Gleich gegenüber der EU-Kommission: Das Gebäude des Rates der Europäischen Union (M.). Hier wird Ungarn im aktuellen Halbjahr versuchen, Gutes für die EU-Länder zu bewirken. Foto: BZ / Jan Mainka

Die wirtschaftspolitische Agenda der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft

Neue Wegpunkte im Navigations­system

Am 1. Juli übernahm Ungarn turnusgemäß den Vorsitz des Rates der Europäischen Union für die zweite Hälfte des Jahres. Die Aufregung in Brüssel begann allerdings schon kurz davor, denn die ungarische Regierung stellte ihre Präsidentschaft unter das Motto „Make Europe Great Again“.

Die Anspielung an den Slogan von Donald Trump ist mehr als ein Marketing-Gag, denn die europäischen Volkswirtschaften fallen in den letzten Jahren bedrohlich hinter die anderen Industriestaaten der Welt zurück. Wie möchte aber ausgerechnet das kleine Ungarn der EU den nötigen Impuls für die ökonomische Trendwende geben? Wenn es nach dem Land geht, dann ist die Antwort klar: Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, strategische Autonomie und nachhaltiges Wachstum.

Staffelübergabe in Brüssel

Ungarn übernimmt den Vorsitz des Ministerrates der EU, der halbjährlich unter den Mitgliedstaaten rotiert. Der EU-Ministerrat ist das Organ, über das die Regierungen der EU-Länder zusammen mit dem Parlament und der Kommission EU-Recht verabschieden. Dagegen wird der Rat der Staats- und Regierungschefs (die „EU-Gipfel“) seit 2009 von einem ständigen Präsidenten geleitet, derzeit noch bis Dezember von Charles Michel.

Hier wird eine Besonderheit der ungarischen Ratspräsidentschaft deutlich: Sie fällt in eine Periode, in der in Brüssel die Positionen nach den Wahlen neu besetzt werden. Für Ungarn bedeutet das die Eröffnung neuer Spielräume, da die anderen EU-Institutionen vielfach noch mit „lahmen Enten“ besetzt sind, aber auch Einschränkungen. So wurden viele große Gesetzgebungsverfahren eilig vor den Wahlen abgeschlossen, sodass der EU-Ministerrat aktuell weniger Dossiers zu bearbeiten hat als üblich (dennoch immerhin über hundert). Eine Einigung noch vor den Wahlen gelang aber gerade bei umstrittenen Vorhaben nicht immer, so dass die Rolle des Vorsitzes des Ministerrates als „ehrlicher Makler“ zwischen den Staaten hier besonders gewichtig ist.

Wettbewerbsfähigkeit als Leitmotiv

Um die verschiedenen Vorhaben unter eine kohärente Politik zu stellen, planen die Vertreter von Ungarn den Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit in alle Gesetzgebungsvorhaben einzuflechten, was sie einen „Neuen Vertrag der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ nennen. Als Kernprobleme der lahmenden EU-Wirtschaft werden Inflation, drückende Staatsschulden, teure Energie und fragmentierte Lieferketten ausgemacht, die allesamt Produktivitätssteigerungen entgegenwirken.

Das Endziel einer europäischen Wirtschaftspolitik müssen aber sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze sein. Diese gibt es jedoch nicht ohne eine bessere Wettbewerbsfähigkeit. Voraussetzungen dafür sind u.a. eine technologieoffene Industriestrategie, eine Stärkung des Mittelstandes und eine Vertiefung des Binnenmarktes.

EU-Haushalt: Von Green Deal bis Verteidigung

Dem ungarischen Vorsitz wird die Aufgabe zuteil, die Neujustierung des EU-Haushalts im Rahmen der Strategischen Agenda 2024-29 in die Wege zu leiten. Der Hintergrund ist ein bemerkenswerter Politikwechsel, der auf dem EU-Gipfel im Juni für die neue Periode beschlossen wurde. Während die letzten fünf Jahre im Zeichen des Green Deals standen, welcher die EU bis 2050 klimaneutral aufstellen soll, wird sich die EU in Zukunft verstärkt zwei Gebieten zuwenden, nämlich der Wettbewerbsfähigkeit und der Verteidigung.

Dieser Wechsel hat sicherlich als Ursache, dass der „Green Deal“ sich bisher nach Einschätzung der Mitgliedstaaten nicht als grünes Wirtschaftswunder entpuppt hat. So verbirgt sich hinter den EU-typischen wolkigen Formulierungen im Beschluss, dass der „Green Deal“ sich zu einem umfassenden Programm zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit wandeln soll, womit ihr klimapolitischer Anspruch in den Hintergrund tritt.

