Partei sein können (z. B. in Deutschland). Ebenso gibt es Unterschiede in der Funktionsweise von Wahlsystemen oder Medien- und Kommunikationsbehörden.
Vielfältig
Eines der Hauptprinzipien der Europäischen Union ist die Vielfalt und der Respekt ihr gegenüber. Das Artikel 7-Verfahren gegen Polen oder Ungarn oder auch die oben erwähnten Pläne der Kommission machen jedoch deutlich, dass diese Vielfalt von den Eurokraten nicht wirklich respektiert wird. Sie behaupten, dass es ein universelles Konzept der Rechtsstaatlichkeit gibt, einen rechtlich durchsetzbaren Standard, der somit von den Justizingenieuren der Gesellschaft herangezogen werden kann. Da es aber so ein Konzept freilich nicht gibt, versuchen sie künstlich, eines zu schaffen, indem sie beispielsweise behaupten, dass der Inhalt der in Artikel II des EU-Vertrags genannten Werte – Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Solidarität – in allen Mitgliedstaaten gleich sei.
Dabei ist jedoch klar, dass diese Werte keine rechtlichen Begriffe sind, sondern natürlich politische Kategorien. Ein Konservativer, ein Sozialist oder ein Liberaler (wobei die beiden letzteren mehr Überschneidungen aufweisen) betrachten etwas anderes als sozial gerecht oder solidarisch. Der andere, bedeutendere Teil des Problems besteht jedoch darin, dass Brüssel die progressiv-linke Auslegung dieser Begriffe, die dem eigenen Geschmack entspricht, als ausschließlich und noch dazu als neutral ansieht. Das kann am einfachsten durch die Tatsache veranschaulicht werden, dass entsprechend dem „maßgeblichen Mainstream“ allein die liberale Demokratie als echte Demokratie zählt. Alle anderen demokratischen Alternativen werden als „krank“ bezeichnet, um Jourová zu zitieren.
Politisch gefärbte Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit
Auf diese Weise wird nun versucht, unter einem vermeintlich fachlichen, objektiven und vor allem neutralen Begriff der Rechtsstaatlichkeit verschiedene Inhalte zu fassen, die schon allein historisch in den verschiedenen Ländern stark voneinander abweichen. Diese angeblich von allen geteilte, in Wirklichkeit aber linksliberal gefärbte Rechtsstaatlichkeit wird dann auch von all jenen eingefordert, die nicht unbedingt auf diese, mit Multikulturalismus, sexueller Freizügigkeit, Gendermainstreaming und Todeskultur angereicherte Version von Rechtsstaatlichkeit scharf sind.
Aber warum ist das alles – abgesehen von der Doppelmoral – so extrem gefährlich? Einerseits, weil der Begriff ideologisch den Liberalismus als ausschließlichen Rahmen für den politischen Diskurs legalisiert. Und als kultureller Imperialismus ist er auch antidemokratisch, da er Stimmen, die nicht liberal genug sind, per Gesetz marginalisiert, bestraft und sie auf politischer Ebene aus dem „Club“ ausschließt. Da hilft auch keine legitime Autorität, die bei einer demokratischen Wahl errungen wurde. Auf einen Schlag kann man sie als nicht rechtmäßig und nicht rechtsstaatlich erklären. Wenn eine Regierung keine liberalen Züge aufweist, dann ist sie nicht legal und „rechtsstaatlich“.
Die andere, konkrete Gefahr droht mit dem Zerfall der EU. Wenn nämlich die Mitglieder des Clubs sich auf Verstöße gegen ihre Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit beziehend anders eingestellten Mitgliedern für ihre Sünde ihnen ansonsten rechtlich zustehende Gelder entziehen, was wird dann die Union in offensichtlicher Ermangelung von gemeinsamen Werten weiter zusammenhalten? Was wird die verurteilten Mitgliedstaaten motivieren, weiterhin Mitglieder des Clubs zu bleiben?
Leider bauen diejenigen, die heute mit Berufung auf die Erweiterung der Integration die „Rechtsstaatlichkeit“ (rule of law) mit ihren unkontrollierbaren Konsequenzen zementieren wollen, tatsächlich an einem uniformierten, bürokratischen System der „Herrschaft der Erpressung“ (rule of blackmail).
Aus dem Ungarischen von Anita Weber.
Der Artikel erschien am 30. September auf dem regierungsnahen Portal Magyar Nemzet. Der Autor ist Direktor des Zentrums für Grundrechte.