EU-Minister János Bóka bei der Vorstellung des Programms der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft. Foto: MTI/ Péter Lakatos

Analyse: Ungarische EU-Ratspräsidentschaft

„Make Europe Great Again”

Das Motto der EU-Präsidentschaft Ungarns soll eine aktive und handlungsfähige EU befördern. Am 18. Juni 2024 wurde in Budapest durch EU-Minister János Bóka das Motto sowie das Programm der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft vom 1. Juli bis 31. Dezember 2024 offiziell vorgestellt.

Der Minister betonte dabei, dass das Motto auch symbolisieren solle, dass man gemeinsam als Europa stärker sei als nur alleine. Er fügte hinzu, dass Europa fähig sein könne, ein eigenständiger globaler Akteur zu werden und seine strategischen Interessen auf internationaler Bühne wirkungsmächtig zu vertreten. Das Motto, für viele politische Beobachter nicht ganz unbekannt, wurde von Ministerpräsident Viktor Orbán bereits Anfang März anlässlich seines Besuches beim ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump öffentlich erwähnt – allerdings in einem anderen Zusammenhang.

Nicht nur Eingeweihte gehen davon aus, dass zwischen den beiden Mottos „Make America Great Again“ (MAGA) und „Make Europe Great Again“ (MEGA) durchaus ein sinnhafter Zusammenhang bestehen könnte. Anders als viele Kritiker verlautbaren, ist Ungarn nicht an einer Schwächung der EU interessiert, sondern ganz im Gegenteil an ihrer Stärkung. Diese müsse aber in einem geopolitischen Kontext erfolgen, in dem die Europäer zunehmend ihren strategischen Handlungsrahmen erkennen, artikulieren und international selbstbewusst agieren können.

Die Herausforderungen der EU und die Rolle Ungarns

EU-Minister Bóka erläuterte, dass die Europäische Union derzeit vor vielen immensen Herausforderungen steht. „Europa wird durch den Krieg in unserer Nachbarschaft, das Abdriften hinter unseren globalen Konkurrenten, die fragile sicherheitspolitische Lage, die illegale Migration, die Naturkatastrophen, die Folgen des Klimawandels und die demographische Situation vor gemeinsame Herausforderungen gestellt“, so die Lagebeurteilung des Ministers. Darüber hinaus gelte es, den institutionellen Zusammenhalt erfolgreich zu gestalten.

Die Präsidentschaft Ungarns müsse dem Frieden und der Sicherheit Europas dienen, so der Politiker. Operativ bedeutet dies, dass Ungarn etwa 1.500 Arbeitsgruppen des Rats, 37 formale Ratssitzungen in Brüssel und Luxemburg sowie weitere 230 Veranstaltungen der EU-Ratspräsidentschaft in Ungarn organisieren wird. Unter den Sitzungen im Land der Präsidentschaft soll es 16 informelle Ratssitzungen geben, eine informelle Sitzung des Europäischen Rates sowie ein Spitzentreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Das ambitionierte Arbeitsprogramm soll zu großen Teilen in der Hauptstadt Budapest erfolgen und nicht etwa im beschaulichen Schloss von Gödöllő, wo die EU-Sitzungen im ersten Halbjahr 2011, bei der vorherigen Ratspräsidentschaft von Ungarn stattfanden.

Damals wurden unter ungarischem Vorsitz wichtige Entscheidungen wie die Aufnahme von Kroatien in die Europäische Union getroffen. Außerdem wurden die europaweite Roma-Strategie und die Donauraum-Strategie verabschiedet. Eine Besonderheit ist, dass bereits damals dieselbe Regierung für die ungarische Präsidentschaft verantwortlich war wie die heutige. Die damalige EU-Ratspräsidentschaft galt als eine durchaus erfolgreiche.

Obwohl eine linke Mehrheit im Europäischen Parlament versuchte, Ungarn den diesjährigen Ratsvorsitz abzuerkennen, konnte dieses Ansinnen nicht verfangen. Europa blickt nun voller Neugier und Interesse auf das Programm der Ungarn. Ein wichtiger Garant für einen abermaligen Erfolg der ungarischen Ratspräsidentschaft ist nicht zuletzt der auch in Fachkreisen geschätzte Europaminister János Bóka. Er kommt aus der Wissenschaft und gilt als anerkannter Europarechtsexperte. Bereits mehrere Jahre lang konnte er den Brüsseler Politikbetrieb im Europäischen Parlament aus nächster Nähe mitverfolgen und auch -gestalten.

