„Das Krisenmanagement wurde militarisiert“: Feldlazarett der ungarischen Armee. (Foto: honvedelem.hu)

Die linke Seite: Kommentar zum Krisenmanagement der Regierung

Die sieben Lehren der Epidemie

Die erste Welle der Pandemie klingt in Ungarn gerade ab. Wir sind bisher relativ gut dabei weggekommen. Selbst wenn wir Zweifel an den offiziell veröffentlichten Daten anmelden – laut einem durch Universitäten organisierten, repräsentativen Screening finden sich nur rund drei infizierte Menschen pro zehntausend Ungarn. (…) Daher ist es jetzt vielleicht an der Zeit, eine vorläufige Bilanz zu ziehen.

Umso mehr, als Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Regierung ihr Management der COVID-19-Krise und ihrer Folgen als einzigartigen Erfolg feiern und sich selbst zu Helden der Epidemiebekämpfung hochstilisieren. Doch hat die Weitsicht und Weisheit der Regierung wirklich zu einer geringeren Infektionsrate geführt?

Ich fasse meine Ansichten dazu in sieben Punkten zusammen.

1. Die Handhabung der Epidemie wurde in Ungarn übermäßig politisiert, fachliche Vernunft wurde oftmals von machtpolitischen Erwägungen überschrieben.

Die Regierung verhängte den Notstand, der es ermöglichte, eine Vielzahl von Grundrechten einzuschränken, ohne ausreichende Begründung. Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus – von Ausgangsbeschränkungen über Ladenschließungen bis hin zur Maskenpflicht – hätten auch auf Grundlage des Gesundheitsgesetzes ergriffen werden können.

Der Ministerpräsident wurde zur zen­tralen Figur der Verteidigung erhoben: Er inspizierte Krankenhäuser, empfing Lieferungen von Schutzkleidung und ging dabei auch mit schlechtem Beispiel voran, weil er sich oft ohne Maske zeigte und seinen Kollegen sogar noch auf dem Höhepunkt der Krise die Hand schüttelte.

Das Krisenmanagement wurde militarisiert: Militärkommandanten wurden in Krankenhäuser und in „strategisch relevante” Unternehmen abkommandiert, auf die vorab sorgfältig ausgewählten Fragen der Journalisten antworteten neben der leitenden Amtsärztin auch Polizeioffiziere. Den Operativen Stab leitete der seit 2013 den Rang eines Polizeioberst tragende Innenminister. Auf dem Höhepunkt der Epidemie mieden der fürs Gesundheitssystem verantwortliche Minister und sein Staatssekretär dagegen die Öffentlichkeit.

Der Handlungsspielraum der Kommunen wurde begrenzt (beispielsweise mit der Einziehung der Kfz-Steuer). Der oppositionellen Leitung der Hauptstadt wurde regelmäßig Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, etwa im Zusammenhang mit der Infektionswelle im Seniorenheim in der Pesti út. Und das, obwohl der Staat entgegen der Bitte der Stadtverwaltung und seiner gesetzlichen Verpflichtung keine Bedingungen für den Schutz schuf.

2. Die Regierung hat geeignete Maßnahmen zur Handhabung der Epidemie ergriffen, teils rechtzeitig (Ausgangsbeschränkungen, Grenz­schließungen), teils verspätet (zum Beispiel Maskenpflicht in geschlossenen Räumen, Schulschließungen).

Es ist davon auszugehen, dass gesundheitlichen Erwägungen bei der Vorbereitung von Entscheidungen nicht immer Vorrang eingeräumt wurde. Schon im März wurden in Orbáns Äußerungen stets zuerst militärische und polizeiliche Schutzmaßnahmen vor denen im Gesundheitssystem erwähnt.

3. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat sich bislang beispielhaft an die Vorschriften gehalten.

Hier spiegelt sich wohl auch die noch aus sozialistischen Zeiten stammende, uns anerzogene Disziplin in Sachen Volksgesundheit wider. Die Menschen mussten im Allgemeinen nicht zur Zusammenarbeit gezwungen werden, sie verstanden, warum und wie sie ihr Verhalten ändern sollten.

Laut Umfragen war der Rückgang der Zahl der persönlichen Kontakte drastisch und lag je nach Zeit und Ort zwischen 60 und 90 Prozent. Ich bin überzeugt, dass diese Disziplin als auch die Hingabe der Gesundheits- und Sozialarbeiter sowie die zivile Solidarität, die sich in der Hilfsbereitschaft gegenüber Senioren zeigte, entscheidend dazu beitrugen, dass sich die Epidemiedaten so günstig entwickelt haben. Die schlechte Nachricht ist, dass mit den Lockerungen gleichzeitig auch das Gefühl der Bevölkerung für die Gefahr nachgelassen hat.

4. Entgegen den Empfehlungen der WHO haben wir, insbesondere in der ersten Zeit der Krise, ausgesprochen wenig getestet.

Selbst bei Verdachtsfällen wurde sich nicht immer bemüht, das Virus oder die Antikörper mittels Test nachzuweisen. Auch im Falle bekannter Epizentren (zum Beispiel in geschlossenen sozialen Einrichtungen) wurden die erforderlichen diagnostischen Tests erst nach Ausbruch der Virusinfektion durchgeführt. Pro eine Million Einwohner haben wir nicht einmal halb so viele Tests (genauer: 40 Prozent) wie Österreich durchgeführt. Daher lag die Sterblichkeitsrate im Vergleich zu den nachgewiesenen Infektionen sehr hoch (zwölf bis 13 Prozent). Es gibt weder eine vernünftige Erklärung für die Einschränkung der Tests noch dafür, warum die Krankenhausleitungen noch Ende Juni angewiesen wurden, so wenig Coronavirus- beziehungsweise PCR-Tests wie möglich durchzuführen. Vielleicht wollen sie so den Anschein des günstigen Status Quo aufrechterhalten, falls das Virus sich doch wieder schneller ausbreiten sollte?

5. Die Schaffung freier Kapazitäten im Gesundheitswesen erwies sich als unnötig.

Ausmaß und Timing (60 Prozent binnen vier Tagen) der Bereitstellung von Krankenhausbetten waren sinnlos. Die für die Epidemie reservierten 36.000 Krankenhausbetten hätten mindestens 100.000, aber eher 150.000 gleichzeitig kranke Menschen vorausgesetzt. So viele gab es aber selbst im 61 Millionen Einwohner zählenden Italien nicht.

Es wurden zudem viel zu viele Beatmungsgeräte bestellt: 16.000 haben sie gekauft, wobei zu Spitzenzeiten der Epidemie 82 gebraucht wurden. Warum aber? Vermutlich hatten Orbán und seine Kollegen Angst. Sie waren sich bewusst, dass das Gesundheitssystem unterfinanziert ist und mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen hat. Sie versuchten daher von Anfang an überzukompensieren. Mit diesen gut sichtbaren Maßnahmen wollten sie davon ablenken, dass sie das öffentliche Gesundheitssystem zerschlagen haben, dass es kein Gesundheitsministerium gibt und in der Staatsverwaltung keine Fachkompetenz, sondern nur kritiklose Loyalität.

Gleichzeitig wurden im Rahmen der Bettenleerungen hilflose Demenzpatienten in die häusliche Pflege geschickt. Die Auswirkungen dessen – sowie der zahlreichen aufgeschobenen Eingriffe – werden wir erst später ermessen können.

6. Der Umgang mit Daten, die Transparenz und Kommunikation der öffentlichen Organe waren skandalös.

Die Daten des operativen Stabes waren zu Beginn nicht nach Regionen aufgeschlüsselt. Sie gaben keinen Aufschluss darüber, an welchem Tag wie viele Infektionen aus Krankenhäusern und Seniorenheimen gemeldet wurden oder wie viele von Ansteckungen innerhalb der Gesellschaft stammten. Es ist zur Praxis geworden, dass relevante Maßnahmen, wie etwa die teilweise Lockerung der Ausgangsbeschränkungen, vom Ministerpräsidenten zunächst in groben Umrissen auf Facebook angekündigt werden. Am nächsten Tag gab dann meist der Kanzleramtsminister eine ausführlichere Erklärung ab, die durch den Regierungssprecher ergänzt wurde, gelegentlich andersherum. (Beispielsweise mussten die Lockerungen der regionalen Bestimmungen und das Verbot von Veranstaltungen spezifiziert werden.) Und dann erschien mitten in der Nacht das Gesetzblatt mit den Vorschriften und am nächsten Morgen sprach das Regierungsoberhaupt im Propagandaradio über ideologische Gesichtspunkte, wie die „Virusfreundlichkeit” von Brüssel und der Opposition.

Die Verordnungen zu Dienstleistungen im Gesundheitswesen wurden dagegen in ministerialen Rundschreiben veröffentlicht, die nicht als Rechtsquelle zu betrachten sind.

7. Die sozioökonomischen Folgen der Epidemie werden unterschätzt.

Während Benchmark-Analysen einen Rückgang des BIP von mindestens 5 bis 7 Prozent vorhersagen und auch mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit im selben Ausmaß rechnen, wurde nur wenig für die Linderungen der wirtschaftlichen Schäden der Viruskrise ausgegeben, nämlich ein halbes Prozent des BIP. Die Bedingungen zur Arbeitssuche wurden nicht verbessert, die Renten wurden nicht erhöht, aber öffentliche Gelder fließen auch weiterhin an die Unternehmen.

Selbst bei wohlwollender Bewertung hat die ungarische Regierung diese Prüfung höchstens mit einem „Befriedigend” abgeschlossen. Moralisch jedoch mit einem „Ungenügend”. Wie kann man unter der Losung, Menschenleben sollen nicht von Finanzfragen abhängen, 300 Milliarden Forint für (teilweise unbrauchbare) Beatmungsgeräte ausgeben, aber gleichzeitig die Lohnerhöhung für Ärzte und andere Fachkräfte hinauszögern?

Mehr Bescheidenheit würde sich für Orbán geziemen: Sich in so einer Situation als Retter der Nation zu präsentieren, wirkt abstoßend. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Wir wissen nicht, ob und wann es einen für die breite Öffentlichkeit zugänglichen Impfstoff und ein wirksames Medikament geben wird. Wir wissen nicht, ob es eine zweite Welle geben wird.

Doch Epidemiologen wissen schon jetzt, wie sich die COVID-19-Epidemie eindämmen lässt: Indem wir unsere Gewohnheiten und Verhaltensweisen ändern, Massentests durchführen, schneller die Kontakte Infizierter nachverfolgen und diese in Quarantäne bringen. Wir wissen auch, dass die Armen, die Alten und Menschen mit Vorerkrankungen besonders gefährdet sind.

Vielleicht ist es deswegen auch einfach einzusehen, dass es für die Argumentation, Steuergelder in das Gesundheitswesen zu stecken, sei ein Fass ohne Boden, heute keinen Platz mehr gibt. (Natürlich muss das Geld wirksam eingesetzt werden.) Man kann sich nicht mehr hinter Staatsgrenzen verstecken und die globalen und regionalen Kooperationen kleinreden. Im Hinblick auf die Epidemie brauchen wir strengere und verbindlichere internationale Abkommen sowie ein neues, starkes Mandat für die WHO und die Europäische Union.

Dr. Mihály Kökény ist Gesundheitsminister a. D.

Der hier leicht verkürzt wiedergegebene Kommentar erschien am 13. Juli auf dem Onlineportal der linken Tageszeitung Népszava.

Aus dem Ungarischen von EKG.

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