Als zweite Herausforderung kommt hinzu, dass sich die EU unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine verstärkt in der Rüstungspolitik zu engagieren gedenkt. Der ungarischen Regierung kommt nun die Aufgabe zu, diesem Beschluss mit konkreten Finanzierungsvorschlägen Leben einzuhauchen. Dieser Politikwechsel kommt ihr hierbei inhaltlich entgegen, denn seit längerem fordert sie einen Wandel genau in diese Richtung.

Es wird jedoch eine große Herausforderung bleiben, die sehr unterschiedlichen Vorstellungen der EU-Länder hinsichtlich der Finanzierung der neuen Ziele unter einen Hut zu bringen. Die ungarische Perspektive könnte sich aber als hilfreich erweisen, denn Ungarn setzt sich seit jeher für große finanzielle Spielräume der verschiedenen EU-Länder ein. Weitere Gegenspieler sind hierbei auch die EU-Kommission und das Parlament, die sich aber beide gerade mitten in der erwähnten Amtsübergabe befinden.

Rüstung und Außenpolitik

Der Krieg in der Ukraine wird den ungarischen Vorsitz auch in anderer Hinsicht begleiten. Das Europäische Programm für die Verteidigungsindustrie (EDIP) sieht Ausgaben in Höhe von 1,5 Mrd. Euro für die Periode 2025-27 vor, die für die Stärkung der Rüstungsindustrie verwendet werden sollen. Dieser Betrag wird von den meisten EU-Staaten als viel zu niedrig eingeschätzt, zudem ist die genaue Verwendung des Geldes umstritten.

Hier muss die ungarische Regierung einen Balanceakt schaffen, denn einerseits vertritt sie seit jeher die Position, dass die heimische Rüstungsindustrie gestärkt werden müsse, andererseits vertritt sie eine vom EU-Mainstream deutlich abweichende Position zur Sicherheitsarchitektur Europas. In die gleiche Kerbe schlägt auch die Frage, wie die Zinsen der eingefrorenen russischen Einlagen in der EU verwendet werden sollen.

Digitaler Euro und Bankenunion

Ausgerechnet Ungarn, das ja nicht Mitglied der Eurozone ist, wird auch für die Verhandlungen zum „digitalen Euro“ verantwortlich sein. Die genaue Ausgestaltung des „digitalen Euro“ wird nicht nur Auswirkungen auf die geldpolitischen Instrumente der Europäischen Zentralbank in Zukunft haben, sondern auch mannigfaltige Auswirkungen für Banken, Unternehmen und Konsumenten mit sich bringen.

In denselben Themenkomplex fällt auch die geplante EU-Bankenunion, welche umfassende Reformen der Einlagensicherung und der gegenseitigen Absicherung der Banken im Krisenfall enthalten dürfte. Hier wird sich zeigen, ob sich Ungarns Bekenntnis zu soliden Finanzen, Preisstabilität und zum Mittelstand auch in diesen delikaten Fragestellungen durchsetzen kann, denn die Länder sind vielfach tief gespalten.

Zudem fällt es Ungarn zu, die Verhandlungen mit der Kommission und dem Parlament zur Regulierung der Anlageprodukte für Kleinanleger zu führen, wo es auch um die bei der Bevölkerung immer beliebteren Aktienfonds („ETFs“) geht.

Außenhandel und Zölle

Der Zollkodex der EU steht vor einer großen Überarbeitung, die auch die Schaffung einer neuen EU-Zollbehörde vorsieht. Dieses Dossier bringt Grundsatzkonflikte auf, denn gewichtige Stimmen in der EU fordern eine protektionistischere Handelspolitik, sei es wegen des globalen Wettbewerbs (insbesondere mit China), oder aus umwelt- und sozialpolitischen Erwägungen.

Die Implikationen für die EU-Volkswirtschaften sind hoch, geht es doch um den Zugang zu Weltmärkten, stabile Lieferketten, um die Höhe von Abgaben und um die Reduzierung der Bürokratie. Dass dieses Dossier besonders anspruchsvoll sein dürfte, scheint auch dem ungarischen Vorsitz bewusst zu sein, denn das Land hält sich in seinem Programm dazu recht bedeckt.

Energie und Versorgungssicherheit

Die ungarische Präsidentschaft ist gleich mit einer Vielzahl an Verfahren befasst, die die Energieversorgung Europas zum Inhalt haben. Dazu gehören Dossiers, die den Binnenmarkt für erneuerbare Energien und Wasserstoff regeln.

Die ungarische Regierung muss es hier schaffen, den Green Deal im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit weiterzuentwickeln. Aufgrund der Bedeutung für die Versorgungssicherheit ist auch ein Dossier zur Gestaltung des gemeinsamen Strommarktes in der Union sehr wichtig.