Die sieben Prioritäten

Sieben Prioritäten soll das Programm der Ratspräsidentschaft umfassen, wobei allen sieben inhaltlich gemein ist, dass sie wichtige Bausteine sein sollen, um die Resilienz sowie die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit Europas zu stärken. Gerade angesichts der globalen Herausforderungen ist die politische Führung des Landes davon überzeugt, dass Europa ein wichtiger globaler Akteur sein kann, allerdings nicht ohne vorher seine eigene Selbstbehauptung manifest werden zu lassen.

Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit

Der Kontinent ist gerade im Vergleich mit globalen Wettbewerbern, bedingt durch hohe Inflation, steigende Staatsverschuldung, hohe Energiekosten, Fragmentierung globaler Lieferketten sowie die Schwächung der Produktivität und des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren ins Hintertreffen geraten. Daher bedarf es laut dem Programm der ungarischen Ratspräsidentschaft eines ganzheitlichen Ansatzes, um die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern.

Ziele sind eine technologieneutrale Industriestrategie, die Verbesserung der Rahmenbedingungen der europäischen Produktivität, die Stärkung der offenen und vernetzten Wirtschaft sowie des internationalen Wirtschaftsaustausches, daneben aber auch die Schaffung von sicheren europäischen Arbeitsplätzen durch einen flexiblen Arbeitsmarkt, der steigende Löhne verspricht.

In diesem Zusammenhang soll eine neue europäische Vereinbarung zur Wettbewerbsfähigkeit zustande kommen, die den Binnenmarkt vertieft, die KMUs stärker unterstützt, die grüne und digitale Umstellung in Partnerschaft mit den Wirtschaftsakteuren und den Bürgern ermöglicht, die Stabilität und Nachhaltigkeit der Arbeitsplätze garantiert und die internationale Zusammenarbeit vorantreibt. Beim Aufbau einer wettbewerbsfähigen, nachhaltigen und arbeitsbasierten Gesellschaft konnte Ungarn bereits im eigenen Land große Erfolge erzielen.

Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik

Die Konflikte in Europa und weltweit haben gezeigt, dass Europa seine Verteidigungsfähigkeit, die Reaktionsfähigkeit bei internationalen Konflikten und seine Kapazitäten stärken muss. Die Europäische Union muss hier eine größere Rolle spielen, um ihre Resilienz- und Handlungsfähigkeit zu verbessern. Die ungarische Ratspräsidentschaft möchte nicht nur den sogenannten „Strategischen Kompass“ der EU implementieren, sondern auch die industrielle und technologische Basis der europäischen Rüstungsbranche stärken.

Miteingeschlossen sind die Verteidigungsinnovationen ebenso wie die Zusammenarbeit bei der Beschaffung. Ungarn konnte durch das im Jahre 2016 lancierte Modernisierungsprogramm der eigenen Streitkräfte und eine intensive Zusammenarbeit insbesondere mit der deutschen Rüstungsindustrie bereits einige Erfolge bei der Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Landes verbuchen. Mit keinem anderen Land arbeite Deutschland so intensiv zusammen wie mit Ungarn, so eine frühere deutsche Bundesverteidigungsministerin.

Konsequente und auf Verdiensten beruhende Erweiterungspolitik

Nach Lesart der Ungarn ist die Erweiterungspolitik eines der erfolgreichsten Themen der EU. Sie zu bewahren ist wichtig und kann nur auf der Fortsetzung einer auf der objektiven Beurteilung der Fortschritte der Beitrittskandidaten beruhenden, ausgeglichenen und glaubwürdigen Politik basieren.

In erster Linie kann durch die Beitrittsperspektive der Länder des Westbalkans die wirtschaftliche, sicherheitspolitische und geopolitische Lage der EU gestärkt werden. Ungarn will sich hierzu der Formate der EU-Westbalkan-Spitzentreffen und der Europäischen Politischen Gemeinschaft bedienen. Bereits 2011 konnte Ungarn starke Impulse für die Aufnahme Kroatiens setzen. Die Ungarn streben nun etwas Ähnliches mit Serbien an.

Eindämmung der illegalen Migration

Der seit Jahren auf Europa lastende Migrationsdruck stellt nicht nur eine große Herausforderung für die EU als Ganzes dar, sondern auch für jeden einzelnen Mitgliedsstaat, insbesondere für jene mit einer EU-Außengrenze. Es ist unverzichtbar, mit den Nachbarländern der EU und den Entsende- und Transitländern enger zusammenzuarbeiten, um die Migration zurückzudrängen und den Schleppern Einhalt zu gebieten.

Die EU-Ratspräsidentschaft Ungarn hat vor, sich verstärkt den äußeren Dimensionen der Migration zu widmen, effektiv mit Drittländern zu kooperieren, die Rückkehrquote zu steigern sowie auch den Rechtsrahmen innovativ zu gestalten. Daneben soll die Wichtigkeit des Außengrenzschutzes sowie dessen EU-Finanzierung besonders hervorgehoben werden. Bei der Migrationspolitik kann Ungarn auf vielfältige eigene Erfahrungen bauen. Die ungarischen Maßnahmen zum EU-Außengrenzschutz finden international weite Beachtung, nicht zuletzt deshalb, weil es Ungarn damit gelang, den Zustrom von illegalen Migranten nachhaltig zu senken.

Zukunft der Kohäsionspolitik

Für die Europäische Union soll für die Bewahrung des Gleichgewichts auf dem Kontinent der Abbau regionaler Unterschiede einen besonderen Stellenwert bekommen, allen voran steht die Sicherstellung einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und regionalen Kohäsion. Noch immer wohnt etwa ein Viertel der EU-Bevölkerung in Gebieten, die unter 75% des Entwicklungsstandes des EU-Durchschnitts liegen.

Diese Divergenzen zu senken, ist nicht nur für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit von enormer Bedeutung, sondern auch für die ausgeglichene Funktionsweise des EU-Binnenmarktes. Ein deklariertes Ziel der ungarischen EU-Rats­präsidentschaft ist es, eine strategische Debatte über die Zukunft der Kohäsionspolitik zu führen sowie über deren Rolle für eine wettbewerbsfähige und nachhaltige Beschäftigungspolitik und Demographie. Ungarn konnte in den letzten Jahren in den Bereichen Demographie und Beschäftigung mit einer Steigerung der Geburtenraten und einer rapiden Zunahme der Beschäftigungsrate europaweit beachtliche Erfolge erzielen. Dieser Erfahrungsschatz kann auch für die anderen EU-Länder nützlich sein.

Bauernzentrierte Agrarpolitik

Die Landwirtschaft erlebt ungekannte Herausforderungen wie Klimawandel, gestiegene Investitionskosten, Billig­importe aus Drittländern und eine massive Verschärfung der Produktionsregularien. Das alles ging und geht auf Kosten der Produktivität. Daher ist es unabdingbar, den Landwirten wieder stärker entgegenzukommen.

Eine gut funktionierende Landwirtschaft ist für die Versorgungssicherheit von Europa von grundlegender Bedeutung. Foto: MTI/ Zsolt Czeglédi

Da der Bauernstand mit seinen Lebensmitteln grundlegende Güter herstellt, ist es für die strategische Autonomie Europas erforderlich, auch langfristig die Lebensmittelsouveränität und -versorgungssicherheit sicherzustellen. Von daher ist es der ungarischen Präsidentschaft ein Anliegen, für die Zeit nach 2027 ein Regelwerk aufzustellen, das eine wettbewerbsfähige, resiliente und bauernfreundliche europäische Agrarpolitik ermöglicht. Ungarn als Land mit einer starken Landwirtschaft kann dabei maßgebliche Erfahrungen beisteuern.

Demographischer Wandel

Viele Herausforderungen wie die Alterung der europäischen Gesellschaften, die Nachhaltigkeit sozialer Sicherungssysteme sowie der Fachkräftemangel sind gesamteuropäische Probleme. Diese Tendenzen sind für die Wettbewerbsfähigkeit bzw. die Finanzierbarkeit der EU höchst relevant. Ziel des Ratsvorsitzes ist es demnach, neben der Garantie der nationalen Souveränität auch auf die diesbezüglichen Herausforderungen hinzuweisen. Ungarn konnte die Geburtenzahl von 1,2 auf 1,6 steigern, die ungarische Familien- und Geburtenpolitik gilt auch international als vorbildlich.

Fazit

Wenn auch die Kommunikation und die äußere Aufmachung der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft für Außenstehende sehr ostentativ anmutet, verbirgt sich hinter den kommunikativen Spitzen durchaus ein Programm, das inhaltlich ernst gemeint und ernst zu nehmen ist. Ungarn glaubt an die Stärkung der EU. Hinter dem Motto „Make Europe Great Again“ steht eine ausgearbeitete und langfristig angelegte sachliche Politik. Dabei kann sich Ungarn auf eigene nationale Erfolge und Erfahrungswerte stützen. Inwieweit sich diese im nächsten halben Jahr auf gesamteuropäischer Ebene als nützlich erweisen können, wird sich zeigen.

Der Autor ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest. Er ist Mitherausgeber von „Hungarian Conservative“ und publiziert zu zeitgeschichtlichen und europapolitischen Themen in verschiedensten Medien in deutscher, englischer und ungarischer Sprache. Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Version eines Artikels, der am 4. Juli 2024 in der Preußischen Allgemeinen Zeitung erschien.

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel

11. Oktober 2025 10:32 Uhr