Umwelt, Klima und Landwirtschaft

Der Green Deal ist bereits weitgehend beschlossene Sache, so dass nur kleinere Verfahren in die Amtszeit der ungarischen Präsidentschaft fallen. Dazu gehört u.a. die „Combined Transport Directive“, die den intermodalen Verkehr fördern soll, um die Emissionsziele der EU zu erreichen. Hier ist das Ziel der ungarischen Regierung klar, denn sie möchte als Binnenland besonders dringend eine Einigung beim intermodalen Verkehr erreichen.

Hinsichtlich der Klimapolitik besonders wichtig ist die Ausarbeitung der Verhandlungsposition der EU für die UN-Klimakonferenz (COP29) im November, wo die globalen Weichenstellungen getroffen werden. Ungarn versucht hier eine Position zu vertreten, die auf eine realistischere Klimapolitik drängt, anstatt der bisherigen ambitionierten „Klimadiplomatie“, die einen Führungsanspruch in der Welt stellt.

Im Agrarbereich muss Ungarn den Aufschlag für die Gemeinsame Agrarpolitik für die Periode 2027-31 machen. Hier geht es um die Ausarbeitung des Konzepts der erzeugerbasierten Agrarpolitik, die einen wesentlich stärkeren Fokus auf Ernährungssicherheit und erschwingliche Nahrungsmittelpreise zu legen gedenkt.

Aussichten auf die Trendwende

In der Gesamtbetrachtung ist es offenkundig, dass die ungarische Regierung den großen Konflikt mit den Leitlinien der EU-Wirtschaftspolitik im Rahmen ihrer Rolle als EU-Ratsvorsitzender scheut. Stimmen, die davor warnten, dass Ungarn seinen Ratsvorsitz zu einer Aushöhlung der EU missbrauchen würde, sind im wirtschaftspolitischen Kontext nicht ersichtlich. Vielmehr integriert die ungarische Regierung ihre eigenen politischen Präferenzen in die Agenda der EU, so wie es auch alle anderen Staaten tun, die den Vorsitz führen.

Die ungarische Regierung hat für sich auch öffentlich den Anspruch gesetzt, ihre eigenen Ziele zu erreichen, und nicht etwa Fundamentalopposition zu betreiben. So erklärte Ministerpräsident Orbán am 1. Juli nachdrücklich: „Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit Europas stärken, um unseren Bürgern sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze zu garantieren. Dies ist der Kern unserer Präsidentschaftsagenda.“

Dass Ungarns Ratspräsidentschaft stellenweise Einfluss entfalten wird, ist aktuell zu erwarten. Die Macht des Vorsitzes hängt wesentlich davon ab, welche Mehrheitsverhältnisse im Rat vorhanden sind. Hier ist hervorzuheben, dass die beiden wichtigsten EU-Länder, Deutschland und Frankreich, gerade von massiven innenpolitischen Krisen erschüttert sind, und Italien aktuell von einer Koalition regiert wird, die Ungarn nicht offen feindlich gegenübersteht.

Somit ist die Chance, dass die ungarische Agenda schon aus dem Rat heraus von ihren Gegnern bekämpft wird, geringer als erwartet. Zudem wird der ungarische Vorsitz in der Öffentlichkeit nicht von anderen EU-Institutionen überlagert, da diese sich gerade im Prozess der Amtsübergabe befinden.

Klar ist aber auch: Die EU ist ein riesiger Tanker, dessen Kurs nur sehr schwer zu ändern ist. Der ungarische Vorsitz programmiert lediglich einige neue Wegpunkte im Navigationssystem, kann aber keinesfalls das Ruder herumreißen.

Der Autor ist Forschungsmitarbeiter im Brüsseler Büro des Mathias Corvinus Collegium.

5 Antworten auf “Neue Wegpunkte im Navigations­system

  1. Hört sich ja gut an, aber was passiert denn hier in der Realität ? Wo ist denn die Unterstützung für den Mittelstand ? Die grossen hofiert man, aber den Mittelstand ? Den lässt man absaufen. Wettbewerbsfähigkeit ? Wir, und nicht nur wir, haben die letzten Projekte alle an China verloren, die mit zum Teil unseriösen Angeboten , einfach besser sind. Da schiesst der Staat halt mal was zu. Konkurieren könnten wir da nur mit einer europaischen Politik, das hausgemachte klein-klein, jeder koch seine eigene Suppe, funktioniert da nicht. Von sicheren und gut bezahlten Jobs sind die Ungarn noch weit enrfernt.

    1
    0
  2. Ach Herr Hohensohn, wo ist es denn im Westen schlimmer ? Jedes Land dort hat ein vielfaches des BIP ,und einen höheren Durchschnittslohn, als Ungarn. Slche Instrumente, wie Kurzarbeit oder ähnliches kennt Orban doch gar nicht.

    0
    0

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel